Losing my tradition

Obwohl Ost und West in der letzten Zeit immer näher zusammenkommen, sind die jeweiligen Kulturen noch meilenweit voneinander entfernt. Der Mensch kann zwar leichter als früher seinen geografischen Standort ändern, doch die kulturellen Traditionen der Vergangenheit schleppt er immer mit sich herum. Wie ein Sklave seine Ketten wird er seine realitätsfernen Traditionen nicht los. Das kann ich vor allem bei meinem Vater beobachten, der, obwohl schon seit über zehn Jahren in Deutschland, immer noch nicht gelernt hat, ohne Grund zu saufen. Einfach mal abends vor dem Fernseher oder mit Freunden in der Kneipe zu trinken und sich dabei entspannen, das geht nicht. Das kann er nicht. Er braucht zum Trinken immer einen handfesten Grund, der es zu einer Mission erhebt.

In Russland ist das so genannte Waschen die dafür verbreitetste Volkstradition. Wenn ein Nachbar, ein Freund, ein Familienmitglied, ein Arbeitskollege oder einfach ein flüchtiger Bekannter sich etwas gekauft hat, sei es nun ein Fahrrad, ein Fernseher oder eine neue Hose, muss das Ding sofort in möglichst großem Kreis »gewaschen« werden. Am besten mit Wodka. Ist keiner vorhanden, geht es auch mit Wein oder Bier. Nur dann wird nämlich das Fahrrad die trostlosesten Strecken bewältigen, der Fernseher immer einen guten Empfang haben und die Hose ewig halten, behaupten die Volksweisen. Ich erinnere mich noch gut, wie mein Vater vor vielen Jahren in Moskau einmal auf dem Balkon stand und voller Enthusiasmus unsere Nachbarin terrorisierte.

»Was hast du da gekauft?«, rief er ihr zu, als sie im Hof einen riesigen Teppich hinter sich herschleppte.

»Doch nicht etwa einen Teppich? Den müssen wir sofort waschen! Was heißt keine Lust? Bist du verrückt? Er wird doch sonst von Motten zerfressen! Du hast keine Motten? Du kriegst welche! Du hast kein Geld? Ich kann dir was borgen! Was heißt müde, ich habe zwei Flaschen hier, bin gleich bei euch!«

Mein Vater hielt sich eisern an diese Volkstradition. In unserer Wohnung wurden Möbel, Kleidungsstücke und alle technischen Geräte vor der ersten Nutzung erst einmal gründlich gewaschen, einige sogar mehrmals – zur Sicherheit. Ob man daran glaubte oder nicht, sie hielten dann ewig, niemals ging im Haushalt etwas kaputt. Nur einmal hat mein Vater sein Fahrrad demoliert. Er fuhr zu seinem Arbeitskollegen, weil eine frisch gekaufte Schrankwand dringend gewaschen werden musste. Auf dem Rückweg fuhr er hinter einem Linienbus her; in dessen Schatten fühlte er sich sicher. Nur hatte er nicht bedacht, dass der Bus immer wieder anhielt. Sie fuhren bergab, ziemlich schnell; bei der Bushaltestelle unten bremste der Busfahrer, ohne meinen Vater vorher zu benachrichtigen. Der flog gegen den Bus; das Fahrrad war nicht mehr reparaturfähig. Mein Vater bekam daraufhin vier neue Zähne verpasst, die sofort gewaschen wurden und trotz aller gegenläufiger Bemühungen deutscher Zahnärzte immer noch fest in seinem Mund hafteten.

In Deutschland hatte mein Vater zunächst Probleme, immer einen wichtigen Grund zum Trinken zu finden. Vor zwei Jahren las er mit Interesse in einer Zeitung über die Initiative »Saufen gegen Rechts«, musste aber feststellen, dass es sich dabei bloß um eine Spendenaktion für die Opfer rechter Gewalt handelte. Seine eigenen klein angelegten Aktionen wie zum Beispiel »Saufen für bessere Integration« oder »Saufen zur Vermittlung der Muttersprache an die Einheimischen« hatten wenig Erfolg. Die meisten kippten hierzulande einfach grundlos ihre Biere in sich hinein. Sie wollten keine Mission daraus machen, und wenn sie zu viel tranken, dann wurden sie entweder sentimental oder aggressiv. Deswegen hat mein Vater nun gänzlich mit dem Trinken aufgehört.