27.
EINE NEUE AUFKLÄRUNG

Wissenschaftliche Erkenntnis und Technologie verdoppeln sich je nach Fachgebiet alle zehn bis zwanzig Jahre. Dieses exponentielle Wachstum macht es unmöglich, die Zukunft weiter als um ein Jahrzehnt vorauszusehen, geschweige denn um Jahrhunderte oder Jahrtausende. Aus dieser Verlegenheit heraus stellen Futuristen gerne Überlegungen dazu an, in welche Richtung die Menschheit ihres Erachtens gehen sollte. Angesichts unseres erbärmlichen Selbstverständnisses als Spezies könnte es freilich derzeit ein besseres Ziel sein, sich zu entscheiden, wohin es nicht gehen sollte. Was also sollten wir tunlichst vermeiden? Wenn wir darüber nachdenken, kommen wir immer wieder auf die existenziellen Fragen zurück: Woher kommen wir? Was sind wir? Wohin gehen wir?

Der Mensch ist eine Figur in einer Geschichte. Wir sind die Wachstumsspitze eines unvollendeten Epos. Die Antwort auf die existenzielle Frage muss in der Geschichte liegen, und genau diesen Ansatz wählen natürlich die Geisteswissenschaften. Doch die konventionelle Geschichtswissenschaft ist selbst verkürzt, sowohl was die zeitliche Reichweite als auch was die Wahrnehmung des menschlichen Organismus angeht. Geschichte ohne Vorgeschichte ergibt keinen Sinn, und genauso sinnlos bleibt Vorgeschichte ohne Biologie.

Der Mensch ist eine biologische Art in einer biologischen Welt. In jeder Funktion unseres Körpers und unseres Geistes, auf jeder ihrer Ebenen sind wir außerordentlich gut dem Leben auf genau diesem Planeten angepasst. Wir gehören in die Biosphäre unserer Geburt. Obwohl wir in vielerlei Hinsicht herausragen, sind und bleiben wir eine Tierart der globalen Fauna. Unser Leben unterliegt der Einschränkung durch die beiden Gesetze der Biologie: Alle Einheiten und Prozesse des Lebens folgen den Gesetzen der Physik und Chemie; und alle Einheiten und Prozesse des Lebens sind in der Evolution durch natürliche Selektion entstanden.

Je mehr wir über unsere physikalische Existenz lernen, desto offensichtlicher wird es, dass noch die komplexesten Formen des menschlichen Verhaltens letztlich biologisch begründet sind. Sie stellen die Spezialisierungen dar, die unsere Primaten-Vorfahren über Millionen von Jahren ausgebildet haben. Der unzerstörbare Stempel der Evolution wird sichtbar daran, wie idiosynkratisch die Sinneskanäle des Menschen unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit einengen, sofern wir uns keiner Hilfsmittel bedienen. Bestätigt wird er dadurch, wie Programme zur genetischen Bereitschaft und Gegenbereitschaft die geistige Entwicklung bestimmen.

Und doch können wir der Frage nach dem freien Willen nicht ausweichen, der uns, wie einige Philosophen immer noch argumentieren, vor den anderen Lebewesen auszeichnet. Das unbewusste Entscheidungszentrum des Gehirns vermittelt dem Zerebralkortex die Illusion unabhängigen Handelns. Je weiter die wissenschaftliche Forschung die physikalischen Prozesse des Bewusstseins offenlegt, desto weniger Platz bleibt für irgendein Phänomen, das sich berechtigt als freier Wille bezeichnen lässt. Wir sind frei als unabhängige Wesen, aber unsere Entscheidungen sind nicht von sämtlichen organischen Prozessen zu entkoppeln, die unser persönliches Gehirn und unsere Kognition entstehen ließen. Freier Wille ist demnach letztlich biologisch begründet.

