34.

Mary zog sich langsam, Schritt für Schritt zurück. Sie bemühte sich, keine Geräusche zu machen, trotzdem blickte der Hund auf und knurrte wieder bedrohlich.

Wenn ich losrenne, wecke ich nur seinen Jagdinstinkt. Ich kann aber nicht hier stehen bleiben, bis der Hund von allein verschwindet. Oder jemand auftaucht, dem der Hund gehört. Jemandem, der ein Tier so misshandelt, gehe ich besser aus dem Weg.

Noch während sie darüber nachdachte, ertönte ein leiser Pfiff aus dem oberen Stockwerk. Der Hund horchte auf und begann, auf der Stelle zu tänzeln. Anscheinend wollte er einerseits dem Befehl folgen, andererseits musste er auch weiterhin die Beute stellen.

Ich muss hier weg. Bevor ich entdeckt werde.

Sie machte einen vorsichtigen Schritt zurück. Der Hund knurrte lauter. Mary fasste noch einmal in ihren Rucksack und zog das Brot heraus. Damit weckte sie das Interesse des Hundes. Als er konzentriert auf das Brot starrte, schleuderte sie es über ihn hinweg und weit in den Raum hinein. Der Hund warf sich herum und jagte hinterher.

Im selben Moment stürzte Mary in die andere Richtung, zum Ausgang. Sie schaute nicht zurück, nur auf ihre Füße, um nicht zu stolpern. Sie durfte keinen unnötigen Lärm erzeugen, auf keinen Fall den Besitzer des Hundes auf sich aufmerksam machen. Jeden Augenblick glaubte sie, den Hund hinter sich zu spüren, bereit, sich auf sie zu stürzen. Mary erreichte die Tür und schlüpfte durch den Spalt hinaus in die Kälte. Ohne nachzudenken, überquerte sie die Straße und lief in die nächste Gasse hinein.

León bückte sich. Seine Hand strich über den Schnee. »Sie ist gerannt. Dort entlang.«

Alle hielten den Atem an. »Jemand hat sie verfolgt. Diese großen Stiefelabdrücke kreuzen immer wieder Marys Spuren, aber da sind noch andere Abdrücke im Schnee… Ein Tier ist hier gelaufen. So wie es aussieht, ein Hund.«

Warum er die Pfotenabdrücke als Hundespuren erkannte, konnte León nicht sagen. Er wusste es einfach. Genauso, wie er wusste, dass in Häusern zwar Menschen wohnten, aber nicht in demjenigen, vor dem sie standen. Das war ein Einkaufszentrum. All das weckte längst vergessene Erinnerungen.

Als er klein und die Welt noch in Ordnung gewesen war, hatte er mit seiner Mutter so ein Shoppingcenter besucht. Ihr Bild blieb verschwommen, aber er wusste, dass sie etwas besorgen wollte und ihn deshalb in der Spielzeugabteilung zurückgelassen hatte. Es war einer der schönsten Tage seiner Kindheit gewesen. Über eine Stunde lang hatte er alle möglichen Spielsachen ausprobiert: ein Feuerwehrauto mit Blinklicht und Sirene. Kreisel, Rennbahnen, Fußbälle aus Leder und eine Plastikgitarre, die Musik machte, wenn man an den Saiten zupfte. All das ließ ihn eine Weile glauben, der Himmel, von dem seine Oma immer sprach, wäre auf die Erde gefallen. Nie wieder wollte er hier weg, aber seine Mutter kam viel zu früh wieder zurück, packte ihn am Arm und zog ihn mit sich. Er wollte nicht gehen, er schrie und versuchte, sich an einem Regal festzuklammern, aber es half nichts. Den Stoffdinosaurier und das Feuerwehrauto hatte sie ihm aus den Händen gerissen und zurück ins Regal gestellt.

»Dafür haben wir kein Geld.«

»Mama, bitte!«, hatte er gefleht.

