Berlin, wie es singt und tanzt
Berlin ist eine laute Stadt. Besonders laut ist es im Sommer, wenn viele Touristen unterwegs sind und nicht wirklich wissen, wo sie eigentlich hin wollen. An der Kreuzung direkt vor unserem Haus treffen sich täglich Fahrzeuge aus sechs verschiedenen Richtungen und bleiben dort stehen. Sie wollen nicht alle zusammen zum Beispiel zum Pergamonmuseum fahren, den Altar angucken, oder zum Charlottenburger Schloss, den Mann mit dem Stahlhelm besichtigen. Aber nein, jeder will woanders hin. Und alle haben es eilig, alle haben Vorfahrt. Also stehen sie an der Kreuzung und hupen einander voll. Manchmal ergibt sich daraus beinahe eine Musik, eine Art Jazz-Rap, der sich über die Stadt ausdehnt.
Fast täglich erscheint deswegen an unserer Kreuzung eine mollige Dame, die ehrenamtlich versucht, die Autofahrer zur Vernunft zu bringen, indem sie ihnen die richtigen Anweisungen erteilt: »Leck mich doch!«, schreit sie. »Zeig mal deinen Führerschein, hast wohl nie richtig fahren gelernt! Zurück! Haut ab!«
Die Frau hat eine kräftige Stimme, und manchmal hilft sie den Autofahrern tatsächlich, schnell vom Fleck zu kommen. Ihre Stimme passt perfekt zu dieser Stadtsymphonie.
Ich mag Musik. Ich war schon als Kind davon überzeugt, Musik sei die schönste aller Künste. Heute versuche ich, meinen Kindern die Liebe zur Musik zu vermitteln. Neulich habe ich meinem Sohn eine Trompete gekauft. Ein ideales Instrument: für nur zwei Euro eine Menge Spaß. Die Trompete ist extrem laut und einfach im Gebrauch. Ich drückte sie Sebastian einfach in die Hand, ohne dazu groß etwas zu erzählen. Vielleicht hat das Kind irgendwelche verborgenen Talente, dachte ich, die durch seine Bekanntschaft mit der Trompete geweckt werden. Vielleicht steckt ein neuer Miles Davis in ihm.
Und tatsächlich, man sehe und staune: Innerhalb weniger Stunden hatte Sebastian autodidaktisch Trompete hupen gelernt. Das Wichtigste daran ist natürlich die richtige Stellung. Ein erfahrener Trompetenspieler wird niemals gleich in seine Trompete blasen, im Gegenteil: Er wird sie in der Hosentasche verstecken und so tun, als hätte er damit gar nichts vor.
Dann geht Miles Davis auf die Suche nach einer richtigen Position. Sehr empfehlenswert fürs Trompeten ist zum Beispiel das elterliche Schlafzimmer, am besten um sechs Uhr morgens. Man geht geräuschlos hinein, passt auf, dass die Tür nicht knallt, um den Überraschungseffekt nicht zu versauen. Danach platziert man die Trompete so nahe wie möglich an den Ohren des schlafenden Vaters beziehungsweise der Mutter, holt tief Luft und bläst volle Pulle hinein.
Danach muss der Trompetenspieler ganz schnell wegrennen, die Trompete mit beiden Händen festhalten und sich am besten für ein paar Minuten irgendwo verstecken, damit die unter dem Musikeinfluss stehenden Zuhörer Zeit haben, sich zu beruhigen. Die Zuhörer laufen wach und wütend durch die Wohnung, knallen mit den Türen und rufen laut nach dem Trompetenspieler: »Wo steckst du, Autodidakt, komm raus, zeig dich, du Feigling!«
Der Trompetenspieler ist höchst zufrieden. Seine Musik hat ihre Wirkung gezeigt, alle sind plötzlich zum Leben erwacht. Er versteckt seine Trompete, bevor er mit einem unschuldigen Gesicht aus dem Badezimmer hervorkommt und den Verlust seines Instruments beklagt: »Ach, ich weiß nicht, wo sie ist, gerade eben habe ich sie noch in der Hand gehabt, jetzt ist sie plötzlich verschwunden …«
Wir haben keine Lust weiterzuschlafen und gehen auf den Balkon, um eine Frühzigarette zu rauchen. Die Kreuzung ist um diese Zeit noch ziemlich leer. Nur die mollige Dame sitzt schon da. Sie schimpft leise vor sich hin und wartet auf die Autofahrer. Ihre Stimme dringt als leiser Großstadt-Sound zu uns hoch.
»Hörst du das auch?«, fragt mich meine Frau.
»Das ist Ella Fitzgerald«, sage ich.
»Die ist doch schon längst tot.«
»Ja, aber doch immer noch gut zu hören in Berlin.«