Und doch ist es nach allem Ermessen eine Tatsache, dass die Menschheit die weitaus größte Leistung des Lebens ist. Wir sind der Geist der Biosphäre, des Sonnensystems und – wer weiß? – vielleicht der Galaxie. Indem wir über unseren Tellerrand blickten, haben wir gelernt, die sinnlichen Modalitäten anderer Organismen in unsere beengten audiovisuellen Systeme zu übersetzen. Wir wissen viel über die physikalisch-chemischen Grundlagen unserer eigenen Biologie. Bald schon werden wir im Labor einfache Organismen erschaffen können. Wir kennen die Geschichte des Universums und können fast bis an seine Ränder blicken.

Unsere Vorfahren waren eine der etwa zwei Dutzend Tierlinien, die jemals die Eusozialität herausbildeten, die nächsthöhere Ebene biologischer Organisation über dem Organismus. Dabei bleiben Gruppenmitglieder über zwei oder mehr Generationen zusammen, kooperieren, pflegen die Jungen und teilen die Arbeit so, dass die Reproduktion einiger Individuen zulasten anderer gefördert wird. Die Vormenschen waren körperlich sehr viel größer als jedes eusoziale Insekt und Wirbeltier. Von Anfang an besaßen sie ein sehr viel größeres Gehirn. Irgendwann erreichten sie die symbolbasierte Sprache, die Schriftlichkeit und die wissenschaftsbasierte Technologie, die uns weit über den Rest des Lebens stellen. Abgesehen davon, dass wir uns meistens wie Affen verhalten und darunter leiden, dass unsere Lebensspanne genetisch begrenzt ist, sind wir geradezu gottgleich.

Welche dynamische Kraft hob uns auf diese hohe Stufe? Diese Frage ist für unser Selbstverständnis von erheblicher Bedeutung. Es war ganz offensichtlich die natürliche Multilevel-Selektion. Auf der höheren der beiden relevanten Ebenen biologischer Organisation konkurrieren Gruppen mit Gruppen und fördern kooperative soziale Merkmale bei den Mitgliedern derselben Gruppe. Auf der unteren Ebene konkurrieren Mitglieder derselben Gruppe so miteinander, dass eigennütziges Verhalten gefördert wird. Der Gegensatz zwischen den beiden Ebenen der natürlichen Selektion hat in jedem einzelnen Menschen zu einem chimären Genotyp geführt. Er macht jeden von uns halb zum Heiligen, halb zum Sünder.

Die Interpretation der am Menschen greifenden Selektionskräfte, wie ich sie in diesem Buch auf der Grundlage neuester Forschung darstelle, widerspricht der Gesamtfitness-Theorie und ersetzt sie durch ein Modell, bei dem Standardmodelle der Populationsgenetik auf verschiedene Ebenen der natürlichen Selektion angewandt werden. Die Gesamtfitness beruht auf der Verwandtenselektion, bei der Individuen je nach dem Grad ihrer genetischen Verwandtschaft kooperieren oder nicht. Dieser Selektionstyp musste nur weit genug definiert werden und sollte dann alle Formen des Sozialverhaltens erklären, einschließlich der fortgeschrittenen sozialen Organisation. Die alternative Erklärung einschließlich einer mathematischen Kritik der Gesamtfitness-Theorie wurde zwischen 2004 und 2010 vollständig entwickelt.

Angesichts der technischen Komplexität und der Bedeutung des Gegenstands ist zu erwarten, dass die Kontroverse, die der neue Ansatz auslöst, noch über Jahre andauert, vielleicht auch dann noch, wenn ich persönlich neue Sachverhalte schon lange nicht mehr erfassen kann. Für den Fall aber, dass die Gesamtfitness-Theorie auch weiterhin weithin Anwendung findet, sollte sich das kaum darauf auswirken, dass die Gruppenselektion als Antriebskraft für unsere Herkunft und unseren weiteren Weg wahrgenommen wird. Die Theoretiker der Gesamtfitness selbst argumentieren, dass die Verwandtenselektion sich in Gruppenselektion übersetzen lässt, wenngleich diese Annahme inzwischen mathematisch widerlegt wurde. Noch wichtiger ist, dass die Gruppenselektion ganz klar der Prozess ist, der für das fortgeschrittene Sozialverhalten verantwortlich ist. Zugleich enthält sie die beiden Elemente, die Voraussetzung für die Evolution sind. Erstens wurde erwiesen, dass Merkmale auf Gruppenebene, also Kooperation, Empathie und Muster der Vernetzung, mit anderen beim Menschen erblich sind – das heißt, in gewissem Ausmaß ist ihre Variation von einem Menschen zum anderen genetisch bedingt. Zweitens beeinflussen Kooperativität und Zusammenhalt nachweislich die Überlebensfähigkeit von Gruppen im Wettbewerb.[1]

