26.
DER URSPRUNG DER KREATIVEN KÜNSTE

So reich und scheinbar grenzenlos die Künste erscheinen mögen, so muss doch jede von ihnen die engen biologischen Kanäle der menschlichen Kognition passieren. Unsere sinnlich erfahrbare Welt, also alles, was wir ohne fremde Hilfe über die außerkörperlichen Realitäten wahrnehmen können, ist erbärmlich klein. Unsere Sehfähigkeit beschränkt sich auf einen winzigen Ausschnitt aus dem elektromagnetischen Spektrum, dessen Wellenlängen von der Gammastrahlung am oberen Ende bis hinunter zum Niederfrequenzbereich reichen, der für besondere Kommunikationsformen genutzt wird. Wir sehen nur ein winziges Fenster in der Mitte davon und bezeichnen es als «Lichtspektrum». Unser optischer Apparat teilt diesen wahrnehmbaren Ausschnitt dann in die verschwommenen Zonen ein, die wir Farben nennen. Gleich hinter Blau kommt bei den Frequenzen Ultraviolett, das Insekten sehen können, wir aber nicht. Von sämtlichen Klangfrequenzen in unserer Umwelt hören wir nur ganz wenige. Fledermäuse orientieren sich über das Echo von Ultraschall, dessen Frequenz aber so hoch ist, dass unsere Ohren ihn nicht wahrnehmen können, und Elefanten kommunizieren über ein für unsere Belange allzu tieffrequentes Grollen.

Tropische Nilhechte nutzen zur Orientierung und Kommunikation im trüben, schlammigen Wasser elektrische Impulse und haben sich daher höchst effizient auf eine Sinneswahrnehmung spezialisiert, die dem Menschen völlig abgeht. Ebenso wenig nehmen wir das Magnetfeld der Erde wahr, das manche Zugvogelarten zur Orientierung nutzen. Auch die Polarisierung des Sonnenlichts in kleinen Himmelsfetzen sehen wir nicht; Honigbienen nutzen sie an wolkigen Tagen, um von ihren Stöcken zu Blumenbeeten und zurück zu finden.

26.1 Optische Anregung in visuellen Mustern. Von den drei computergenerierten Figuren stimuliert das mittlere, das einen mittleren Komplexitätsgrad aufweist, automatisch am meisten.

Unsere größte Schwäche aber ist unser erbärmlich schlecht ausgebildeter Geschmacks- und Geruchssinn. Über 99 Prozent aller Lebewesen vom Mikroorganismus bis zum Tier nutzen olfaktorische Wahrnehmungen, um sich in ihrer Umwelt zu orientieren. Auch die Fähigkeit, über besondere chemische Stoffe, die sogenannten Pheromone, zu kommunizieren, haben sie perfektioniert. Der Mensch dagegen gehört mit Affen und Vögeln zu den wenigen Formen des Lebens, die überwiegend audiovisuell geprägt sind und deren Geschmacks- und Geruchssinn dementsprechend verkümmert ist. Verglichen mit Klapperschlangen und Bluthunden sind wir geradezu stumpfsinnig. Dass wir so schlecht schmecken und riechen können, zeigt sich auch im geringen Umfang unseres chemosensorischen Vokabulars, so dass wir meistens auf Vergleiche und andere Formen von Metaphern zurückgreifen müssen. Ein Wein hat ein delikates Bouquet, sagen wir, sein Geschmack ist vollmundig und leicht fruchtig. Und riechen kann etwas nach Rosen, Kiefernnadeln oder nach frisch gefallenem Regen.

So tapsen wir denn durch unser chemisch höchst anspruchsvolles Leben in einer chemosensorischen Biosphäre und nutzen dabei Klang und Sicht, die vor allem für das Leben auf den Bäumen evolviert wurden. Nur dank Wissenschaft und Technik konnte die Menschheit in die grenzenlosen sinnlichen Welten im Rest der Biosphäre eindringen. Über Messinstrumente können wir die Sinneswelten der anderen Lebewesen in unsere eigene übersetzen. Und dabei sind wir inzwischen beinah imstande, bis an den Rand des Universums zu sehen und sogar den Zeitpunkt seines Entstehens abzuschätzen. Wir werden uns nie orientieren, indem wir das Magnetfeld der Erde erfühlen, wir werden nie in Pheromonen singen, aber wir können die gesamte Information, die in solchen Sinneswelten enthalten ist, in unser eigenes kleines Sinnesreich herüberholen.

