3.
DIE LANGSTRECKE

Kein individueller Evolutionsverlauf lässt sich vorhersagen, weder an seinem Anfang noch kurz vor dem Ende. Die natürliche Selektion kann eine Art an den Rand einer größeren revolutionären Veränderung bringen und im letzten Moment doch daran vorbeisteuern. Und doch lassen sich bestimmte Verläufe der Evolution als möglich oder unmöglich definieren, zumindest auf diesem Planeten. Insekten können sich zu fast mikroskopischen Ausmaßen entwickeln, aber nie zu so großen Tieren wie Elefanten. Schweine könnten Wassertiere werden, aber fliegen werden ihre Nachfahren nie.

Die mögliche Evolution einer Art lässt sich als Reise durch ein Labyrinth verbildlichen. Kommt ein größerer Vorteil wie das Aufkommen der Eusozialität in Reichweite, so macht jede genetische Veränderung, jede Kehre im Labyrinth das Erreichen dieses Niveaus entweder weniger wahrscheinlich, ja gar unmöglich, oder aber die Möglichkeit bleibt bis zur nächsten Kehre weiterhin bestehen. Bei den ersten Schritten sind noch so viele Optionen offen, und der Weg ist noch so weit, dass das Erreichen des letzten, entferntesten Ziels noch kaum wahrscheinlich zu nennen ist. Gegen Ende ist das Ziel nur noch wenige Schritte entfernt; es wird daher wahrscheinlicher, dass es erreicht wird. Allerdings unterliegt auch das Labyrinth selbst auf dem Weg der Evolution. Alte Korridore (ökologische Nischen) können sich schließen, während neue sich auftun. Die Struktur des Labyrinths hängt zum Teil auch davon ab, wer gerade darin unterwegs ist, zum Beispiel welche Art.

3.1 Die Evolution einer Art lässt sich so darstellen, dass die Umwelt ein Labyrinth ist, in dem sich wiederholt Gelegenheiten verschließen oder eröffnen, während das Labyrinth selbst der Evolution unterliegt. In unserem Beispiel führt der Weg von einem primitiven Sozialleben zu einem hoch sozialen Leben.

In jeder Runde des evolutionären Glücksspiels, also von einer Generation zur nächsten, müssen sehr viele Individuen leben und sterben. Allerdings sind es auch nicht unendlich viele. Ihre grobe Anzahl lässt sich, zumindest der Größenordnung nach, plausibel abschätzen. Für den gesamten Verlauf der Evolution von unseren primitiven Säuger-Vorfahren von vor 100 Millionen Jahren bis zu der einzigen Linie, die ihren Weg bis zum Aufkommen des ersten Homo sapiens weiterging, mögen vielleicht 100 Milliarden Individuen nötig gewesen sein.[3] Ohne es zu wissen, lebten und starben sie alle für uns.

Viele Mitspieler, darunter andere sich entwickelnde Arten, die im Durchschnitt jeweils wenige tausend fortpflanzungsfähige Individuen pro Generation umfassten, gingen im Bestand zurück und starben aus. Wäre es einem Vorfahren aus der langen Linie, die zum Homo sapiens geführt hat, so ergangen, so hätte das Epos Mensch ein abruptes Ende genommen. Unsere vormenschlichen Vorfahren waren weder auserwählt noch unschlagbar. Sie hatten einfach Glück.

Die neuere Forschung verschiedener naturwissenschaftlicher Disziplinen kann in ihrem Zusammenspiel heute die Evolutionsschritte erhellen, die zur Natur des Menschen geführt haben; damit erhalten wir wenigstens eine Teillösung für das Problem der «Sonderstellung des Menschen», das Naturwissenschaft und Philosophie immer so belastet hat. In einer zeitlichen Perspektive vom Anfang bis zum Erreichen der menschlichen Natur lässt sich jeder Schritt als Präadaption interpretieren. Mit dieser Sichtweise will ich nicht unterstellen, dass die Arten, aus denen unsere hervorgegangen ist, in irgendeiner Weise auf ein solches Ziel ausgerichtet waren. Vielmehr war jeder Schritt eine eigenständige Adaption – die Reaktion der natürlichen Selektion auf Bedingungen, die zu gegebener Zeit an einem bestimmten Ort im Umfeld einer Art geherrscht haben.

