43.

León folgte den zunehmend verschneiten Fußspuren bis zu einem kleinen Gebäude aus Ziegelsteinen, dessen Mauern mit Graffiti verschmiert waren. Es gab keine Fenster, dafür eine unverschlossene Tür, die er gerade öffnen wollte, als die anderen aus dem Schatten des Hauses traten. León erkannte, dass die Spuren die Feinde verwirren sollten. Offensichtlich waren alle bis zur Tür gegangen und dann in einem weiten Satz zur Seite gesprungen. Die neu entstandenen Abdrücke hatten sie verwischt und sich hier in der engen Nebengasse auf die Lauer gelegt.

Jeb, deine Ideen sind unschlagbar.

»Da seid ihr ja«, stellte León zufrieden fest.

Gemeinsam liefen sie noch ein paar Schritte weiter und verbargen sich im nächsten Hauseingang.

»Hast du sie abschütteln können oder sind sie noch hinter dir her?«, fragte Jeb.

»Ich hab die Tür abgeschlossen. Sie werden da nicht durchkommen und sich einen anderen Ausgang suchen müssen. Das dürfte eine Weile dauern. Bis dahin hat der Schnee unsere Spuren verschluckt.«

»Gut gemacht«, grinste Jeb.

»Wo ist Mary?«, fragte Mischa plötzlich.

Ein ungutes Gefühl durchflutete Leóns Körper. Er begriff nicht. »Wieso? Ist sie nicht bei euch?«

»Nein, wir dachten, sie ist bei dir.«

Aus dem unguten Gefühl wurde ein stechendes Ziehen im Magen. »Wie… aber… Sie ist vor mir hergelaufen, wenn sie stehen geblieben oder hingefallen wäre, hätte ich sie sehen müssen.« Fieberhaft versuchte León nachzuvollziehen, was passiert war.

»Hast du ihre Spuren im Schnee gesehen?«, fragte Jeb.

»Der Wind hat fast alles zugeweht, ich habe die Spuren nicht auch noch gezählt.«

»Vielleicht hat sie sich verirrt?«, meinte Jenna.

León schüttelte den Kopf. »Kann ich mir nicht vorstellen. Wenn da Spuren gewesen wären, die im Schnee eine andere Richtung eingeschlagen hätten, hätte ich das bemerkt. Nein…« León fluchte leise. »Mierda… sie muss noch im Gebäude sein.«

»Unmöglich«, erwiderte Mischa. »Sie hat hinter uns den Raum verlassen. Dann war da nur ein Gang. Keine Abzweigung, keine Türen.«

»Das Loch«, stieß Jenna plötzlich aus. »Erinnert ihr euch an das Loch im Boden? Kurz vorm Ausgang. Ich wäre fast reingefallen.«

León sah sie erschrocken an. Auch die Gesichter der anderen waren voller Entsetzen. León wusste, was sie dachten: erst Tian, dann Kathy und nun Mary. Innerhalb von wenigen Stunden war ihre Gruppe fast um die Hälfte geschrumpft.

Aber Mary war vielleicht noch nicht tot. Dieser Gedanke war seltsam tröstlich für León. Niemand wusste, wie tief das Loch war, es waren sicher nur ein paar Meter. Wahrscheinlich lag sie dort unten in der Dunkelheit und wartete auf Hilfe.

»Und wenn sie dort drinnen verletzt liegt?«, sprach León seinen Gedanken laut aus. Die Flocken fielen lautlos vom Himmel und schluckten alle anderen Geräusche. Man konnte fast meinen, taub zu sein.

In das Schweigen hinein sagte Jeb: »Okay, ich gehe zurück und suche sie.« León sah aus den Augenwinkeln, wie Jenna zusammenzuckte und automatisch nach seiner Hand fasste.

»Nein. Ich werde zurückgehen. Mischa ist für uns durch die Schlucht geklettert, du hast Jenna durch die Ebene getragen. Jetzt bin ich dran, ich habe noch die größten Reserven.«

Mischa wollte etwas erwidern, aber León ließ ihn nicht zu Wort kommen. »Du bist noch immer verletzt und hast Schmerzen. Das kannst du vor uns nicht verheimlichen. Vielleicht hast du Angst davor, von uns zurückgelassen zu werden, wenn du Schwäche zeigst.«

Kathy wird es wahrscheinlich sowieso nicht schaffen. Und falls doch, werde ich zu verhindern wissen, dass sie durch eines der Tore schreitet.