26.2 Die natürliche Anregung durch die Komplexität der japanischen Schriftzeichen verstärkt noch die Stimmung, die durch die Kalligraphie zum Ausdruck gebracht wird. Oben stehen zwei Beispiele der einfach-linearen, klaren Kanzleischrift reisho, wie sie für Schlagzeilen in Zeitungen und in Steingravuren verwendet wird. Unten sehen wir die weiche, elegante wayo-Schrift, die bis Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts sehr verbreitet war.

26.3 Die immanente Schönheit eines Panjabi-Texts wird wie bei vielen anderen Sprachen auch dadurch verstärkt, dass seine Symbole sehr nah am höchsten automatischen Erregungswert liegen.

Indem wir diese Fähigkeit nutzen und darüber hinaus die Geschichte des Menschen betrachten, können wir Einblick in Ursprung und Natur ästhetischer Urteilsfindung nehmen. So ergaben etwa neurobiologische Messungen, insbesondere Erhebungen der Ströme von Alpha-Wellen während der Wahrnehmung abstrakter Muster, dass das Gehirn am meisten von Mustern stimuliert wird, deren Elemente ungefähr zu 20 Prozent redundant sind – das entspricht in etwa dem Komplexitätsgrad eines einfachen Labyrinths, von zwei Umdrehungen einer logarithmischen Spirale oder eines asymmetrischen Kreuzes. Vielleicht ist es Zufall (obwohl ich das nicht glaube), dass etwa derselbe Grad der Komplexität auch in sehr vielen Teilbereichen der Kunst vorherrscht – bei Friesen, Schmiedearbeiten, Signets, Logogrammen und Flaggenmustern. Selbst in den Hieroglyphen aus dem alten Ägypten und aus Mittelamerika findet er sich, ebenso in den Piktogrammen und Buchstaben moderner asiatischer Sprachen. Dasselbe Komplexitätsniveau liegt zum Teil der Attraktivität von primitiver Kunst und modernem abstraktem Design zugrunde. Das dürfte daran liegen, dass dieser Komplexitätsgrad dem entspricht, was das Gehirn in einem Augenblick maximal verarbeiten kann; so können wir etwa mit einem einzigen Blick nicht mehr als sieben Gegenstände zählen. Ist ein Bild komplexer, so erfasst das Auge seinen Inhalt, indem es Sakkaden durchführt oder bewusst von einem Sektor zum anderen springt. Eine Eigenschaft großer Kunst besteht darin, dass sie in der Lage ist, die Aufmerksamkeit so von einem ihrer Teile auf einen anderen zu führen, dass es gefällig, informativ und provokant wirkt.

26.4 Die Komplexität der «primitiven» Kunst situiert sich typischerweise nah an der des höchsten Erregungsgrads. Die Ruder wurden von Dorfbewohnern in Surinam geschaffen.

In einen anderen Bereich der visuellen Kunst fällt die Biophilie, also der Umstand, dass Menschen sich aus einem angeborenen Bedürfnis heraus auch zu nichtmenschlichen Lebewesen hingezogen fühlen und die Nähe zur Natur suchen. In Studien zeigte sich, dass Menschen, die sich frei für die Lage ihrer Wohnung oder ihres Arbeitsplatzes entscheiden konnten, sich ungeachtet ihrer Herkunft zu einer Umwelt hingezogen fühlen, die drei Merkmale vereint (und Landschaftsarchitekten und Immobilienmakler greifen diese intuitiv auf): Sie möchten von einer Anhöhe hinunterblicken können, mögen am liebsten offenes, savannenartiges Gelände mit verstreuten Bäumen und Baumgruppen, und sie wollen in der Nähe eines Gewässers sein, also an einem Fluss, einem See oder dem Meer. Selbst wenn alle diese Elemente rein ästhetischen und keinerlei funktionalen Wert haben, bezahlen Wohnungskäufer erhebliche Summen für einen solchen Blick.

26.5 Grafische Kunst und ihre Muster bewegen sich häufig am automatischen maximalen Erregungsgrad, so wie die Wörter, die Darstellung des Gehirns und links unten das Logo des Verlags illustrieren.

