44.

León stand vor der schweren Metalltür, die er vor nicht allzu langer Zeit selbst verschlossen hatte. Um ihn herum heulte der Wind, während er die Spuren im Schnee untersuchte. Es war eindeutig, hier waren nur vier Personen herausgekommen. Mary musste sich also noch im Gebäude befinden. Ob das nun gut oder schlecht war, wusste er nicht, doch er verschwendete keine Gedanken an unsinnige Fragen. Er würde Mary finden und sie herausholen.

Noch einmal sah er sich um. Von ihren Verfolgern war nichts zu sehen.

Wo sind sie? Sie müssten längst hier sein.

Er legte sein Ohr gegen das kalte Metall der Tür und lauschte. Kein Ton zu hören. Gut, vielleicht lief alles glatt. Trotzdem hatte er das Gefühl, dass die Schwierigkeiten gerade erst losgingen. Er löste sich von der Tür und rubbelte sein Ohr warm, das durch die Berührung mit dem eisigen Stahl vor Kälte schmerzte.

Dann drehte er entschlossen den Schlüssel im Schloss. Mit einem Ächzen schwang die Tür auf und lud ihn auf finstere Art ein, den Gang zu betreten. Er machte einen ersten, zögerlichen Schritt. Lauschte erneut. Ging weiter. Automatisch hatte er den Kopf eingezogen und versuchte, keine Geräusche zu verursachen. Zum Loch war es nicht weit.

León stand an der eingebrochenen Stelle und starrte hinab in die Finsternis, aber das Licht, das von draußen in den Gang fiel, war zu schwach, um etwas zu erkennen.

»Mary!«, rief er leise.

Gespannt lauschte er. Nichts.

»Mary!« Dieses Mal etwas lauter, drängender.

Er formte mit beiden Händen einen Trichter vor seinem Mund, rief noch einmal, diesmal laut, aber es kam keine Antwort.

Mierda!, fluchte er innerlich.

León öffnete seine Jacke, riss ein Stück Stoff aus seinem Hemd, kramte das Feuerzeug heraus und legte sich flach auf den Boden. Sein Oberkörper ragte über den Rand des Loches, während er die Flamme des Feuerzeugs an den Stoffstreifen hielt. Als der Fetzen Feuer gefangen hatte, ließ er ihn los. Langsam wie ein Blatt im Wind trudelte er zu Boden.

Endlich konnte er etwas erkennen. Zwischen Licht und Schatten sah er, dass der Grund mindestens drei Meter unter ihm lag. Auf dem Boden des Loches lagen Kartons und schaumstoffartiges Füllmaterial. Doch von Mary keine Spur. Wenn sie hier runtergefallen war, standen ihre Chancen gut, dass sie den Sturz unverletzt überstanden hatte.

Aber wo war sie dann? Versuchte sie, einen Ausgang aus dem Keller zu finden?

Dann entdeckte León schmutzige Stiefelabdrücke auf den Kartons.

Nein, sie war nicht allein losgegangen.

Fremde hatten sie geholt und weggebracht.

Wohin?

Es gab nur einen Weg, das herauszufinden.

León stand auf, klopfte sich den Dreck von der Kleidung. Dann stellte er sich an den Rand des Loches, atmete ein und sprang in die Tiefe.

Jeb blieb stehen. Er drehte sich aus dem Wind und sah den Weg zurück, den sie gekommen waren.

»Was ist?« Mischa musste laut rufen, um gegen den Sturm anzukommen.

»Ich weiß nicht«, sagte Jeb. »Ich habe das Gefühl, wieder verfolgt zu werden. Anscheinend ist es uns nicht gelungen, diese Typen abzuschütteln.«

Jenna war nun auch herangekommen. Sie alle schauten zurück, kniffen die Augen zusammen, versuchten, in diesem wirbelnden Chaos Formen auszumachen.

»Ich sehe nichts«, meinte Jenna. Ihre unter der Mütze hervorlugenden Haare waren vollkommen mit Schnee bedeckt. Flocken schmolzen auf ihrem Gesicht und liefen ihr wie Tränen über die geröteten Wangen.

Jeb wischte sich mit dem Ärmel über die Stirn, klopfte dann zweimal die Hände zusammen, damit der Schnee abfiel.

»Hast du eine Idee?«, fragte Mischa.

»Wir müssen von der Straße runter. Umwege machen. Durch Gebäude schleichen, versuchen, unsere Spuren zu verwischen«, sagte Jeb.

