25.
DER URSPRUNG DER RELIGION

Seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert spitzt sich der Harmagedon im Konflikt zwischen Naturwissenschaft und Religion deutlich zu (wenn mir diese starke Metapher nachgesehen wird). Es geht darum, dass die Naturwissenschaft die Religion von Grund auf zu erklären versucht – nicht als unabhängige Realität, in der die Menschheit ihren Platz sucht, nicht als Gehorsam gegenüber einer göttlichen Macht, sondern als Produkt der Evolution durch natürliche Selektion. Im Grunde geht es in dem Kampf nicht um Menschen, sondern um Weltanschauungen. Menschen sind nicht verfügbar, Weltanschauungen schon.

Wurde der Mensch erschaffen nach dem Bild Gottes, oder wurde Gott nach dem Bild des Menschen erschaffen? Das ist der Kern des Dissenses zwischen Religion und wissenschaftlich begründetem Atheismus. Für welche Option man sich entscheidet, wirkt sich tiefgreifend auf das Selbstverständnis des Menschen und auf den Umgang mit den Mitmenschen aus. Wenn Gott den Menschen nach seinem Bild geschaffen hat, wie es die Schöpfungsmythen und Darstellungen der meisten Religionen suggerieren, so lässt sich vernünftigerweise davon ausgehen, dass ihm persönlich an den Menschen gelegen ist. Hat aber Gott die Menschheit nicht nach seinem Bild geschaffen, dann kann es sehr gut sein, dass das Sonnensystem in den ungefähr 1036 Sternensystemen des Universums keine große Besonderheit ist. Wäre diese Annahme weithin verbreitet, so würde die Zugehörigkeit zu den organisierten Religionen rapide abnehmen.

Kommen wir also zur ultimaten Frage, die die Theologen meines Erachtens jahrhundertelang ohne Not verkompliziert haben. Gibt es Gott? Und wenn es ihn gibt, ist es ein persönlicher Gott, einer, zu dem wir beten können in der Erwartung, dass er uns antwortet? Und wenn ja, können wir dann erwarten, dass wir unsterblich sind und, sagen wir für den Anfang, die nächsten Billionen Billionen Jahre in Frieden und Freude leben werden?

An diesen Grundfragen entlang vertiefte sich im Laufe des 20. Jahrhunderts die Kluft zwischen religiös Gläubigen und atheistischen Wissenschaftlern. 1910 ergab eine Erhebung unter angesehenen Wissenschaftlern im American Men of Science, dass immerhin 32 Prozent von ihnen an einen persönlichen Gott glaubten und 37 Prozent an die Unsterblichkeit. Als die Erhebung 1933 wiederholt wurde, glaubten nur noch 13 Prozent an Gott und 15 Prozent an die Unsterblichkeit. Die Tendenz ist weiter fallend. 1998 gingen die Werte für die Mitglieder der US-Akademie der Wissenschaften, ein vom Bund gesponserter Verband von Elite-Forschern, gegen null. Nur 10 Prozent gaben an, entweder an Gott oder an die Unsterblichkeit zu glauben. Zu ihnen gehörten gerade einmal zwei Prozent der Biologen.[58]

In modernen Gesellschaften hat es allgemein keine übergeordnete Bedeutung mehr, ob man einer organisierten Religion angehört. Das bezeugen etwa die erheblichen religiösen Unterschiede zwischen den Menschen in den USA und in Europa. Umfragen aus den späten 1990er Jahren ergaben, dass über 95 Prozent der Amerikaner an Gott oder irgendeine universelle Lebenskraft glaubten, gegenüber 61 Prozent der Briten. 84 Prozent der Amerikaner glauben an Jesus als Gott oder Gottes Sohn, aber nur 46 Prozent der Briten tun das. 1979 glaubten laut einer Umfrage 70 Prozent der Amerikaner an ein Leben nach dem Tod, aber nur 46 Prozent der Italiener, 43 Prozent der Franzosen und 35 Prozent der Skandinavier. Beinahe 45 Prozent der Amerikaner gehen heute noch mehr als einmal pro Woche in die Kirche, gegenüber 13 Prozent der Briten, 10 Prozent der Franzosen, 3 Prozent der Dänen und 2 Prozent der Isländer.[59]