»Nein, León, du musst lernen, dass du nicht alles haben kannst. Diese Dinge sind für die reichen weißen Gringokinder, für uns bleibt nur der Staub der Straße.«

Und der Schnaps, dachte er. Er war noch klein, aber er wusste genau, was Schnaps war. Tequila. Natürlich keiner aus dem Laden, sondern in Metallfässern selbst gebrannter Fusel, den es überall im Viertel zu kaufen gab. Es hieß, dass man davon blind werden konnte, aber seine Mutter konnte trotz der Sauferei ziemlich gut sehen. Sie hatte Augen wie ein Adler. Allerdings nicht, wenn sie betrunken war, dann lag sie in der Hütte auf der alten Bastmatte und schnarchte so laut, dass selbst die Fliegen einen Bogen um sie machten.

León schüttelte den Kopf, um die Bilder aus der Vergangenheit zu vertreiben. Er hatte im Moment andere Sorgen. Sie mussten Mary finden. Ein Mann verfolgte sie und dieses Gefühl kannte León besser als alles andere.

»Wir müssen schneller gehen«, feuerte er die anderen an.

»Jenna kann kaum noch laufen«, meinte Jeb, der das Mädchen die ganze Zeit gestützt hatte.

»Geht schon«, versuchte Jenna abzuwiegeln.

»Nein, geht es nicht.« Jeb blieb unnachgiebig. Auch León erkannte, dass Jenna Schmerzen hatte, es aber nicht zugeben wollte.

Aber Jenna ließ ihn erst gar nicht zu Wort kommen. León musste anerkennen, dass Jenna trotz ihrer Verletzung eine unglaubliche Stärke besaß, die er bewunderte. »Hier gibt es genügend Gebäude als Unterschlupf. Dort ruhe ich mich aus. Um Mitternacht wird der Stern am Himmel aufleuchten. Vorher wissen wir sowieso nicht, in welche Richtung wir müssen, also kann ich genauso gut hier abwarten und meine Kräfte schonen.«

León wusste, dass Jenna recht hatte, auch Jeb musste das einsehen. Seine Sorge war ihm ins Gesicht geschrieben. Eine Sorge, die über das übliche Maß an Kameradschaft hinausging. Kameradschaft? Ja, zwischen ihnen allen hatte sich tatsächlich so etwas wie Zusammenhalt entwickelt. Solange sie voneinander einen Nutzen hatten, konnten sie sich aufeinander verlassen.

León sah die Blicke, die Jenna und Jeb sich zuwarfen, und vermutete, dass im Wald zwischen den beiden etwas geschehen war. Zwischen ihnen lag eine seltsame Vertrautheit, die mehr war als nur Kameradschaft, weit mehr als Freundschaft.

Aber wie konnte das möglich sein? Es gab eine Macht, die ein grausames Spiel mit ihnen spielte. Die sie alle tot sehen wollte, nachdem sie verzweifelt um ihr Leben gekämpft hatten. León glaubte nicht mehr daran, dass einer von ihnen überleben würde. Wer auch immer übrig blieb, wäre bloß Zeuge dieses Verbrechens. Nein, sie alle sollten sterben und jemand sah ihnen dabei zu.

Hier ist kein Platz für so etwas!

Trotzdem bemerkte er all die kleinen, zufälligen Berührungen, die Jenna und Jeb unbewusst austauschten, verfolgte die sehnsuchtsvollen Blicke, mit denen sie sich heimlich beobachteten, wenn der andere gerade nicht hinsah.

Er lachte stumm auf. Was war eigentlich mit ihm los? Warum interessierte es ihn überhaupt, was zwischen Jeb und Jenna lief? Sie sollten ihm scheißegal sein, ebenso wie Mary, Mischa und Kathy.

»Also, dann brechen wir auf«, sagte er.

Jeb fasste ihn an der Schulter. »Wir haben keine Waffen.«

León sah ihn spöttisch an. »Erzähl mir was Neues. Und sei mal ein bisschen kreativ. Hier liegt schließlich jede Menge Schrott rum, den wir benutzen können, um uns zu verteidigen. Nicht mehr lange und es ist ohnehin stockfinster, dann sehen wir Marys Fußspuren nicht mehr. Ich möchte nicht herausfinden, was in den Schatten noch auf uns lauert.« Er schüttelte unwillig Jebs Hand ab. »Kommt jetzt, wir haben schon genug Zeit verloren.«