Als wir aus unserem materialistischen Vaterland in das romantische Deutschland auswanderten, hatten wir keine Ahnung von den hiesigen religiösen Sitten und Festen. Jedes Jahr im November zogen große Kindergartengruppen und Grundschulabsolventen in Begleitung ihrer Eltern mit brennenden Laternen singend an unseren Fenstern vorbei. Der Umzug endete jedes Mal an einem Kinderspielplatz, wo die Erwachsenen dann Würste aßen und Glühwein tranken, während die Kinder ihre Laternen auseinander nahmen, um zu gucken, wie sie funktionieren.
»Bald ist Sankt Martin«, hieß es Anfang November im Kindergarten, also mussten die Kinder Laternen basteln und die Eltern Würste einkaufen. Wer dieser Sankt Martin eigentlich war, fragten wir nicht. Wahrscheinlich ein Prediger, der sich für das Laternetragen und Würsteessen schon im Mittelalter eingesetzt hatte. Seine Botschaft wurde offensichtlich von der Menschheit mit Begeisterung aufgenommen und er selbst heilig gesprochen. Die wahre Geschichte von Sankt Martin erfuhren wir erst Jahre später, als unsere Tochter in die Schule ging. Dort, in der ersten Klasse, besuchte sie fakultativ den Religionsunterricht. In unserer materialistischen Schule hatte es so etwas nicht gegeben. Fakultativ hatten wir nur Werkunterricht: Die Jungs quälten dort eine alte Bohrmaschine und versuchten, sich gegen Wetten Löcher in die Finger zu bohren. Die Mädchen lernten derweil das Stricken. Im romantischen Deutschland wurden stattdessen fakultativ Märchen erzählt.
»Sankt Martin war ein Soldat!«, verkündete Nicole zu Hause. »Einmal ging er mit anderen Soldaten vom Krieg zurück.
›Na, Martin?‹, fragten ihn die anderen, ›freust du dich denn nicht, dass du so gesund bist und nicht gestorben?‹
Aber Martin sagte: ›Seid still! Ich höre Stimmen!‹
Und das war die Stimme eines armen Mannes, der ganz blau war vor Kälte. Martin gab ihm ein Stück Brot und dachte, wie soll er essen, wenn er so blau ist? Dann hat Martin ein großes Stück seines Mantels abgeschnitten und dem armen Mann gegeben. Und nachts träumte er von Gott, wobei er selbst natürlich nicht wusste, dass das Gott war. Da kam einfach ein Mann in seinem Traum, er hatte Martins Mantel an und sagte: ›Ich bin Gott!‹
›Wie, du bist Gott und hast meinen Mantel?‹, wunderte sich Martin.
›Weil nämlich‹, sagte Gott, ›alles, was du den Armen gibst, bekomme eigentlich ich.‹
›Wie alles?‹, wunderte sich Martin.
›Na, fast alles‹, sagte Gott, ›fast alles bekomme ich. Und wenn du mehr wissen willst, dann geh sofort zum Religionsunterricht.‹
Martin ging zum Religionsunterricht und lernte so gut, dass die anderen ihn zum Chef machen wollten. Er aber sagte: ›Nein, nein, nein! Lieber nicht!‹, und versteckte sich im Gänsestall. Alle haben nach ihm gesucht und riefen: ›Hallo, Martin, komm raus‹, konnten ihn aber nirgends finden. Plötzlich fingen die Gänse an zu schnattern.
›Okay, okay‹, sagte Martin, und so wurde er Chef vom Religionsunterricht«, erzählte uns Nicole.
Fünfmal haben wir uns inzwischen die Geschichte angehört und wissen bestens Bescheid. Unklar bleibt jedoch, wie der Chef vom Religionsunterricht auf die Idee mit den Laternen, Würsten und dem Glühwein kam. Wahrscheinlich wird das erst in der zweiten Klasse erzählt.