Ich werde oft gefragt, worauf diese Unterschiede zwischen den Kontinenten zurückzuführen sind, obwohl doch die meisten Amerikaner europäischer Abkunft sind. Für viel Verwunderung sorgen auch immer wieder die weit verbreitete wörtliche Auslegung der Bibel und die Tatsache, dass die Hälfte der US-Bevölkerung die biologische Evolution leugnet. Ich wurde selbst als Südlicher Baptist erzogen, in einer evangelikalen Gruppierung also, der auch ein Großteil der amerikanischen christlichen Fundamentalisten angehören, und so kenne ich sehr gut die Macht der King-James-Bibel, die menschliche Wärme und Großmut der unter ihr Vereinten und das Gefühl des Ausgeliefertseins in einer Kultur, die in ihren Augen immer gottloser wird. Die unbestechliche, unwiderlegbare Bibel bedient alle geistlichen Bedürfnisse. Ihre hehren Worte sind ein nie versiegender Quell von Sinn. In einsamen Momenten findet der Gläubige darin Geleit, im Kummer findet er Trost, und auf einem moralischen Irrweg erwartet er Erlösung. «Welch ein Freund ist Jesus», tönt ein beliebtes Kirchenlied, «der uns unsre Sünden trägt! Welch ein Glück: Wir dürfen alles auf Gott werfen im Gebet!» Es gibt historische Gründe, aus denen es in Amerika so viele fundamentalistische Protestanten gibt, und ich überlasse es den Historikern, sie darzulegen. Wer aber glaubt, seine Kultur drohe unter dem Gelächter der Vernunft zu zerbrechen, dem sage ich: Denk noch einmal nach. Es gibt Umstände, unter denen intelligente, gebildete Menschen ihre Identität und den Sinn ihres Lebens mit ihrer Religion gleichsetzen, und das ist ein solcher Umstand.

Wenn ein persönlicher Gott oder mehrere Götter oder immaterielle Geister gewissermaßen nicht allgemein anerkannt sind, wie wäre es dann mit einer göttlichen Macht als Schöpfer des Universums? Könnten wir alle so einen Schöpfer verehren – auch wenn er sich nicht besonders um uns kümmern würde? So lautet das Argument des Deismus: Die materielle Existenz begann, weil etwas oder jemand das wollte. Wenn das stimmt, liegt der Grund für die Erschaffung des Universums bis heute im Dunkeln – 13,7 Milliarden Jahre nach dem Urknall. Ein paar ernsthafte Wissenschaftler argumentieren, dass es zumindest einen Schöpfergott gegeben haben muss. Kern ihrer Überlegung ist das anthropische Prinzip, dem zufolge die Gesetze der Physik und ihre Parameter genau austariert werden mussten, damit das Sternensystem sich entwickeln und das kohlenstoffbasierte Leben darin evolvieren konnte. Das ist in dem grundlegend habitablen Universum der Fall, das uns mit seinen physikalischen Einheiten und Kräften umgibt – nicht zu viel hiervon, nicht zu viel davon. Wäre zum Beispiel der Urknall ein kleines bisschen stärker ausgefallen, so wäre die Materie zu schnell explodiert, als dass sich Sterne und Planeten hätten bilden können. Zugegeben, das anthropische Prinzip lässt aufhorchen. Doch der Historiker Thomas Dixon erläutert die Probleme:

Woher wissen wir, ob wir über irgendeine gegebene Konfiguration physikalischer Konstanten staunen müssen? Ist denn nicht jede Kombination im Grunde unendlich unwahrscheinlich? Und woher wissen wir überhaupt, dass diese Konstanten frei variieren können, so wie diese Argumentation es annimmt, und dass sie nicht einfach von Natur aus fixiert sind oder auf eine Weise zusammenhängen, die wir nicht durchschauen? Und sollte die heute angenommene Existenz von Billionen anderer Universen, gemessen an ihrer schier möglichen Existenz, wirklich bewirken, dass wir weniger staunen über die Existenz und die physikalische Gestalt unseres eigenen Universums (angenommen, wir hätten anfangs gestaunt, was ich ehrlich gesagt gar nicht getan habe)?[60]

Dieses Gegenargument spiegelt die Einsichten von David Humes Philosophie: «Ich habe in zu vielen anderen, uns weit vertrauteren Dingen die Unvollkommenheiten, ja Widersprüche der menschlichen Vernunft kennengelernt, als daß ich mir von ihren schwachen Hypothesen über einen so erhabenen und vom Kreis unserer Beobachtung so weit entfernten Gegenstand jemals irgendwelchen Erfolg versprechen könnte.»[61]

Nehmen wir an, entgegen diesen Überlegungen würden wir irgendwie die physikalischen Gesetze des Universums als Beweis für ein übernatürliches oberstes Wesen interpretieren. Dann wäre es ein riesiger Glaubenssprung, die biologische Geschichte, die sich auf diesem Planeten abgespielt hat, einem göttlichen Eingriff zuzuschreiben. Wenn die Beweise aus Biologie und Anthropologie irgendetwas zu bedeuten haben, dann wäre es ein ebenso großer Fehler, wie Platon und Kant universelle moralische Vorschriften zu formulieren, die unabhängig von den Idiosynkrasien des menschlichen Lebens existieren, also eine gottgewollte Moral, wie sie C. S. Lewis und andere christliche Apologeten so wortreich verfechten. Nein, wir haben guten Grund, den Ursprung von Religion und Moral als besondere Ereignisse in der Evolutionsgeschichte der Menschheit und mithin als Folge der natürlichen Selektion zu erklären.[62]

Vielfache Belege weisen darauf hin, dass organisierte Religion ein Ausdruck des Tribalismus ist. Jede Religion lehrt ihre Anhänger, dass sie auserwählt sind und dass ihre Schöpfungsgeschichte, ihre Moralvorschriften und ihre göttlich gewährten Privilegien denen aus anderen Religionen überlegen sind. Wohltätigkeit und andere altruistische Handlungen konzentrieren sich auf Religionsgenossen; wenn sie auch auf Außenstehende ausgedehnt werden, dann gewöhnlich aus missionarischen Gründen und um damit den Stamm und seine Verbündeten zu stärken. Kein religiöser Anführer fordert je dazu auf, rivalisierende Religionen kennenzulernen und sich für die zu entscheiden, die einem für sich persönlich und für die Gesellschaft am geeignetsten erscheint. Stattdessen ist der Konflikt zwischen Religionen häufig ein Katalysator, wenn nicht eine direkte Ursache für Kriege. Tief Gläubige stellen ihren Glauben über alles andere und brausen leicht auf, wenn er provoziert wird. Die Macht der organisierten Religionen beruht darauf, dass sie soziale Ordnung und persönliche Sicherheit zu festigen helfen, nicht aber auf ihrem Beitrag zur Wahrheitssuche. Ziel der Religionen ist die Unterwerfung unter den Willen und das Allgemeinwohl des Stammes.