Die ersten Präadaptionen waren die bereits erwähnte Großwüchsigkeit und die relativ eingeschränkte Mobilität, die den Verlauf der Säuger-Evolution im Gegensatz zu der der sozialen Insekten vorbestimmte. Die zweite Präadaption auf der menschlichen Zeitleiste war die Tatsache, dass sich die frühen Primaten vor 70 bis 80 Millionen Jahren auf ein Leben in den Bäumen spezialisierten. Das wichtigste Merkmal, das die Evolution bei diesem Wandel herausbildete, waren Hände und Füße, deren Aufbau das Greifen ermöglichte. Außerdem eigneten sich ihre Form und ihre Muskeln besser dazu, sich von Ast zu Ast zu schwingen, als sie nur zu greifen, um darauf zu sitzen. Noch effizienter wurden sie durch das gleichzeitige Aufkommen von opponierbaren Daumen und großen Zehen. Weiter ging es mit der Herausbildung von flachen Nägeln an den Finger- und Zehenspitzen statt der scharfen, gekrümmten Klauen, wie sie die meisten anderen auf Bäumen lebenden Säugetiere besitzen. Außerdem fanden sich an den Handflächen und Fußsohlen Hautleisten, die das Greifen unterstützten, und Druckrezeptoren, die den Tastsinn verbesserten. Mit dieser Ausstattung konnten frühe Primaten ihre Hände einsetzen, um Früchte zu pflücken und zu zerteilen und zugleich einzelne Samen herauszulösen. Die Kanten der Fingernägel waren imstande, Gegenstände, die die Hände hielten, sowohl zu zerschneiden als auch abzukratzen. Indem diese Tiere für die Fortbewegung ihre Hinterbeine nutzten, konnten sie Nahrung über beträchtliche Entfernungen transportieren, ohne dazu wie eine Katze oder ein Hund die Kiefer einsetzen zu müssen; auch mussten sie die Nahrung nicht mehr für ihre Jungen heraufwürgen wie ein Vogel bei der Brutaufzucht.

3.2 Ein Schimpanse geht zweifüßig durch den Savannenwald von Fongoli, Senegal.

Vielleicht als Zugeständnis an die relativ komplexe, flexible Art der Futterbeschaffung und zugleich an die dreidimensionale, offene Vegetation ihres Lebensraums bildeten die frühen vormenschlichen Primaten ein größeres Gehirn aus. Aus demselben Grund wurden sie allmählich stärker vom Seh- und weniger vom Geruchssinn abhängig als die meisten anderen Säugetiere. Sie erwarben große Augen mit Farbsicht, die vorn auf dem Kopf saßen und das stereoskopische Sehen und eine bessere Tiefenwahrnehmung ermöglichten. Beim Gehen bewegten vormenschliche Primaten die Hinterbeine nicht parallel nach hinten; stattdessen wechselten sich die Beine beinahe auf einer einzigen Linie ab, indem sich ein Fuß vor den anderen setzte. Auch hatten sie weniger Nachwuchs, der für seine Entwicklung mehr Zeit brauchte.

3.3 Ein Schimpanse auf einem Termitenbau in dem Lebensraum, in dem die Prähumanen aufkamen. Sie verwenden hier auch einfachste Werkzeuge.