Weiterhin ist klar, dass die Wahrnehmung der Gruppenselektion als Hauptantriebskraft für die Evolution gut zu einer Reihe der typischsten – und verblüffendsten – Merkmale der menschlichen Natur passt. Resonanz findet sie zudem in Forschungsergebnissen aus den ansonsten so divergierenden Gebieten der Sozialpsychologie, der Archäologie und der Evolutionsbiologie, denen zufolge der Mensch von Natur aus stark stammesorientiert ist. Ein Grundelement der menschlichen Natur lautet, dass der Mensch sich zur Zugehörigkeit zu einer Gruppe genötigt fühlt und die eigene Gruppe als konkurrierenden Gruppen überlegen erachtet.

Die Multilevel-Selektion (also die Kombination der Gruppen- und der Individualselektion) erklärt auch die Tatsache, dass verschiedene Motivationen häufig im Konflikt zueinander stehen. Jeder gesunde Mensch spürt den Sog des Gewissens, das Tauziehen zwischen Heldentum und Feigheit, Wahrhaftigkeit und Betrug, Engagement und Rückzug. Es ist unser Schicksal, dass wir uns durch die großen und kleinen Dilemmata quälen, wenn wir uns unseren Weg durch die riskante, widrige Welt bahnen, die uns hervorgebracht hat. Wir haben gemischte Gefühle. Wir wissen nicht, ob wir so oder so handeln sollen. Wir begreifen allzu gut, dass niemand so weise und großartig ist, dass er vor einem katastrophalen Fehler gefeit wäre, und keine Organisation so ehrwürdig, dass sie nicht korrumpierbar wäre. Wir, jeder Einzelne von uns, leben unser Leben in Konflikt und Widerstreit.

Die Konflikte, die sich aus der Multilevel-Selektion ergeben, sind zugleich der Urquell der Geistes- und Sozialwissenschaften. Der Mensch ist fasziniert von anderen Menschen, so wie alle anderen Primaten von ihren eigenen Artgenossen fasziniert sind. Es bereitet uns nie endendes Vergnügen, unsere Verwandten, Freunde und Feinde zu mustern und zu analysieren. Klatsch und Tratsch waren schon immer eine menschliche Lieblingsbeschäftigung, und das in jeder Gesellschaft von den Verbänden der Jäger und Sammler bis an die Höfe der Könige. Die Absichten und die Vertrauenswürdigkeit derer, die unser eigenes persönliches Leben beeinflussen, so sorgfältig wie möglich abzuwägen, ist zugleich sehr menschlich und höchst adaptiv. Ebenso adaptiv ist es zu bewerten, wie sich das Verhalten anderer auf das Wohlergehen der Gruppe auswirkt. Wir sind Genies darin, die Absichten der anderen zu lesen, die ja selbst auch in jedem Moment mit ihren eigenen Engeln und Dämonen kämpfen. Um den Schaden zu begrenzen, den wir mit unseren unvermeidlichen Fehltritten anrichten, haben wir unsere bürgerlichen Gesetzbücher.