Die mangelnde Logik von Religionen ist keine Schwäche, sondern ihre wesentliche Stärke. Die Akzeptanz der bizarren Schöpfungsmythen bindet die Mitglieder aneinander. In den verschiedenen großen christlichen Konfessionen findet sich der Glaube, dass diejenigen, die all ihr Wollen Jesus anheimstellen, schon bald leiblich in den Himmel auffahren werden, während die Zurückgebliebenen tausend Jahre Leid erwartet, bis die Welt untergeht. Eine rivalisierende Glaubensrichtung sieht das anders, empfiehlt aber die Kommunion mit Christus auf Erden, indem man sein Fleisch isst und sein Blut trinkt – was durch den Akt der Transsubstantiation beides wörtlich zu nehmen ist. Wenn Außenstehende solche Dogmen offen in Frage stellen, gilt das als Einmischung in die Privatsphäre und als persönliche Beleidigung. Und wer sich als Anhänger einen Zweifel erlaubt, macht sich der Häresie schuldig.

Ein derart starker Stammesinstinkt konnte in der realen Welt nur durch die Evolution über Gruppenselektion aufkommen, also im Kampf von Stamm gegen Stamm. Die charakteristischen Eigenschaften der Religiosität sind die logische Folge aus dem Wirken der dynamischen Kräfte auf dieser höheren Ebene biologischer Organisation.

Das Herzstück der traditionellen organisierten Religionen sind ihre Schöpfungsmythen. Wo in der Geschichte der wirklichen Welt haben sie ihren Ursprung? Die einen stammen teilweise aus volkstümlichen Erinnerungen an prägende Ereignisse – etwa ein Auszug in neue Siedlungsgebiete, gewonnene oder verlorene Kriege, Überschwemmungen oder Vulkanausbrüche. Über Generationen hinweg wurden sie ausgestaltet und ritualisiert. Der vermeintliche Auftritt göttlicher Wesen auf der Bühne verdankt sich den persönlichen Gedankenprozessen der Propheten und Gläubigen. Sie gehen davon aus, dass die Götter genauso fühlen, denken und planen wie sie selbst. Im Alten Testament etwa ist Jahwe verschiedentlich von Liebe, Eifersucht, Zorn und Rache getrieben – genauso wie seine sterblichen Kinder.

Der Mensch projiziert seine Menschlichkeit auch auf Tiere, Maschinen, Orte und selbst fiktive Wesen. Wo solche Übertragungen üblich waren, war es ein relativ einfacher Schritt von menschlichen Herrschern hin zu unsichtbaren göttlichen Wesen. Gott ist zum Beispiel in allen drei abrahamitischen Religionen (Judentum, Christentum und Islam) ein Patriarch ganz wie die Herrscher über die Wüstenstämme, bei denen diese Religionen aufkamen.[63]

Selbst noch die phantastischsten Elemente der Schöpfungsmythen – das Auftreten von Dämonen und Engeln, unsichtbaren Stimmen, die Auferstehung der Toten und das Innehalten der Sonne auf ihrer Bahn – sind leicht erklärbar: nicht nach physikalischen Gesetzen, sondern im Licht der modernen Physiologie und Medizin. Die Clanführer und Schamanen sprechen immer gern mit Göttern und Geistern, wenn sie träumen, unter dem Einfluss von Drogen halluzinieren oder bei Schüben von Geisteskrankheit. Besonders lebhaft sind Episoden des unwillkürlichen Erlebens in der Schlafparalyse, bei der ansonsten gesunde Menschen eine Nebenwelt voller bedrohlicher Ungeheuer und zerrüttender Angst betreten. Ein Patient des Psychologen J. Allan Cheyne beschreibt etwa «den Schatten einer sich bewegenden Gestalt mit vorgereckten Armen, der mit absoluter Sicherheit übernatürlich und böse war». Ein anderer Patient war sich genauso sicher, dass er beim Aufwachen ganz real «ein halb Schlangen-, halb Menschenwesen» vorfand, das ihm «unverständliche Laute ins Ohr schrie». Die überzeugenden Erlebnisse in der Schlafparalyse ähneln in ihrer Bildlichkeit stark den Eindrücken von Entführungen durch Außerirdische, die zumindest in einigen Fällen mit einer Hyperaktivität im Parietallappen des Gehirns assoziiert werden. Weiterhin berichten Patienten, während der Schlafparalyse das Gefühl gehabt zu haben, sie würden fliegen oder fallen oder ihren Körper verlassen. Die primäre Emotion dabei ist Angst, doch wandelt sie sich manchmal zu Aufregung, Erheiterung oder Verzückung.[64]