»Haben wir so viel Zeit? Und was ist, wenn wir uns verlaufen?«, warf Jenna ein.

»Es ist immer noch besser als auf der offenen Straße. Hier sind wir leichte Beute. Okay?«

Jenna und Mischa nickten.

Jeb ging voran. Er bog von der Straße ab und hielt auf ein flaches Gebäude zu. Über dem Eingang waren große Schriftzüge angebracht, aus denen Buchstaben herausgebrochen waren. Das Glas der hohen Eingangstür war längst zersplittert und sie gelangten problemlos in einen weiten Vorraum.

Halb verbrannte Möbel standen herum. Verrottete Teppiche bedeckten den Boden. Von der Decke hingen bunte Lampen an Plastikkabeln herab, die im hereinwehenden Wind schaukelten. Sie durchquerten den Raum und betraten einen Saal, dessen eine Seite von einem riesigen aufgespannten Tuch dominiert wurde, das von der Decke herabhing. Ihm zugewandt waren Reihe um Reihe Stühle angebracht, die keine Beine hatten und sich herunterklappen ließen. Es roch nach altem Stoff und Staub.

Nachdem sie sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, gingen sie die Reihen hinab und hielten auf eine Tür im Hintergrund zu.

Der Ausgang brachte sie in eine schmale Gasse, die aber nur in einem Bogen zurück zur Hauptstraße führte. Darum steuerte Jeb auf das nächste Haus zu. Hier gab es keine Tür. Jeb nahm seinen Rucksack ab und schlug kurz entschlossen ein Fenster ein.

Sie durchquerten die Räume schnell und standen erneut auf einer Nebenstraße. Das nächste Haus fiel durch seine vergitterten Fenster auf. Eisenstreben sollten ein Eindringen verhindern, aber die massive Tür stand weit offen und ächzte im Wind. Jeb trat ein. Dicht gefolgt von Mischa und Jenna. Drinnen herrschte diffuses Licht. Eine weitere geöffnete Tür empfing sie.

Als Jeb den Raum betrat, blieb er überrascht stehen. Er wusste sofort, wo sie gelandet waren. Sie hatten wieder ein Geschäft betreten und standen in der Sportabteilung, die auch noch voll ausgestattet war. Die ganzen seltsamen Geräte und Bälle interessierten ihn nicht. Seine Aufmerksamkeit galt einer Waffe, die er gut kannte. An der hinteren Wand hing ein Sportbogen, gleich daneben ein Köcher mit einem Dutzend Pfeile.

In Gedanken sah er seinen Großvater, der ihm gezeigt hatte, wie man mit so einer Waffe umging.

Er lächelte.

Ab jetzt waren sie nicht länger wehrlos.

Kathy schlich geduldig hinter den Entführern von Mary her. Ihr Ziel waren eigentlich die Portale, aber diesen kleinen Umweg konnte sie sich leisten. Mary war aus dem Rennen. Und diesen einen Genuss wollte sie sich gönnen: ihre Feindin leiden und sterben zu sehen.

Ja, das wird ein Spaß werden, dachte sie und erschauerte voller Vorfreude.

Sie malte sich die folgenden Szenen in allen Details aus und merkte nicht sofort, dass die beiden Männer vor ihr stehen geblieben waren. Kathy erschrak und presste sich hastig an eine Wand. Sie hatte Glück und blieb unbemerkt.

Die Männer sprachen nicht, sondern öffneten eine Tür, durch die sie verschwanden. Als sie weg waren, schlich Kathy hinüber und lauschte. Hinter der Tür hörte sie sich entfernende Schritte. Stiefel, die auf Metall klapperten. Kathy atmete tief durch, dann zog sie langsam die Tür auf und stand vor einer Eisentreppe, die in die Tiefe führte. Weit unter ihr sah sie ein flackerndes Licht. Marys Entführer hatten eine Fackel entzündet und stiegen in die Dunkelheit hinab. Hier drin musste sie vorsichtig sein, noch vorsichtiger als bisher, denn jedes Geräusch wurde um ein Vielfaches verstärkt von den Wänden zurückgeworfen. Sie fasste nach dem Metallgeländer, hielt sich daran fest und setzte achtsam einen Fuß auf die oberste Stufe.