Erschwert wird die Konfusion noch dadurch, dass die Menschheit in einer von Mythen und Geistern heimgesuchten Welt lebt. Das schulden wir unserer frühen Geschichte. Als unseren entfernten Vorfahren vor wahrscheinlich 100.000 bis 75.000 Jahren ihre persönliche Sterblichkeit bewusst wurde, suchten sie nach einer Erklärung dafür, wer sie waren, und nach einem Sinn für die Welt, die jeder Mensch schon bald würde verlassen müssen. Wahrscheinlich fragten sie: Wohin gehen die Toten? In die Welt der Geister, glaubten viele. Und wie können wir sie vielleicht wiedersehen? Möglich war das jederzeit im Traum oder unter dem Einfluss von Rauschmitteln, Zauberei, von Selbstkasteiung und Selbsttortur.

Die frühen Menschen hatten jenseits der Reichweite ihrer Territorien und Handelsnetze keinerlei Kenntnis von der Erde. Sie wussten nichts über den Himmel jenseits des Himmelsgewölbes, über dessen Innenseite Sonne, Mond und Sterne wanderten. Um die Rätsel ihrer Existenz zu erklären, glaubten sie an höhere Wesen, die im Übrigen waren wie sie selbst, göttliche Wesen, die eben nicht nur Steinwerkzeuge und Hütten erbauten, sondern das gesamte Universum. Mit dem Aufkommen von Stammesfürstentümern und später politischen Staaten entwickelte sich die Vorstellung, dass es über den erdgebundenen Herrschern, denen sie gehorchten, noch übernatürliche Herrscher geben musste.

Die frühen Menschen brauchten eine Geschichte für alles Wichtige, das ihnen zustieß, weil das Bewusstsein ohne Geschichten und Erklärungen seiner eigenen Bedeutung nicht funktionieren kann. Die beste, ja die einzige Möglichkeit, mit der unsere Vorfahren eine Erklärung für die Existenz an sich aufbauen konnten, war ein Schöpfungsmythos. Und ausnahmslos jeder Schöpfungsmythos statuierte die Überlegenheit des Stammes, der ihn erfand, über alle anderen Stämme. Ausgehend von dieser Annahme, empfand sich jeder religiös Gläubige als Auserwählter.

Organisierte Religionen und ihre Götter wurden zwar im Unwissen über einen Großteil der realen Welt erdacht, aber bedauerlicherweise schon in der frühen Geschichte in Stein gemeißelt. Wie in ihren Anfängen sind sie überall noch heute Ausdruck des Tribalismus, in dem die Mitglieder ihre eigene Identität und ihr besonderes Verhältnis zur übernatürlichen Welt begründen. Ihre Dogmen kodifizieren Verhaltensregeln, die der Gläubige ohne jedes Zögern übernehmen kann. Den heiligen Mythos zu hinterfragen bedeutet, die Identität, den Wert desjenigen zu hinterfragen, der daran glaubt. Deswegen werden Skeptiker sowie Anhänger anderer, ebenso absurder Mythen so rundheraus abgelehnt. In manchen Ländern drohen ihnen Gefängnis oder gar der Tod.

Doch genau die biologischen und historischen Umstände, die uns in die Sümpfe der Ignoranz geführt haben, haben auf andere Weise der Menschheit sehr gute Dienste geleistet. Organisierte Religionen walten über die Übergangsriten von der Geburt bis zum Erwachsensein, von der Ehe bis zum Tod. Sie bieten das Beste, was ein Stamm geben kann: eine engagierte Gemeinschaft, die ehrliche emotionale Unterstützung leistet, die die Menschen annimmt und ihnen verzeiht. Der Glaube an Götter, an einen einzelnen wie an eine Vielfalt, sakralisiert Gemeinschaftshandlungen, etwa die Einsetzung von Herrschern, das Befolgen der Gesetze oder die Erklärung von Kriegen. Der Glaube an die Unsterblichkeit und an eine letzte göttliche Gerechtigkeit ist ein kostbarer Trost; in schwierigen Zeiten stärkt er Entschlossenheit und Kampfeskraft. Über Jahrtausende waren die organisierten Religionen die Quelle für die großartigsten Werke der Kunst.