Eine noch größere Rolle dürften bei der Entstehung von Schöpfungsmythen halluzinogene Drogen spielen, unter deren Einfluss Illusionen zu längeren Geschichten werden, die von Symbolik durchzogen und nach der Wahrnehmung des Träumers mit mystischer Bedeutung aufgeladen sind. Schamanen und ihre Anhänger in primitiven Gesellschaften nutzen Drogen, um mit der Geisterwelt in Kontakt zu treten. Eine solche Substanz ist das besonders gut untersuchte Ayahuasca, ein Halluzinogen, das bei Eingeborenenstämmen im Amazonasbecken weit verbreitet ist. Unter dem Einfluss von Ayahuasca erfährt man lebhaft-realistische Visionen, die zunächst bunt durcheinandergewürfelt sind, aber dann in eine Art Geschichte münden. Verschiedentlich sieht man seltsame geometrische Muster, Jaguare, Schlangen und andere Tiere, außerdem den eigenen Tod und die Reise in eine andere Welt. Folgendes Beispiel stammt von einem Siona-Indio aus Kolumbien nach der Einnahme von Yagé (so die lokale Bezeichnung für Ayahuasca):

Aber dann kam eine alte Frau und wickelte mich in ein großes Gewand, ließ mich an ihrer Brust saugen, und dann flog ich davon, sehr weit weg, und plötzlich war ich an einem ganz hellen Ort, strahlend hell, und alles war da friedlich und heiter. Da, wo das Volk der Yagé lebt, wie wir, nur besser, da kommen wir am Ende hin.

Solche Visionen lassen sich als Eingang in den Himmel deuten. Es folgt eine Höllenvision, wie sie eine chilenische Drogenkonsumentin europäischer Abstammung erlebte. (Tiger sind hier Jaguare, die einheimischen Großkatzen in Südamerika.)

Zuerst lauter Tigergesichter. … Dann der Tiger. Der größte und stärkste von allen. Ich weiß (ich kann seine Gedanken lesen), dass ich ihm folgen muss. Ich sehe die Hochebene. Er geht entschlossen geradeaus. Ich folge ihm; aber als ich an den Rand des Abgrunds gelange und das Gleißen sehe, kann ich ihm nicht mehr folgen.

Sie blickt in eine runde Grube voll flüssigem Feuer; Menschen schwimmen darin.

Der Tiger will, dass ich da hingehe. Aber ich weiß nicht, wie ich hinunterkommen soll. Ich umklammere den Schwanz des Tigers, und er springt. Dank seiner Muskeln ist der Sprung geschmeidig und langsam. Der Tiger schwimmt durch das flüssige Feuer, ich sitze auf seinem Rücken … Auf dem Tiger steige ich ans Ufer … Da ist ein Krater. Wir warten eine Zeitlang, dann kommt es zu einem riesigen Ausbruch. Der Tiger sagt mir, ich soll mich in den Krater stürzen …[65]

Diese blanken Visionen sind keineswegs bizarrer als diejenigen, die in den großen Weltreligionen als Grundwahrheiten gelten. Einige solche Visionen enthält auch die Offenbarung des Johannes, das letzte Buch der Bibel. Entstanden ist es im 1. Jahrhundert, wahrscheinlich 96 n. Chr., auf der griechischen Insel Patmos. In Johannes’ Vision kehrt Jesus von seinem Himmelsthron zur Rechten Gottes zurück auf Erden und spricht durch die Stimme der Engel. Johannes wird von einer seltsamen Stimme aufgeschreckt.