Als eine Linie dieser seltsamen auf Bäumen lebenden Geschöpfe im Lauf ihrer Evolution anfing, auf dem Boden zu leben – dazu kam es in Afrika –, war es zur nächsten Präadaption gekommen; eine weitere glückliche Kehre im Labyrinth der Evolution war genommen. Die Zweifüßigkeit war erreicht, die Hände damit frei für andere Zwecke. Die beiden noch lebenden Schimpansenarten, der gemeine Schimpanse und der Bonobo, die stammesgeschichtlich nächsten Verwandten des Menschen, gingen in dieser Richtung etwa zur selben Zeit auch sehr weit. Wenn sie auf dem Boden sind, heben sie heute auch häufig die Arme und laufen oder gehen auf den Hinterbeinen. Sogar primitive Werkzeuge können sie herstellen.

Nach ihrer Trennung von der Abstammungslinie Pan (Schimpansen) trieben die Vormenschen, die sich jetzt als eine Gruppe von Arten, die sogenannten Australopithecina, abgrenzten, die Tendenz zum aufrechten Gang sehr viel weiter. Ihr gesamter Körper wurde dementsprechend neu strukturiert. Die Beine wurden länger und gerade, die Füße gestreckt, so dass sich bei der Fortbewegung eine Abrollbewegung ergab. Das Becken wurde zu einer flachen Schale, die die Eingeweide tragen konnte, da diese jetzt nicht mehr wie bei den Affen unter dem waagerechten Körper hingen, sondern auf den Beinen lasteten.

Die Revolution der Zweifüßigkeit war höchstwahrscheinlich ausschlaggebend für den durchschlagenden Erfolg der Australopithecina-Vormenschen – so zumindest lässt sich an der Vielfalt ermessen, die sie in Körperform, Kiefermuskulatur und Gebissstruktur erreichten. Eine Zeitlang, vor etwa zwei Millionen Jahren, lebten auf dem afrikanischen Kontinent gleichzeitig mindestens drei Australopithecina-Arten. Mit ihren Körperproportionen, der aufrechten Haltung, dem wendigen Kopf ganz oben und den langen hinteren Gliedmaßen, auf denen sie laufen und hüpfen konnten, dürften sie aus einiger Entfernung wie der moderne Mensch gewirkt haben. Fast sicher bewegten sie sich in kleinen Gruppen, so wie heutige Jäger und Sammler. Ihr Gehirn war nicht größer als das von Schimpansen, doch aus genau diesem Gefüge sollte sich am Ende die früheste Art des ersten Homo entwickeln. In der Evolution bedeutet Vielfalt Opportunität, merkten die Australopithecina.

Die alten Australopithecina und die Arten, die von ihnen abstammen und die Gattung Homo bilden, lebten in einer Umwelt, die den aufrechten Gang förderte. Sie praktizierten nie den Knöchelgang wie die Schimpansen und andere heutige Menschenaffen, bei denen die Hände zu Fäusten gerollt sind und als Vorderbeine dienen.[4] So wie die neuen Australopithecina mit seitlich schwingenden Armen zu gehen, verlieh bei minimalem Energieaufwand Geschwindigkeit, obwohl es außer Rücken- und Knieproblemen noch ein zunehmendes Risiko aufwarf, weil der immer schwerer werdende kugelrunde Kopf auf einem zierlichen, senkrechten Genick im Gleichgewicht gehalten werden musste.

3.4 Ardipithecus ramidus, nach Fossilienfunden westlich des Flusses Awash in Äthiopien, ist mit 4,4 Millionen Jahren der älteste bekannte zweibeinige Vorfahre des modernen Menschen. Er ging auf langen Hinterbeinen, hatte aber noch lange Arme, die sich für das Leben auf Bäumen eignete.