Warum sind wir dann gut beraten, die Mythen und Götter der organisierten Religionen offen in Frage zu stellen? Weil sie verdummen und entzweien. Weil jede und jeder nur eine Version einer konkurrierenden Vielfalt von Szenarien ist, die eventuell wahr sein könnten. Weil sie die Ignoranz befördern, die Menschen davon abhält, die Probleme der realen Welt zu erkennen, und die sie häufig auf falsche Wege und in katastrophale Handlungen führt. Getreu ihrer biologischen Herkunft spornen die Religionen leidenschaftlich zum Altruismus zwischen ihren Mitgliedern an und weiten ihn auch systematisch auf Außenstehende aus, allerdings gewöhnlich verbunden mit dem Ziel der Bekehrung. Das Engagement für einen bestimmten Glauben ist per definitionem religiöse Engstirnigkeit. Kein protestantischer Missionar rät jemals seiner Herde, den Katholizismus oder den Islam als möglicherweise überlegene Alternative zu betrachten. Aus innerer Logik heraus muss er sie für unterlegen erklären.

Und doch wäre es töricht zu glauben, organisierte Religionen ließen sich in nächster Zeit ganz und gar aufheben und durch eine vernunftbegründete Begeisterung für moralisches Handeln ersetzen. Mit größerer Wahrscheinlichkeit kommt es dazu schrittweise, wie derzeit schon in Europa; mehrere Tendenzen tragen dazu bei. Die stärkste Schubkraft haben die Versuche, religiösen Glauben mit immer größerer wissenschaftlicher Genauigkeit als Produkt der Evolutionsbiologie zu rekonstruieren. Betrachtet man diese Rekonstruktionsversuche im Gegensatz zu den Schöpfungsmythen und deren theologischen Exzessen, so müssen sie jedem, der auch nur ein wenig aufgeschlossen ist, zunehmend plausibel erscheinen. Eine weitere Tendenz, die der unseligen sektiererischen Frömmigkeit entgegenwirkt, ist die Ausbreitung des Internets und die Globalisierung von Institutionen und deren Nutzern. Eine Untersuchung hat kürzlich ergeben, dass die zunehmende Vernetzung von Menschen weltweit deren kosmopolitische Einstellung fördert. Maßgeblich ist dabei, dass Faktoren wie ethnische Zugehörigkeit, räumliche Herkunft und Nationalität als Identifikationsquellen geschwächt werden.[2] Gestärkt wird dadurch zudem eine weitere Tendenz, nämlich die Homogenisierung der Menschheit hinsichtlich Hautfarbe und ethnischer Zugehörigkeit durch Mischehen. Unvermeidlich wird dadurch der Glaube an Schöpfungsmythen und sektiererische Dogmen geschwächt.

Als erster Schritt zur Befreiung der Menschheit von den oppressiven Formen des Tribalismus würde sich anbieten, mit dem gegebenen Respekt die Anmaßung derjenigen Machthaber zurückzuweisen, die von sich behaupten, im Namen Gottes zu sprechen, besondere Stellvertreter Gottes zu sein oder über eine exklusive Kenntnis von Gottes Willen zu verfügen. Zu diesen Lieferanten für theologischen Narzissmus gehören Möchtegern-Propheten, die Gründer religiöser Kulte, leidenschaftliche evangelikale Pastoren, Ayatollahs, Vorsteher der heiligen Moscheen, Großrabbiner, Rosch-Jeschiwas, der Dalai-Lama und der Papst. Dasselbe gilt auch für dogmatische politische Ideologien, die auf einer unwiderlegbaren Lehre fußen, sei es von rechts oder von links, und besonders wenn sie mit den Dogmen organisierter Religionen gerechtfertigt werden. Womöglich enthalten sie intuitive Weisheit, die durchaus der Beachtung wert ist. Womöglich haben ihre Anführer die besten Absichten. Aber die Menschheit hat genug gelitten unter der grob verfälschten Geschichte, wie falsche Propheten sie erzählt haben.