Und ich wandte mich um, zu sehen nach der Stimme, die mit mir redete. Und als ich mich umwandte, sah ich sieben goldene Leuchter und mitten unter den Leuchtern einen, der war einem Menschensohn gleich, angetan mit einem langen Gewand und gegürtet um die Brust mit einem goldenen Gürtel. Sein Haupt aber und sein Haar war weiß wie weiße Wolle, wie der Schnee, und seine Augen wie eine Feuerflamme und seine Füße wie Golderz, das im Ofen glüht, und seine Stimme wie großes Wasserrauschen; und er hatte sieben Sterne in seiner rechten Hand, und aus seinem Munde ging ein scharfes, zweischneidiges Schwert, und sein Angesicht leuchtete, wie die Sonne scheint in ihrer Macht.[66]

Jesus ist bei seiner Wiederkunft (nicht bei der des Weltgerichts, die er dem Johannes hier erst verkündet) voller Zorn. Er ist unzufrieden über die sieben Gemeinden, für die die Leuchter stehen, und er schickt sich an, Mitglieder dieser Gemeinden niederzustrecken, die vom Glauben an ihn abgefallen sind. Er nennt sich das A und das O, der «die Schlüssel des Todes und der Hölle» hält. Besonders hasst Jesus die Werke der Nikolaïten. Und den abtrünnigen Gemeindemitgliedern auf Patmos, die auch zur Lehre der Nikolaïten übergetreten sind, droht er in scharfen Worten: «Tue Buße; wenn aber nicht, so werde ich bald über dich kommen und gegen sie streiten mit dem Schwert meines Mundes.»[67] In der Offenbarung des Johannes kündet Jesus durch die Stimme der Engel von Verzückung und Bedrängnis, vom Kampf zwischen den Mächten Gottes und des Satans, aus dem Gott schließlich siegreich hervorgeht.

25.1 Aufenthalt des Toten zu Hause und in der Geisterwelt. Wir sehen einen im Feuerrauch mumifizierten Stammesältesten in einem Kukukuku-Dorf auf Neuguinea im Kreis seiner Familie.

Vielleicht wurde Johannes ja wirklich von Gott heimgesucht, wie er es berichtet. Sehr viel wahrscheinlicher aber ist es, dass er nach der Einnahme halluzinogener Drogen träumte – zu seiner Zeit war das in Südosteuropa und dem Nahen Osten noch eine weit verbreitete Praxis. Die stärksten dieser Rauschmittel wurden aus der schwarzen Tollkirsche (Atropa belladonna), aus Stechapfel (der Gattung Datura), aus dem Mutterkornpilz (Claviceps purpurea, ein auf Gräsern und Getreide wachsender Pilz, aus dem sich LSD gewinnen lässt) und aus Hanf (Cannabis sativa) gewonnen.

Genauso gut könnte Johannes an Schizophrenie gelitten haben. Die Halluzinationen, die sie auslöst, sind mit Johannes’ Visionen vergleichbar: Stimmen und weitere Geräusche wie Gespräche und Befehle; diese werden manchmal als sehr mächtige und wichtige Gedanken empfunden, sind häufig beruhigend, aber gelegentlich auch bedrohlich. Die Wahnvorstellungen weiten sich auch zu längeren Geschichten aus und könnten zu phantastisch begründeten Weltanschauungen verschmelzen.[68] Der Fall des Sehers Johannes ist deshalb besonders wichtig, weil das Buch der Offenbarung, Höhe- und Schlusspunkt des Neuen Testaments, konservativen Evangelikalen als Handbuch dient. Johannes’ Träume prägen zutiefst die Weltsicht von Millionen völlig gesunder und verantwortungsvoller Menschen und beeinflussen in unterschiedlichem Ausmaß ihre Lebensführung. Man mag seine Erklärungen vielleicht für wahr halten, aber nach meinem nüchternen Urteil klafft das Bild eines unheilvollen Jesus, der damit droht, Abtrünnige mit einem antiken Schwert zu zerschneiden, so weit mit dem übrigen Neuen Testament auseinander, dass ich eine einfache biologische Erklärung vorziehe.