Mit anderen Worten, die Menschen ziehen es vor, in solchen Umgebungen zu leben, in denen unsere Art sich in Afrika über Millionen von Jahren hinweg entwickelt hat. Instinktiv sammeln sie sich am Savannenwald (Parklandschaft) und Übergangswald, überblicken aus sicherem Posten gewisse Distanzen und zuverlässige Nahrungs- und Wasserquellen. Das ist keinesfalls ein seltsamer Zufall, wenn man es als biologisches Phänomen betrachtet. Alle beweglichen Tierarten lassen sich von Instinkten leiten, die sie in Lebensräume führen, in denen ihre Überlebens- und Fortpflanzungschancen am größten sind. Es ist keineswegs überraschend, dass der Mensch in der relativ kurzen Zeitspanne seit der Jungsteinzeit diese uralten Bedürfnisse noch nicht vollständig verlernt hat.[70]

26.6 Vom Menschen von Natur aus bevorzugte Habitate üben einen signifikanten Einfluss auf die Landschaftsarchitektur aus. Viele Wissenschaftler gehen davon aus, dass die Vorlieben sich während der prähumanen Evolution im afrikanischen Savannenwald herausgebildet haben. Bevorzugt werden Siedlungen in erhöhter Lage in Reichweite eines Gewässers und mit Blick auf eine fruchtbare Parklandschaft (und auf große Tiere, selbst wenn es nur Skulpturen sind). In diesem Beispiel sehen wir den Hauptsitz von Deere & Company in Moline, Illinois.

Wenn es überhaupt einen Grund gibt, Geistes- und Naturwissenschaften stärker einander anzunähern, dann den, dass wir die wahre Natur der menschlichen Sinneswelt verstehen und sie von derjenigen der übrigen Lebensformen abgrenzen müssen. Doch spricht für die Verständigung zwischen den großen Fakultäten der Wissenschaft auch ein weiterer, noch bedeutenderer Grund: Es liegen heute überzeugende Belege dafür vor, dass sich das menschliche Sozialverhalten durch Multilevel-Evolution genetisch entwickelt hat. Erweist sich dieses Verständnis als richtig, und immer mehr Evolutionsbiologen und Anthropologen sind dieser Ansicht, so können wir davon ausgehen, dass der Konflikt zwischen Verhaltensweisen, die von der Individualselektion, und solchen, die von der Gruppenselektion gefördert werden, andauert. Selektion am Individuum führt tendenziell zu Wettbewerb und egoistischem Verhalten zwischen Gruppenmitgliedern in den Bereichen Status, Paarung und Ressourcensicherung. Die Selektion zwischen Gruppen dagegen lässt eher selbstloses Verhalten aufkommen, das sich in mehr Großzügigkeit und Altruismus ausdrückt, und das wiederum fördert besseren Zusammenhalt und die Stärke der Gruppe insgesamt.

Die einander entgegenwirkenden Kräfte der Multilevel-Selektion führen unausweichlich zu einer ständigen Ambiguität im Geist des einzelnen Menschen, und so gibt es zahllose Szenarien, in denen sich Menschen binden, lieben, zusammenschließen, betrügen, miteinander teilen, sich aufopfern, stehlen, täuschen, belohnen, bestrafen, aneinander appellieren und übereinander urteilen. Der Kampf, der im Gehirn jedes Menschen tobt und den die breite Überwölbung der kulturellen Evolution widerspiegelt, ist der Urquell der Geisteswissenschaften. Einen Shakespeare in der Ameisenwelt beträfe dieser Krieg zwischen Ehre und Verrat nicht; er läge in den Ketten der starren Befehle des Instinkts und verfügte lediglich über ein winziges Repertoire an Gefühlen. So könnte er nur ein einziges Schauspiel des Triumphs und eines der Tragödie schreiben. Jeder gewöhnliche Mensch dagegen kann endlos verschiedene solche Geschichten erfinden und eine unbegrenzte Symphonie von Stimmungen und Launen komponieren.

Was genau sind dann eigentlich die Geisteswissenschaften? Ein ernsthafter Definitionsversuch findet sich im US-Bundesgesetz von 1965, das die staatlichen Stiftungen für Geisteswissenschaften (NEH) und für Kultur und Kunst (NEA) einrichtete:

Der Begriff «Geisteswissenschaften» umfasst, beschränkt sich aber nicht auf das Studium folgender Gebiete: moderne und klassische Sprachen, Linguistik, Literatur, Geschichte, Rechtswissenschaften, Philosophie, Archäologie, komparative Theologie, Ethik, Geschichte, Kritik und Theorie der Kunst; außerdem diejenigen Aspekte der Sozialwissenschaften, die humanistische Inhalte und humanistische Methoden verwenden; sowie Studium und Anwendung der Geisteswissenschaften auf die Umwelt des Menschen mit besonderer Rücksicht auf die Wiedergabe unseres unterschiedlichen Erbes, der Traditionen und der Geschichte sowie auf die Relevanz der Geisteswissenschaften für die heutigen Bedingungen des staatlichen Lebens.