Ich erinnere mich an eine Geschichte, die mir vor langer Zeit ein medizinischer Entomologe erzählte; es ging um die Übertragung des Rückfallfiebers durch Ornithodorus-Zecken in Westafrika. Wenn das Fieber zu sehr wütete, so erzählte er, zogen die Menschen dort mit ihrem gesamten Dorf an einen neuen Ort. Als er eines Tages einen solchen Umzug miterlebte, sah er einen alten Mann, der einige der hässlichen, entfernt mit Spinnen verwandten Tiere vom schmutzigen Boden einer Hütte hob und sie vorsichtig in eine kleine Schachtel setzte. Auf die Frage, warum er das tat, antwortete der Mann, er nehme sie mit in die neue Siedlung, «weil ihre Geister uns vor dem Fieber schützen».

Ein anderes Argument für eine neue Aufklärung lautet, dass wir auf diesem Planeten mit allem, was wir an Vernunft und Verständnis aufbringen können, allein und damit als Einzige für unsere Handlungen als Art verantwortlich sind. Der Planet, den wir erobert haben, ist nicht einfach eine Station auf dem Weg in eine bessere Welt da draußen in irgendeiner anderen Dimension. Auf eine moralische Vorschrift können wir uns mit Sicherheit einigen: Wir müssen damit aufhören, unsere Heimat zu zerstören, die einzige Heimat, die die Menschheit je haben wird. Die Beweise dafür, dass die globale Erwärmung real und die industrielle Verschmutzung ihre Hauptursache ist, sind inzwischen erdrückend. Selbst bei flüchtiger Betrachtung ebenso evident ist das Verschwinden von tropischen Wäldern, Grasland und anderen Lebensräumen, in denen es die größte Vielfalt des Lebens gibt. Wird der globale Wandel aufgrund von Habitatzerstörung, invasiven Arten, Verschmutzung, Überbevölkerung und Übererntung nicht gestoppt, so könnte am Ende dieses Jahrhunderts die Hälfte aller Pflanzen- und Tierarten ausgestorben sein oder zumindest zu den «lebendigen Toten» (vom baldigen Aussterben bedrohten Arten) gehören. Ohne Not verwandeln wir das Gold, das wir von unseren Vorfahren geerbt haben, in Stroh, und unsere Nachkommen werden uns dafür verachten.

Die Zerstörung der Artenvielfalt in der lebendigen Welt erfährt viel weniger Aufmerksamkeit als der Klimawandel, die Erschöpfung unersetzlicher Ressourcen und andere Umwälzungen der physikalischen Umwelt. Wir wären gut beraten, nach folgendem Prinzip zu handeln: Wenn wir die lebendige Welt erhalten, erhalten wir automatisch auch die physikalische Welt, weil wir zum Erreichen des Ersten auch das Zweite erreichen müssen. Erhalten wir aber nur die physikalische Welt, wozu wir derzeit zu neigen scheinen, so werden wir am Ende beide verlieren. Bis vor Kurzem gab es noch viele Vogelarten, die wir nie wieder werden fliegen sehen. Es ist aus mit Fröschen, die wir nie wieder in warmen Regennächten werden quaken hören. Und es ist aus mit Fischen, die Silberstreifen in unsere verarmten Seen und Flüsse zeichneten.

Ein genauerer Blick auf Wissenschaft und Religion wird sich lohnen, wenn wir verstehen wollen, wie die Suche nach der objektiven Wahrheit wirklich beschaffen ist. Die Naturwissenschaft ist nicht einfach ein Betrieb wie Medizin oder Maschinenbau oder Theologie. Die Naturwissenschaft ist der Ursprung all unseres Wissens über die reale Welt, das überprüfbar ist und sich in das bestehende Wissen einpassen lässt. Sie bildet das Arsenal, mit dessen Hilfe die Technologien und die Inferenzstatistik Wahr und Falsch unterscheiden können. Sie formuliert die Prinzipien und Formeln, die dieses gesamte Wissen zusammenhalten. Die Naturwissenschaft gehört allen. Ihre Grundbestandteile kann jeder auf der Welt in Frage stellen, der über genügend Information verfügt, um das zu leisten. Sie ist nicht nur «eine andere Form des Wissens», wie oft postuliert wird, um sie mit religiösem Glauben gleichzusetzen. Der Konflikt zwischen wissenschaftlicher Erkenntnis und den Lehren der organisierten Religionen ist unlösbar. Die Kluft wird immer größer werden und für nie endende Kontroversen sorgen, solange religiöse Führer weiter unhaltbare Behauptungen über übernatürliche Ursachen der Realität aufstellen.