»Warum tust du das?«, wollte Jeb wissen.

León lächelte. »Ich habe dir doch versprochen, auf Mary aufzupassen.«

Beide wussten, dass es so nicht stimmte. Doch Jeb nickte nur. León leckte nachdenklich mit der Zunge über seine Lippen. »Ich werde sofort aufbrechen und ich werde Mary finden.«

»Wir warten hier auf dich«, erklärte Jeb. Mischa und Jenna nickten.

»Nein, tut ihr nicht«, widersprach León. »Ich weiß nicht, wie lange wir brauchen. Vielleicht ist Mary verletzt und wir kommen nur langsam voran. Ich schlage vor, ihr geht weiter und wir treffen uns bei den Toren.«

León erkannte an ihren Blicken, dass allen bewusst war, welches Risiko er einging. Nicht nur, dass er sich mit einer verletzten Mary kaum gegen irgendwelche Feinde wehren konnte, es bestand auch die Gefahr, dass Kathy die Portale vor ihnen erreichte und durch eines der Tore ging.

»Ich geh dann mal«, sagte er und reichte die Rucksäcke Jeb und Mischa. »Die behindern mich bloß, nehmt ihr sie.«

Jenna umarmte ihn stumm. Mischa war der Nächste, der sich mit einem festen Händedruck verabschiedete. Schließlich legte ihm Jeb eine Hand auf die Schulter, so wie er es schon einmal getan hatte.

»Sei vorsichtig. Selbst wenn von unseren Verfolgern gerade nichts zu sehen ist, glaube ich nicht, dass sie so schnell aufgeben. León – pass auf dich auf.«

León nickte und wandte sich um.

Kurz darauf hatte ihn das Schneegestöber verschluckt.

Mary hatte trotz ihres Dämmerzustandes mitbekommen, wie sich die Fremden besprochen hatten. Zwei von ihnen sollten mit ihr zum Lager zurückkehren, während die anderen sich an die Verfolgung der anderen aus ihrer Gruppe machen wollten. Eine Zeit lang wurde darüber gestritten, wer was zu tun hatte, dann gab einer der Männer einen scharfen Befehl. Sie hörte leise Flüche, das Trampeln von Stiefeln, schließlich wurde es still um sie herum.

Mary bekam fast keine Luft in dem Sack. Ihr Atem ging keuchend und sie musste immer wieder husten. Bei jedem Husten wurde sie von einem ihrer Träger geschlagen. Nur einmal hatte sie mit schwacher Stimme geröchelt, dass sie am Ersticken war. Das hatte ihr den ersten Hieb eingebracht. Seitdem hielt sie lieber den Mund.

Die Männer kamen offenbar nur langsam voran. Am Anfang war das Schaukeln im Sack noch erträglich gewesen, aber als Mary am kalten Luftzug bemerkte, dass die Fremden das Gebäude verlassen hatten und nun durch den Schnee stapften, wurde es unerträglich. Immer wieder würgte es sie. Aber sie hatte Angst, in der Enge des Sackes an ihrem eigenen Erbrochenen zu ersticken. Also schluckte sie jedes Mal, wenn es in ihr hochkam. Ihre Tränen waren inzwischen versiegt. Es gab keine Hoffnung mehr. Kein Entkommen. Gegen diese Männer hatte sie keine Chance.

Es ist vorbei.

Du hast es bis hierher geschafft, aber jetzt ist dein Weg zu Ende. Es wird keine Hilfe kommen.

Falls es überhaupt noch möglich war, so wurde die Gangart ihrer Träger immer holpriger. Wahrscheinlich versuchten die beiden, ihre Spuren zu verwischen, damit ihnen niemand folgen konnte. Selbst wenn León und die anderen aufgebrochen waren, um ihr zu helfen, würden sie sie niemals finden.