Schritt für Schritt ging es fünf Stockwerke in die Tiefe hinab. Dann verschwand das Licht. Kathy hörte eine schwere Tür, die ins Schloss fiel, danach herrschte vollkommene Finsternis um sie herum. Ihre Hand begann zu zittern. Kathy spürte, wie ihr die Angst den Rücken hochkroch, aber sie biss die Zähne zusammen. Nein, sie würde sich das Schauspiel nicht entgehen lassen. Das war nur ein beschissener Gang mit einer beschissenen Treppe und es war dunkel. Nichts weiter.

Sie machte den nächsten Schritt.

Dann einen weiteren.

Kathy grinste in der Dunkelheit.

Kurz darauf hatte sie den Grund erreicht. Ihre klammen Hände ertasteten die Tür. Wieder lauschte sie angestrengt.

Nichts zu hören.

Sie wagte es, die Tür einen Spalt aufzuziehen, und zuckte zusammen, als der Lichtschein einer Fackel auf ihr Gesicht fiel.

León tastete sich im Keller des Hauses durch einen langen, finsteren Gang. Aus dem brennenden Stoffstreifen hatte er sich eine Fackel gebastelt, die aus einem Stück Holz und Sackleinen bestand. Zum Glück brannte der Stoff gut, denn hier unten war es kalt und feucht.

Und unheimlich.

Endlich erreichte er einen Durchgang, der ihn über eine grob geschlagene Steintreppe wieder nach oben führte. Es waren nur wenige Stufen, dann sah er wieder Tageslicht. Der Raum war wie leer gefegt. Marys Entführer hatten deutliche Abdrücke in der Ascheschicht hinterlassen, die den Boden bedeckte. Sie führten zur gegenüberliegenden Wand und dann hinaus ins Freie.

Unter einem Vordach hatten sich die Männer getrennt. Zwei hatten die Straße überquert, der Rest war nach rechts abgebogen. León war sofort klar, dass die beiden einzelnen Männer Mary davongetragen hatten, denn ihre Spuren waren deutlich tiefer in den Schnee eingedrückt. Der Rest der Truppe hatte sich an die Verfolgung von Jeb, Mischa und Jenna – und ihm selbst – gemacht.

Einen Moment lang überlegte er, wie er die anderen warnen konnte. Aber er wusste, er musste sich auf Mary konzentrieren, denn wenn er jetzt ihre Fährte verlor, würde er sie wahrscheinlich in diesem Labyrinth aus Häusern und Gebäuden niemals wiederfinden.

Entschlossen überquerte er die Straße und folgte Marys Entführern in ein hohes Gebäude. Der Weg der Männer war verschlungen. Wollten sie einen Verfolger abhängen? Gab es etwa noch mehr von ihrer Sorte, wie Banden, die sich bekriegten? Gleichzeitig hatten sie sich aber keine Mühe gemacht, ihre Spuren zu verwischen. León fand immer wieder Abdrücke auf dem staubigen Boden, die ihm den Weg wiesen. Es fiel ihm leicht, ihrer Fährte zu folgen. Aber dann entdeckte er etwas Merkwürdiges.

Er hatte gerade einen weiteren Flur durchquert und einen weitläufigen Raum betreten, da fand er auf dem Boden den vollständigen Stiefelabdruck eines Mannes, der aber von einem weiteren gekreuzt wurde. Die Sohlen der beiden Männer waren glatt und abgetragen, dieser neue Abdruck hingegen war wesentlich kleiner und wies ein ausgeprägtes Profil auf. Jemand folgte tatsächlich den Fremden ebenso wie er.

León setzte seinen Fuß direkt daneben ab, verglich die Abdrücke und stieß erstaunt die Luft aus. Das gleiche Profil.

Kathy!

Sie war ebenfalls hier entlanggegangen und folgte genau wie er den Männern. Seit dem Morgen hatte er nicht mehr an sie gedacht. Jetzt aber erschien es ihm seltsam, dass Kathy offenbar nicht versuchte, die Tore zu erreichen, sondern genau in die entgegengesetzte Richtung lief.

Was hat sie vor? Hat sie Marys Entführer entdeckt?

Nein, das konnte nicht sein. León schüttelte unwillkürlich den Kopf. Kathy war ihm ein Rätsel. Er verstand sie nicht. Vor allem aber war sie unberechenbar. Er würde sich von ihr nicht aufhalten lassen. Sollte sie ruhig versuchen, sich ihm in den Weg zu stellen.

Madre dios.

Er betete regelrecht darum, dass sie es versuchte.