Ein weiteres Prinzip, das sich meines Erachtens durch die bisherige naturwissenschaftliche Erkenntnis rechtfertigen lässt, lautet, dass niemand je von diesem Planet auswandern wird. Im kleinen Maßstab – also innerhalb des Sonnensystems – ist es kaum sinnvoll, zur weiteren Erforschung Menschen auf den Mond zu schicken, noch weniger auf den Mars und darüber hinaus in Sphären, in denen einfaches außerirdisches Leben vernünftigerweise zu suchen wäre – auf Europa, dem vereisten Jupiter-Mond, und auf dem feurigen Saturn-Mond Enceladus. Weitaus billiger und ohne Risiko für menschliches Leben lässt sich der Weltraum mit Robotern erforschen. Die Technologie dafür – Raketenantrieb, Robotertechnik, Fernanalyse und Informationsübermittlung – ist auf gutem Wege. Roboter können sehr viel mehr erreichen als ein menschlicher Besucher, selbst wenn es um sofort zu treffende Entscheidungen geht und sowieso bei dem Vorhaben, Bilder und Daten in höchstmöglicher Qualität zurück auf die Erde zu übermitteln. Natürlich ist es eine erhebende Vorstellung, ein Mensch – einer von uns – würde über einen Himmelskörper schreiten wie einst die Entdecker über unerforschte Kontinente. Wirklich spannend aber wird es, wenn wir genau erfahren, was da draußen ist, wenn wir selbst bis ins Detail scharf sehen, wie es in zwei Meter Entfernung zu unseren virtuellen Füßen aussieht, wenn wir mit unseren virtuellen Händen Gestein und womöglich Organismen aufheben und analysieren können. All das können wir erreichen, und zwar bald. Wenn wir aber statt Robotern Menschen schicken, würde das unglaublich teuer, riskant und ineffizient – im Ganzen nur eine Art Zirkuskunststück.

An derselben kosmischen Kurzsichtigkeit krankt, wer heute von der Kolonisierung anderer Sternensysteme träumt. Es ist eine besonders gefährliche Illusion, die Emigration in den Weltraum als Patentlösung für den Moment anzusehen, wenn wir diesen Planeten verbraucht haben werden. Es ist Zeit, ernsthaft nachzufragen, warum in den 3,5 Milliarden Jahren Geschichte der Biosphäre unser Planet noch nie von Außerirdischen besucht wurde (außer vielleicht in verschwommenen UFO-Lichtern am Himmel und in Wachträumen von Besuchern am Bettrand). Und warum hat die Suche nach außerirdischer Intelligenz (SETI) auch nach jahrelangen Bemühungen noch nie eine Botschaft aus dem All empfangen? Theoretisch ist so ein Kontakt denkbar und sollte auch weiter angestrebt werden. Aber stellen wir uns vor, auf einem der Milliarden Sterne im bewohnbaren Teil der Galaxie wäre eine Zivilisation entstanden, die sich entschieden hat, andere Sternensysteme zu erobern, um ihren galaktischen Lebensraum zu erweitern. Dazu hätte es sehr gut schon vor einer Milliarde Jahre kommen können. Wenn ein solcher Eroberungszyklus eine Million Jahre benötigte, bis ein anderer brauchbarer Planet erreicht war, und nach der ausführlichen Erforschung eine weitere Million Jahre nötig waren, um Ströme von Kolonisten auf mehrere andere brauchbare Planeten zu entsenden, dann hätte dieses Volk außerirdischer Eroberer schon vor langer Zeit alle bewohnbaren Teile der Galaxie einschließlich unseres eigenen Sonnensystems besetzt.