Für Primaten, deren Körper ursprünglich für ein Leben auf den Bäumen gemacht war, konnten Zweibeiner schnell laufen. Aber mit den vierbeinigen Tieren, auf die sie Jagd machten, konnten sie nicht mithalten. Antilopen, Zebras, Strauße und andere Tiere ließen ihnen schon über kurze Entfernungen keine Chance. Millionen Jahre der Verfolgung durch Löwen und andere fleischfressende Athleten hatten diese Beutetiere zu Sprintweltmeistern gemacht. Doch wenn die frühesten Menschen solche olympischen Tiere schon nicht im Kurzstreckenlauf besiegen konnten, so übertrafen sie sie doch immerhin im Marathon. Der Mensch wurde so gewissermaßen zum Langstreckenläufer. Er musste nur eine Hatz beginnen und der Beute Kilometer um Kilometer nachsetzen, bis sie erschöpft war und überwältigt werden konnte. Der vormenschliche Körper, der sich bei jedem Schritt vom Fußballen abdrückte und einen gleichmäßigen Schritt durchhielt, entwickelte eine hohe aerobe Ausdauer. Mit der Zeit warf der Körper auch seine Behaarung ab, außer auf dem Kopf, an der Scham und unter den Pheromone freisetzenden Armbeugen. Dazu kamen überall Schweißdrüsen, die eine wirkungsvolle rasche Kühlung der unbehaarten Körperoberfläche erlaubten.[5]

In seinem Buch Laufen. Geschichte einer Leidenschaft behandelt der angesehene Biologe und rekordhaltende Ultramarathon-Läufer Bernd Heinrich ausführlich das Thema Marathon. Er zitiert Shawn Found, den US-Meister über 25 Kilometer, um die Urfreude am Langstreckenlauf zum Ausdruck zu bringen: «Wenn du läufst, erwacht der Jäger in dir. Laufen, das heißt, 50 Kilometer hinter einer Beute herzujagen, die dir auf kurze Strecken hoffnungslos überlegen ist, sie zur Strecke zu bringen und in dein Dorf zu schleppen, für das sie neues Leben bedeutet. Das ist eine schöne Sache.»[6]

Unterdessen bildeten sich die vorderen Gliedmaßen des Menschen so um, dass sie im Umgang mit Gegenständen flexibler wurden. Besonders beim Mann vermochte der Arm sehr hohe Wurfleistungen zu erzielen – zunächst wurden Steine geworfen, später auch Speere: Damit konnte der Vormensch erstmals aus der Entfernung töten. Diese Fähigkeit muss ihm im Konflikt mit anderen, weniger gut ausgerüsteten Gruppen einen enormen Vorteil verschafft haben.[7]

Mindestens eine Population des heutigen gemeinen Schimpansen hat die Fähigkeit entwickelt, Steine zu werfen. Das Verhalten tritt als kulturelle Innovation auf, die vielleicht von einem einzigen Individuum ausging. Es ist aber undenkbar, dass ein Schimpanse je mit einem modernen menschlichen Athleten mit halten könnte. Keiner kann einen Steinbrocken mit 140 km/h schleudern oder einen Speer fast über ein ganzes Fußballfeld. Und selbst mit Training könnte kein Schimpansenjunges einen Gegenstand so geschickt werfen wie ein Menschenkind. Frühe Menschen hatten die angeborene Ausstattung – und wahrscheinlich auch die Neigung –, beim Fangen von Beutetieren und bei der Abwehr von Feinden Wurfgeschosse zu verwenden. Die dadurch gewonnenen Vorteile waren mit Sicherheit entscheidend. Speer- und Bogenspitzen gehören zu den ältesten Artefakten, die bei archäologischen Ausgrabungen gefunden werden.

3.5 Das Jagen war eine hochadaptive – und gefährliche – Leistung der menschlichen Vorgeschichte. Die Abbildung im Kasten (Ausschnitt der altsteinzeitlichen Felsmalereien in Lascaux) zeigt einen an den Einge weiden getroffenen Bison beim Angriff auf einen gestürzten Jäger. Ein Rabe, als Aasfresser im Gefolge von Jägern, ist in der Nähe.

