Berlin, Frühling, sechzehn Uhr zwanzig

Meine Frau und Tochter sind einkaufen gegangen, weil Einkaufen bei uns zu Hause traditionell Frauensache ist. Mein vierjähriger Sohn Sebastian und ich sind zu Hause geblieben und passen aufeinander auf.

Ich sitze friedlich in der Küche und halte die Hand an den Puls des Weltgeschehens, das heißt, ich höre die Vier-Uhr-Nachrichten auf Radio l. Die Arbeitslosigkeit in Deutschland spielt verrückt, sie ist auf 4,7 Millionen gestiegen. Noch am Vormittag waren es 4,6. Es wird von Stunde zu Stunde schlimmer. In Berlin ist die Arbeitslosigkeit besonders hoch, sie steigt sogar im Minutentempo. Außerdem wird überall in der Stadt geblitzt – ein Glück, dass wir kein Auto haben.

Sebastian legt überhaupt keinen Wert auf Nachrichten.

»Mach das Radio aus«, ruft er. »Den ganzen Tag sitzt du vor dem Computer oder in der Küche. Lass uns lieber Fußball spielen!«

So ist es mit diesen Kindern. Kaum geboren, fangen sie schon an herumzukommandieren. Woher kommen nur dieses Selbstverständnis und diese sprudelnde Energie?

»So eine Unverschämtheit!«, entgegne ich. »Ich brauche die Küche. Ich brauche das Radio. Und du darfst deine Eltern nicht rumkommandieren!«

Sebastian überlegt kurz. »Du bist nicht Eltern!«, sagt er.

»O doch, und wie ich Eltern bin!«, rege ich mich auf. »Ich bin voll und ganz Eltern und werde dir jetzt als Beweis dafür den Hintern versohlen.«

»Okay«, sagt Sebastian und geht in sein Kinderzimmer, um dort weiter Schach zu spielen.

Wie Großmeister Kasparow einst gegen den Computer spielte, will auch Sebastian gegen seinen Lieblingsroboter gewinnen. Aber eine richtige Spannung lässt sich augenscheinlich bei diesem Spiel nicht aufbauen. Anders als im Falle des Großmeisters Kasparow, hat in diesem Turnier weder der Mensch noch die Maschine eine Ahnung von Schach. Jetzt habe ich Gewissensbisse meinem Sohn gegenüber und mache das Radio aus. Wir spielen Fußball im Korridor.

»Tor«, schreit Sebastian.

Ich habe keins gesehen.

»Tor!«

Jedes Mal, wenn er den Ball trifft, heißt es sofort »Tor«.

Danach spielen wir Krankenhaus. Ich bin der Patient. Sebastian als Arzt gibt sich keine Mühe, mich nach irgendwelchen Beschwerden zu fragen, um eine fachkundige Diagnose zu stellen, er kommt gleich zur Sache.

»Ich muss dich leider aufschlitzen«, sagt er und holt ein Skalpell aus seiner Doktortasche. »Keine Angst, es tut nicht weh!«

»Aber lieber Arzt, Sie wissen doch gar nicht, was ich habe!«, versuche ich ihn umzustimmen.

»Das werden wir ja gleich sehen«, meint er.

»Das darfst du als Arzt nicht machen«, kläre ich ihn auf. »Du darfst mich nicht aufschlitzen, bevor ich dir nicht eine schriftliche Genehmigung erteilt und sie unterschrieben habe.«

»Dann unterschreib schnell«, sagt Sebastian und holt ein Blatt Papier von meinem Schreibtisch.

Ich gebe auf. »Okay, lieber Doktor, Sie dürfen mich aufschlitzen.«

»Dürfen wir danach auch mit dir spielen?«

»Klar, von mir aus«, sage ich. »Nur glaube ich nicht, dass das geht. Dann bin ich nämlich tot. Und die Toten spielen normalerweise nicht.«

»Was machst du denn, wenn du tot bist?«, fragt Sebastian interessiert.

»Oh, ich habe ganz große Pläne«, sage ich.

»Wie Batman werde ich durch die Luft flattern, Wie Spiderman die Häuser hochklettern, Frauen belästigen, Männer verhauen, Den Guten helfen und den Bösen alles versauen. Aber nachts werde ich euch besuchen, Nachrichten hören und in den Computer gucken.«

»Ich habe es mir anderes überlegt«, sagt Sebastian, »ich schlitze dich lieber nicht auf.«

»Ach, vielen Dank«, sage ich.

»Aber bitte schön«, sagt er.