Natürlich besteht eine mögliche Erklärung dafür, dass wir keinen Außerirdischen begegnen, darin, dass wir durch die gesamten Jahrmilliarden hindurch in der gesamten Galaxie einzigartig waren und sind und dass nur wir allein die Fähigkeit entwickelt haben, durch das All zu reisen – dass also die Milchstraße nur darauf wartet, von uns erobert zu werden. Diese These aber ist höchst unwahrscheinlich.

Ich bevorzuge eine andere Möglichkeit. Vielleicht sind die Außerirdischen gerade erwachsen geworden. Vielleicht haben sie gemerkt, dass die unermesslichen Probleme ihrer evolvierenden Zivilisationen sich nicht durch Wettbewerb zwischen Religionen, Ideologien oder kriegerischen Nationen lösen lassen. Sie haben festgestellt, dass große Probleme nach großen Lösungen verlangen, die nur rational durch die Kooperation aller Parteien gelingen. Wären sie so weit gekommen, so hätten sie gemerkt, dass es gar keine Notwendigkeit gibt, andere Sternensysteme zu kolonisieren. Dass es genügt, Fuß zu fassen und die unbegrenzten Möglichkeiten der Erfüllung zu erkunden, die der Heimatplanet bietet.

Und so will ich meinen eigenen blinden Glauben bekennen. Die Erde lässt sich, wenn wir es wollen, im 22. Jahrhundert in ein dauerhaftes Paradies für den Menschen verwandeln oder zumindest in einen vielversprechenden Anfang davon. Wir werden uns selbst und den anderen Lebewesen noch sehr viel Schaden zufügen, aber wenn wir uns den einfachen Anstand gegenüber dem Anderen zum ethischen Grundsatz machen, wenn wir unablässig unsere Vernunft gebrauchen und wenn wir akzeptieren, was wir wirklich sind, dann werden unsere Träume am Ende wahr werden.

Und was dich angeht, Paul Gauguin: Warum hast du diese Zeilen auf dein Gemälde geschrieben? Natürlich wirst du, so vermute ich, prompt antworten, du wolltest eben ganz sichergehen, dass die Symbolik auf deinem tahitischen Panorama auch ja nicht missverstanden wird. Aber mein Gefühl sagt mir, dass da noch etwas war. Vielleicht hast du die drei Fragen mit dem impliziten Hinweis darauf gestellt, dass es keine Antwort gibt, weder in der zivilisierten Welt, die du abgelehnt und verlassen hast, noch in der primitiven Welt, die du zu deiner gemacht hast, um Frieden zu finden. Oder aber du wolltest vielleicht sagen, dass die Kunst nicht weiter gehen kann, als du gegangen bist; und dass dir persönlich nichts weiter übrig blieb, als die verstörenden Fragen schriftlich zu stellen. Doch lass mich noch einen anderen Grund für das Rätsel vorschlagen, das du uns hinterlassen hast, einen Grund, der mit diesen ersten Vermutungen gar nicht unbedingt im Widerspruch steht. Ich glaube, was du geschrieben hast, ist ein Triumphschrei. Du hattest deine Leidenschaft ausgelebt, weit zu reisen, neue Stile der darstellenden Kunst zu entdecken und dir zu eigen zu machen, die Fragen auf neue Weise zu stellen und, ausgehend von all dem, ein authentisches, originales Werk zu schaffen. In diesem Sinn ist deine Laufbahn ewig; sie war nicht vergeblich. In unserer eigenen Zeit haben wir rationale Analyse und Kunst zueinandergebracht und Natur- und Geisteswissenschaften zu Partnern gemacht – und damit sind wir den Antworten, nach denen du gesucht hast, ein Stück näher gekommen.

Die soziale Eroberung der Erde: Eine biologische Geschichte des Menschen
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