Die Umwelt, in der sich das vormenschliche Epos entfaltet, war ideal für das Aufkommen der ersten Zweifüßer und ihrer Marathon laufenden Abkömmlinge. Als die entscheidenden Evolutionsschritte stattfanden, herrschte in einem Großteil Afrikas südlich der Sahara Trockenheit, in der die Regenwälder zum Äquatorgürtel hin zurückwichen und im Norden zu verstreuten lokalen Beständen schrumpften. Große Teile des Kontinents waren von Savannenwald bedeckt, dazwischen Trockenwald und Grasland. Auf Beutezug im offenen Gelände konnten der Vormensch und der Homo stehend über die niedrige Vegetation hinwegspähen, um nach Beute Ausschau zu halten, aber auch nach Raubtieren, die ihnen selbst nachsetzten. Im Fall einer Bedrohung konnten sie zu den schützenden nahen Bäumen laufen. Akazien und andere vorherrschende Bäume waren relativ klein, und die Kronen bestanden aus Ästen, die weit zum Boden herabreichten und leicht zu erklettern waren – das alles zum Vorteil der Zweifüßer. Die Umweltstruktur ist sehr vergleichbar mit der, die in Serengeti, Amboseli, Gorongosa und den anderen großen ostafrikanischen Parks noch heute vorherrscht. Poeten und Touristen fühlen sich in dieser Landschaft gleichermaßen wohl, weit mehr als in anderen Lebensräumen des subsaharischen Afrikas. Sie werden dabei, wie ich später erklären werde, wahrscheinlich von einem Instinkt geleitet, der sich über Millionen Jahre der Evolution bei ihren Vorfahren an genau dieser Stelle herausbildete.

Die Wiege der Menschheit war nicht der dichte Regenwald mit dem turmhohen Kronendach und dem schattendunklen Innenleben; und genauso wenig das relativ merkmalsarme Gras- und Wüstenland. Nein, die Menschheit stammt aus dem Savannenwald, der mit seinem komplexen Mosaik aus unterschiedlichen lokalen Lebensräumen gerade sie begünstigte.

Der nächste Schritt auf dem Weg zur Eusozialität war die Beherrschung des Feuers. Vom Blitzschlag entfachte Bodenfeuer sind bis heute im afrikanischen Gras- und Waldland sehr verbreitet. Werden sie auf den feuchten Böden in flussnahen Waldstreifen und in leicht überflutbaren Senken unterdrückt, so wächst das Unterholz dichter und wird der reinste Zunder. Ein Blitzschlag oder ein übergreifendes Bodenfeuer kann dann einen Waldbrand entfachen, bei dem die Flammen sowohl durch die Bodenvegetation schlagen als auch aufwärts zu den Kronen des umstehenden Savannenwaldes. Einige Tiere, insbesondere die jungen, kranken und alten, geraten in die Falle und kommen um. Den umherziehenden Vormenschen kann die Bedeutung des Wildfeuers als Nahrungsquelle nicht entgangen sein. Außerdem fanden sie einige der niedergestreckten Tiere fertig gebraten vor, so dass sich ihr Fleisch leicht von den Knochen lösen und verzehren ließ.

3.6 San-Männer auf Beutezug im Grasland der südlichen Kalahari. Ganz ähnliche Szenen waren in derselben Gegend wahrscheinlich schon vor 60.000 Jahren üblich.

Australische Ureinwohner nutzen diese Gaben der Natur nicht nur bis heute, sondern setzen sogar vorsätzlich Feuer mit Fackeln aus Ästen. Haben Vormenschen das vielleicht auch getan? Wir wissen nicht, wie es genau vor sich ging; sicher ist aber, dass schon früh in der Geschichte des Homo die Beherrschung des Feuers ein Schlüsselereignis auf der verschlungenen Reise zur modernen Natur des Menschen wurde.

