Zwei zweieiige Zwillinge
entdecken Berlin

Meine Cousine Jana aus Moskau rief uns an und erzählte, dass es ihr momentan schlecht gehe. Das Wetter sei beschissen, ihr Job eine einzige Qual, die Katze krank, die Kinder frech und faul, der Mann ständig betrunken, das Geld ständig alle. Uns ging es gerade gut, unsere Kinder waren zahm, die Katze schwanger und glücklich, das Wetter optimal.

»Du kannst doch zu uns kommen«, schlug ich ihr leichten Herzens vor, »ein kleiner Urlaub wird dir gut tun. Und bring deine Kinder, deine Katze und deinen Mann mit, wir haben viel Platz und einen Balkon.«

Zwei Wochen später kam Jana nach Berlin, ohne Katze und Mann, dafür aber mit ihren zweieiigen Zwillingen Tim und Tom. Beide sahen gleich aus und waren zehn Jahre alt. Schon am Bahnhof Lichtenberg fingen sie an, das Ausland für sich zu entdecken.

»Verstehen alle diese Menschen Russisch?«, fragte Tom. »Nein? Dann können wir sie beschimpfen, wie wir wollen. Dürfen wir zum Taxifahrer ›blöde Sau‹ sagen?«

Ununterbrochen stellten sie Fragen, nacheinander, durcheinander, oft im Chor. Meine Cousine kannte ihre Kinder gut und wusste, dass diese Fragen rein rethorischer Art waren. Sie antwortete nicht. Ich dafür umso mehr. Zu Hause interviewten mich die Zwillinge weiter. Ausführlich und präzise. Drei Wochen lang. Der Tag fing früh an. Um sieben spürte ich, wie eine unbekannte Kraft mich aus dem Schlaf riss. Ich öffnete die Augen – die zweieiigen Zwillinge standen neben meinem Bett und betrachteten mich aufmerksam.

»Hast du geschlafen? Warum hast du geschlafen?«

»Warum nicht?«, konterte ich.

»Wo gehst du hin? Ins Bad? Was willst du im Bad? Duschen? Wieso duschen? Hast du viel Geld?«

Ich versteckte mich für eine Weile unter der Dusche. Als ich rauskam, standen die beiden vor der Tür.

»Warst du unter der Dusche? Warum sind hier alle Häuser so alt und klein? Wie heißt Deutsch auf Deutsch? Wo liegt dein Geld?«

Zuerst versuchte ich, ehrliche Antworten zu geben, kam aber auf Dauer nicht hinterher und verstummte. Ich machte sogar ein böses Gesicht und knirschte mit den Zähnen, wenn sie mich ansprachen. Das beeindruckte die Zwillinge aber in keiner Weise. Meine Cousine war weder an Berliner Architektur noch an spannender Unterhaltung interessiert. Sie wollte nur ein wenig Ruhe haben und reservierte sich gleich am ersten Tag einen tollen Platz auf dem Balkon. Unsere Balkontür ließ sich auch von außen verriegeln, so war Jana nun den ganzen Tag sicher. Sie rauchte und las Bücher, die sie aus Moskau mitgebracht hatte: Harry Potter auf Russisch, Im Wahn der Liebe und Das zerbrochene Herz.

»Jana, dein einer Sohn will Milch mit Apfelsaft mischen, darf er das?«, schrie ich durch die Balkontür.

»Dein anderer Sohn hat schon zwei Kilo Pommes verschluckt und will noch mehr. Ist das okay?«

Jana war fest davon überzeugt, dass ihren Zwillingen nichts schaden konnte, egal, was sie aßen, tranken oder sonst taten. So ging es drei Wochen lang. Wir hatten uns schon alle an die Zwillinge gewöhnt. Ich konnte sogar Tim von Tom unterscheiden. Da klappte Jana ihre Romane zu und fing an, ihre Sachen zusammenzupacken – sie musste nach Moskau zurück. Mit dem Taxi brachten wir sie zum Bahnhof Lichtenberg. Die Zwillinge waren etwas dick geworden, sie hatten Heimweh nach Russland. Das hinderte sie aber nicht daran, uns noch ein letztes Mal mit Fragen zu bombardieren: »Was ist das für ein Wagen? Ein deutscher Wagen? Wie heißt deutscher Wagen auf Deutsch?«

Ich wünschte allen eine gute Reise und winkte mit einem Taschentuch dem Russenzug hinterher. Zu Hause angekommen, konnten wir uns lange nicht an die bedrückende Stille gewöhnen. Von unserem Besuch fehlte bald jede Spur. Nur drei vom Regen durchnässte Bücher lagen noch eine Weile auf dem Balkon und wurden langsam von Tauben voll geschissen: Harry Potter auf Russisch, Im Wahn der Liebe und Das zerbrochene Herz.