Ab in die Schule

Ich gehe über die Schönhauser Allee. Links und rechts von mir sitzen entspannte Biertrinker in den zahlreichen Straßencafes. Einige kenne ich bereits, einige andere hätte ich jetzt zum Beispiel kennen lernen können. Sie winken mir zu, rufen: »He, Herr Kaminer, es ist Sommer, es ist warm, wo läufst du denn so eilig hin? Setz dich zu uns, trink ein Bier.« Ich winke ab. Fleißig und engagiert wie Pinocchio, gehe ich zum ersten Mal in die Schule, einem neuem Wissen entgegen, und keine Biertrinker werden mich von diesem Weg abbringen. Nur vom Alter her bin ich in diesem Märchen nicht Pinocchio. Ich bin sozusagen Meister Gepetto. In meiner Hosentasche liegt ein Brief:

»Liebe Eltern unserer zwei neuen ersten Klassen, wir laden Sie herzlich zu Ihrer ersten Elternversammlung in die Aula ein. Mit Grüßen – Ihre Schulleiterin.«

Ich komme zwar nicht zu spät, bin aber trotzdem der letzte der Eltern in der Aula. Alle anderen sitzen schon auf ihren Stühlen; sie halten Zettel und Stifte parat, um sich das Wichtigste zu notieren. Auch ich suche heftig in meinen Taschen nach Schreibwaren. Zigaretten, Feuerzeug, noch ein Feuerzeug, noch ein Feuerzeug … Die anderen Eltern gucken schon misstrauisch in meine Richtung, also packe ich alle meine sieben Feuerzeuge wieder ein. Ich hatte schon immer einen schlechten Start in der Schule.

»Liebe Eltern, Sie sind sicher aufgeregt, das kann ich gut nachvollziehen«, eröffnet die Schulleiterin das Gespräch. »Das ist verständlich. Immerhin gehen Ihre Kinder bald in die Schule, und das ist doch ein bisschen etwas anderes als der Kindergarten. Die Schüler werden bei uns zwanzig Stunden Unterricht in der Woche haben, Religionsunterricht und Lebenskunde sind freiwillig. Ich möchte Ihnen unsere Religionslehrer vorstellen: Der Mann mit dem roten Gesicht ist für die Katholiken, die Frau mit der Brille für die Evangelen zuständig. Wer sich dafür interessiert, kann sie nachher ansprechen. Und jetzt zu unserem eigentlichen Thema, der Einschulung. Problem Nummer eins – die Gäste. In verschiedenen Schulen wird das unterschiedlich gehandhabt. Wir haben eine generelle Regelung: maximal fünf Gäste pro Familie. Letztes Jahr hatten einige Eltern bis zu sechzehn Gäste mitgebracht, das geht natürlich nicht. Problem Nummer zwei: Schultüten. Die Schultüten geben Sie Ihren Kindern vor dem Begrüßungsteil und nehmen sie dann während des Konzerts der Vorklasse wieder zurück. Danach können Sie sie den Kindern noch einmal geben, wenn alles vorbei ist …«

Ich verstand kein Wort. Bei uns in der Sowjetunion wurde die Einschulung überhaupt nicht gefeiert. Mich hatte vor dreißig Jahren meine Oma am ersten Tag in die Schule geschleppt. Unterwegs hatten wir noch bei einer anderen Oma einen Blumenstrauß für meine erste Lehrerin gekauft und waren deswegen etwas zu spät gekommen. Alle anderen Schüler hatten ihre Riesensträuße schon der Lehrerin ausgehändigt; die arme Frau sah wie ein Blumenbeet aus, sie konnte nichts mehr halten. Mit meinem Blumenstrauß drehte ich ein paar Runden um meine erste Lehrerin, in der Hoffnung, noch eine Schwachstelle bei ihr zu finden und den verfluchten Blumenstrauß hineinzustecken. Vergeblich. Die Lehrerin war von allen Seiten konsequent verblümt, sie konnte mich nicht einmal sehen.

Es war eine äußerst peinliche Situation. Die anderen Schüler zeigten grinsend mit dem Finger auf mich. Ich überlegte schon zu weinen, aber plötzlich schoss mir eine verrückte Idee durch den Kopf. Ich kehrte um und schenkte meinen Blumenstrauß dem Schuldirektor. Er war sehr angetan, ich war sehr erleichtert und alle Mitschüler total neidisch. »Eine ganz neue Welt öffnet sich heute für euch!«, sagte der Schuldirektor in seiner kurzen Rede und zwinkerte mir zu. Es gab kein Konzert, keine Schultüten und keine Gäste. Wir gingen schweigend in die Klassenzimmer und schlugen dort Purzelbäume – zehn Jahre lang. Bei dieser deutschen Einschulung aber schien alles anders zu sein.

Hier hast du es mit einer dieser lustigen deutschen Volkstraditionen zu tun, von denen es eigentlich viel zu wenig gibt, sagte ich zu mir. Die Einschulung war in Deutschland wahrscheinlich so etwas wie der Männertag, nur dass Mutter und Kind noch dazu kamen – ein Fest für die ganze Familie also. Sofort borgte ich mir von den anderen Eltern einen Stift und schrieb alles sorgfältig auf, was mitzubringen war: Blumen für die Frauen, eine große Schultüte für den eigentlichen Pinocchio, eine kleinere Tüte mit Süßigkeiten für Pinocchios kleineren Bruder, der erst in zwei Jahren in die Schule ging, fünf Gäste und eine ganz große Biertüte für Meister Gepetto. He, Schule, ich bin bereit!