Den Insekten und anderen erdbewohnenden Wirbellosen dagegen war die Nutzung des Feuers für immer versagt. Sie waren physisch zu klein, um Brennholz zu entfachen oder einen brennenden Gegenstand zu transportieren, ohne selbst vom Feuer verzehrt zu werden. Auch Wassertieren war sie natürlich unmöglich, unabhängig davon, wie groß oder wie intelligent ein Lebewesen war. Intelligenz auf dem Niveau des Homo sapiens kann sich nur zu Land herausbilden, egal ob auf der Erde oder auf jedem sonst vorstellbaren Planeten. Selbst in der Fantasiewelt mussten sich Meerjungfrauen und der Gott Neptun zu Lande entwickeln, bevor sie in ihr Wasserreich eingingen.

Als nächster Schritt – und wie sich an anderen Tieren belegen lässt, war er entscheidend für die Entstehung der menschlichen Eusozialität – vollzog sich die Zusammenfindung zu kleinen Gruppen an den Lagerstätten. Diese Verbände bestanden aus ausgedehnten Familien sowie – das ist noch bei heutigen Jäger-und-Sammler-Gesellschaften der Fall – aus außenstehenden Frauen, die für exogame Partnerschaften hereingetauscht wurden.

Aus umfassenden archäologischen Funden wissen wir, dass sowohl der frühe afrikanische Homo sapiens als auch die europäische Schwesterart Homo neanderthalensis sowie der gemeinsame Vorfahre Homo erectus Lagerstätten nutzten. Demnach ist diese Praxis mindestens eine Million Jahre alt. Es gibt gleichsam ein Argument a priori dafür, dass Lagerstätten die entscheidende Anpassung auf dem Weg zur Eusozialität waren: Lagerstätten sind im Grunde nichts anderes als die Nester des Menschen. Ausnahmslos alle Tierarten, die Eusozialität praktizieren, bauten zunächst Nester, die sie gegen Feinde verteidigten. Wie schon ihre Vorgänger zogen sie im Nest die Brut auf, gingen auf Futtersuche außerhalb des Nests und brachten die Beute nach Hause, um sie mit anderen zu teilen. Eine Variante in diesem Verhalten tritt bei primitiven Termiten auf, beim Ambrosiakäfer und bei den Galle erzeugenden Blattläusen und Blasenfüßen (Thripsen), für die die Nahrung selbst das Nest darstellt. Die Grundanordnung bleibt aber dieselbe, gehorsam dem biologischen Prinzip, nach dem der eusozialen Evolution der Nestbau vorausgeht.

3.7 Afrikanischer Wildhund

Nesthockende Vogelarten – deren hilflose Jungen erst aufgezogen werden müssen – weisen eine ähnliche Präadaption auf. Bei wenigen Arten bleiben die jungen Erwachsenen eine Zeitlang bei den Eltern und helfen bei der Aufzucht der Geschwister. Keine Vogelart aber ist bis zur Evolution vollständig eusozialer Gesellschaften gelangt. Sie haben nur Schnabel und Krallen, konnten also nie annähernd gewandt mit Werkzeugen umgehen, und schon gar nicht mit Feuer. Wölfe und afrikanische Wildhunde jagen in koordinierten Rudeln ähnlich wie Schimpansen und Bonobos, und der afrikanische Wildhund gräbt auch Bauten, in denen ein oder zwei Weibchen größere Würfe gebären. Manche Rudelmitglieder jagen und bringen der Alpha-Hündin und den Jungen einen Anteil Futter, während andere als Wächter zu Hause bleiben. Diese bemerkenswerten Caniden haben zwar die seltenste und schwierigste Präadaption herausgebildet, nicht aber echte Eusozialität mit einer Arbeiterkaste oder einer Intelligenz auch nur auf Höhe der Affen. Sie können keine Werkzeuge herstellen. Ihnen fehlen Greifhände und Finger mit weichen Kuppen. Sie bleiben Vierbeiner, die auf ihre Reißzähne und mit Fell umhüllten Klauen angewiesen sind.

Die soziale Eroberung der Erde: Eine biologische Geschichte des Menschen
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