Was werden sie mit mir machen? Sie haben mich noch nicht getötet, also haben sie etwas mit mir vor, aber was?

Plötzlich kam ihr ein entsetzlicher Gedanke. Das waren alles Männer und sie eine Frau.

Oh nein, das nicht. Bitte das nicht.

Sie hatte gedacht, nicht mehr weinen zu können, aber augenblicklich schossen ihr Tränen in die Augen. Ein Schluchzer verließ ihre Kehle und sie musste erneut husten. Sie bekam einen Schlag auf den Kopf. Umgehend zwang Mary sich zur Ruhe. Ihr Geist wurde klar. Es gab nur eine einzige Lösung, aber es würde nicht einfach werden. Sie konnte nicht gegen die Männer kämpfen, nicht fliehen.

Aber ich kann sterben, bevor sie mir etwas antun.

Kathy folgte den Männern mit dem Sack in sicherer Entfernung. Sie lächelte, während sie den Fremden hinterherschlich. Sie ahnten nicht, dass sie längst von Jägern zu Gejagten geworden waren. In Gedanken stellte sie sich vor, wie sie ihnen das Messer in die Kehle rammte.

Ich bin Kathy. Ich werde wie die Schatten der Nacht über euch kommen und euch alle töten.

Fast hätte sie gekichert, aber im letzten Moment verschluckte sie ihr Glucksen. Nein, sie durfte sich dem Feind nicht verraten.

Ich werde euch eine schöne Überraschung bereiten.

Plötzlich blieb der Trupp stehen. Hastig presste sich Kathy an eine Wand und versuchte, mit den Schatten zu verschmelzen, aber niemand sah in ihre Richtung. Sie hörte Stimmen.

»Wo ist Ben, dieses Arschloch?«, fragte jemand.

Aha, so also hieß der Typ, den sie kaltgemacht hatte.

»Er müsste längst wieder hier sein.«

»Vielleicht ist er direkt zurück ins Lager. Wahrscheinlich hat er Beute gemacht und schleimt sich jetzt beim Chef ein, damit er was abbekommt.«

»Scheiße und wir haben nur das hier.« Er knurrte unwillig und schlug auf den Sack. Ein leises Wimmern war zu hören.

Mary?! Heute ist mein Glückstag!

»Hast du mal in den Rucksack gesehen, den die Kleine bei sich hat?«, fragte die erste Stimme.

»Nein, du weißt, wie Torben ist, wenn man seine Geschenke vor ihm betatscht. Ich hab keine Lust, eine Hand und einen Fuß zu verlieren.«

Kurzes Schweigen.

»Sie hat gute Kleidung an, aber sie ist zu klein, die Sachen werden uns nicht passen.«

»Hast du die Schuhe gesehen?«

»Nein, aber mach dir keine Hoffnung, Torben wird sich die Dinger schnappen.«

»Wenn er sich nicht ausgerechnet dieses verfluchte Mädchen ausgesucht hätte, hätten wir schon längst die anderen geschnappt und ihre Sachen unter uns aufgeteilt. Sie waren alle groß und die Klamotten sahen warm aus. So sind wir nicht dabei, wenn die Fremden geplündert werden.«

»Aber Torben…«

»Scheiß auf Torben.«

Erneutes Schweigen.

»Was machen wir jetzt?«, fragte die zweite Stimme.

»Wir gehen zum Lager. Ich warte keine Sekunde mehr auf Ben. Wahrscheinlich sitzt er längst am Feuer, wärmt sich auf und frisst uns das Essen weg.«

Kathy grinste in der Dunkelheit.

Macht euch da mal keine Sorgen. Ben ist nicht mehr hungrig.

Die beiden Männer nahmen den Sack wieder auf. Prompt drang ein Stöhnen heraus. Einer der Männer schlug mit der flachen Hand auf den Sack.

»Halt bloß die Fresse«, schimpfte er. »Oder ich sorge jetzt und hier dafür, dass du die Klappe hältst. Und zwar für immer.«

Die Fremden setzten ihren Weg fort.

Kathy löste sich aus den Schatten und nahm die Verfolgung auf.