25.2 Auf der Suche nach Visionen durch Selbstquälerei. Bei den Mandan-Indianern suchten in einem Ritual Krieger nach Visionen, indem sie sich Lederriemen durch das Fleisch zogen und so lange drehen ließen, bis sie ohnmächtig wurden.

25.3 Anführer der Mandan Buffalo Bull Society.

Ohne sich von den übernatürlichen Annahmen der traditionellen Theologie beirren zu lassen, zeichnen jedenfalls heute Historiker gemeinsam mit anderen Gelehrten aus evolutionärer Perspektive die Schritte nach, die zu den hierarchischen und dogmatischen Strukturen moderner Religionen geführt haben.[69] Irgendwann in der späten Altsteinzeit begann der Mensch über seine eigene Sterblichkeit nachzudenken. Die frühesten bekannten Begräbnisstätten, die Zeichen der Ritualisierung tragen, sind 95.000 Jahre alt. Damals (oder schon früher) müssen die Lebenden gefragt haben: Wohin gehen alle diese Toten? Die Antwort hätte für sie dann auf der Hand gelegen. Die Gegangenen lebten weiter und besuchten die Lebenden regelmäßig wieder – in ihren Träumen. Die verstorbenen Verwandten lebten in der Geisterwelt der Träume und noch lebendiger in den durch Rauschmittel induzierten Halluzinationen, gemeinsam mit Verbündeten, Feinden, Göttern, Engeln, Dämonen und Ungeheuern. Ähnliche Visionen ließen sich, wie spätere Gesellschaften herausfanden, auch durch Fasten, Erschöpfung und Selbstquälerei heraufbeschwören. Heute wie damals verlässt das Bewusstsein jedes Menschen im Schlaf den Körper und tritt in die Geisterwelt ein, die in der neuronalen Brandung seines Gehirns auftaucht.

Sehr früh schon traten Schamanen auf und übernahmen die Interpretation der Visionen, insbesondere ihrer eigenen, die sie als besonders bedeutsam einschätzten. Sie behaupteten, die Erscheinungen bestimmten über das Schicksal des Stammes. Man nahm an, die übernatürlichen Wesen hätten dieselben Emotionen wie lebende Menschen, und deshalb mussten sie durch Zeremonien verehrt und besänftigt werden. Man musste sie bei Übergangsriten um ihren Segen anflehen – beim Übergang ins Erwachsenenalter, bei Hochzeit und Tod. Mit der jungsteinzeitlichen Revolution und besonders beim Aufkommen von Staaten, als Handels- und Kriegsallianzen geschlossen wurden und verschiedene Stämme um die religiöse Vorherrschaft rangen, wurden manchmal auch die Götter übernommen.

Mit zunehmender sozialer Komplexität wuchs auch die Verantwortung der Götter für die Aufrechterhaltung der sozialen Stabilität, was ihre menschlichen Vertreter, die Priester, über politische Kontrolle von oben nach unten erreichten. Wirkten politische, militärische und religiöse Anführer zu diesem Zweck zusammen, so wurde das Dogma zur unverrückbaren Tradition. Setzten sich politische Revolutionen durch, so konnten sich religiöse Anführer in der Regel an die neuen Umstände anpassen – typischerweise schlugen sie sich auf die Seite der Aufständischen und milderten die Dogmen der alten Oberschicht ab.

Als sich bei den Israeliten die ersten Anfänge dessen herausbildeten, was sich später zu den mächtigen abrahamitischen Religionen entwickeln sollte, herrschten noch viele Götter über das auserwählte Volk. In Psalm 86,8 etwa heißt es: «Herr, es ist dir keiner gleich unter den Göttern, und niemand kann tun, was du tust.» Mit der Zeit gewann Jahwe die absolute Macht über die Israeliten. Später empfahl er eher Toleranz gegenüber den Gottheiten benachbarter Reiche, wenn die Zeiten gut waren, und befahl ansonsten mitleidlose Unterdrückung.

25.4 Prähistorische und frühe historische Tänzer in mystischer Verkleidung mit Tierköpfen. (A) Paläolithische Höhlenmalerei in Trois Frères, Frankreich. (B) Prähistorische San-Malerei in Afvallingskop, Südafrika. (C, D) Gemälde von Sioux aus der amerikanischen Prärie.

Wie in alten Zeiten interessieren sich auch heute die Gläubigen in der Regel nicht besonders für Theologie und schon gar nicht für die Evolutionsschritte, in denen die heutigen Weltreligionen entstanden sind. Stattdessen geht es ihnen um den religiösen Glauben und den Gewinn, den er ihnen verschafft. Die Schöpfungsmythen erklären alles, was sie von der Urgeschichte wissen müssen, um die Einheit des Stammes zu gewährleisten. In Zeiten von Wandel und Gefahr bietet der persönliche Glaube Stabilität und Frieden. Leiden sie unter der Bedrohung oder dem Wettkampf anderer Gruppen, so versichern ihre Mythen den Gläubigen, dass sie in Gottes Augen das Höchste sind. Religiöser Glaube verleiht die psychologische Sicherheit, die nur aus der Zugehörigkeit zu einer Gruppe entspringt, zumal zu einer von Gott gesegneten Gruppe. Zumindest den großen Massen der Anhänger abrahamitischer Religionen verspricht er ewiges Leben nach dem Tod, und zwar im Himmel, nicht in der Hölle – besonders wenn wir uns unter den vielen möglichen Konfessionen für die richtige entscheiden und geloben, deren Riten gläubig zu befolgen.

Was immer Ehrfurcht und Staunen erregen konnte – beides Fähigkeiten des menschlichen Geistes –, eigneten sich über die Jahrhunderte die religiösen Glaubensrichtungen an, in den Meisterwerken der Literatur, der bildenden Kunst, der Musik und Architektur. Dreitausend Jahre Jahwe haben diesen Künsten eine sonst unerreichte ästhetische Macht verliehen. Ich jedenfalls kenne nichts Bewegenderes als das römisch-katholische Luzernar, bei dem das lumen Christi (Licht Christi) der Osterkerze eine dunkle Kathedrale erleuchtet; oder die Choralgesänge für die Gläubigen evangelikaler Gemeinden, die bei einem Altarruf aufstehen und nach vorne ziehen.

Der Genuss dieser Wohltaten erfordert eine Unterwerfung unter Gott oder seinen Sohn, den Erlöser, oder unter beide oder unter seinen als Letztes erwählten Propheten Mohammed. Das ist zu einfach. Man braucht sich nur unterzuordnen, sich einzulassen, die heiligen Schwüre zu wiederholen. Doch fragen wir ganz offen: Wem gilt dieser Gehorsam wirklich? Etwa einem Wesen, das vielleicht in dem Bereich, den der menschliche Geist erfassen kann, überhaupt keine Bedeutung hat – oder vielleicht auch gar nicht existiert? Ja, vielleicht gilt der Gehorsam wirklich Gott. Vielleicht aber auch lediglich einem Stamm, der durch einen Schöpfungsmythos geeint ist. Im zweiten Fall interpretieren wir religiösen Glauben besser als unsichtbare Falle, die in der biologischen Geschichte unserer Art unvermeidlich war. Und wenn das stimmt, dann gibt es sicher Wege der spirituellen Erfüllung, die ohne Selbstaufgabe und Versklavung auskommen. Die Menschheit hat etwas Besseres verdient.

Die soziale Eroberung der Erde: Eine biologische Geschichte des Menschen
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