Diese Gebiete also umfassen die Geisteswissenschaften – doch kein Wort über das Verständnis der kognitiven Prozesse, die sie alle einen, nichts über ihr Verhältnis zur erblichen Natur des Menschen oder zu ihrem prähistorischen Ursprung. Wir werden die Geisteswissenschaften nie in voller Reife erleben, solange diese Dimensionen fehlen.

Seit dem Ende der Aufklärung Ende des 18., Anfang des 19. Jahrhunderts steckt die Vernetzung der Geistes- und Naturwissenschaften in einer Sackgasse. Einen möglichen Ausweg daraus bietet etwa ein Vergleich der kreativen Prozesse und Darstellungsformen von Literatur und wissenschaftlicher Forschung. Und das ist sogar weniger schwierig, als es zunächst scheint. In beiden Gebieten sind die Innovatoren im Grunde Träumer und Geschichtenerzähler. In den frühen Schaffensstadien hat sowohl in der Kunst als auch in der Wissenschaft alles im Kopf die Gestalt einer Geschichte. Irgendwo gibt es eine Vorstellung davon, wie es ausgehen soll, und vielleicht einen Anfang sowie verschiedene Bruchstücke und Bauteile, die dazwischenpassen könnten. In der Literatur wie in der Wissenschaft ist jeder Baustein austauschbar; allerdings wirkt sich ein Wechsel auf die anderen Teile aus, einige fallen weg, andere treten hinzu. Die übrigen Bausteine werden zusammengesetzt, untergliedert und verschoben, während sich die Geschichte herausschält. Ein Szenario klärt sich, dann ein anderes. Und diese Szenarien, die literarischen genauso wie die wissenschaftlichen, stehen im Wettbewerb miteinander. Wörter und Sätze (oder Gleichungen und Experimente) werden getestet. Schon früh konzipiert man ein Ende für den gesamten Gedankengang. Ein erstaunliches Ende (oder ein wissenschaftlicher Durchbruch). Aber ist es das Beste, und ist es wahr? Zu einem passenden Ende zu kommen, ist das Ziel des kreativen Geistes. Doch egal, worum es geht, wo es liegt, wie es zum Ausdruck gebracht wird, es beginnt immer als Phantom, das bis zum letzten Augenblick vielleicht noch verblasst und ausgetauscht wird. An den Rändern huschen mit Worten nicht greifbare Gedanken umher. Wenn die brauchbarsten Bruchstücke sich herauskristallisieren, werden sie nach und nach in eine Ordnung gebracht, und die Geschichte nimmt Form an, wächst und erreicht ihr stimmiges Ende. Flannery O’Connor fragte ganz richtig im Namen aller literarischen und wissenschaftlichen Autoren: «Woher soll ich wissen, was ich meine, bevor ich sehe, was ich sage?» Der Romancier fragt: «Funktioniert das?», und der Wissenschaftler: «Kann das irgend wahr sein?»

Ein erfolgreicher Naturwissenschaftler denkt wie ein Dichter, aber er arbeitet wie ein Buchhalter. Er schreibt für Gleichgesinnte, in der Hoffnung, dass Wissenschaftler mit hohem Status, solche also, die selbst aufgrund ihrer Leistungen hoch angesehen sind, seine Entdeckungen akzeptieren. Nichtwissenschaftlern ist selten klar, wie wissenschaftlicher Fortschritt entsteht: Die Anerkennung der Kollegen ist dafür genauso wichtig wie die fachliche Korrektheit. Reputation ist die bare Münze einer wissenschaftlichen Karriere. Wie die Filmlegende James Cagney beim Empfang einer Auszeichnung für sein Lebenswerk könnte auch ein Wissenschaftler sagen: «In diesem Business bist du immer nur so gut, wie die anderen meinen.»

Langfristig aber steht und fällt wissenschaftliche Reputation mit der Anerkennung für echte Entdeckungen. Schlussfolgerungen werden wiederholt geprüft, und sie müssen der Überprüfung standhalten. Das Datenmaterial muss einwandfrei sein, oder die Theorien zerfallen in Stücke. Von anderen aufgedeckte Fehler können eine Reputation ruinieren. Bestrafung wegen Betrug ist ein regelrechtes Todesurteil – für den guten Ruf und für die weitere Karriere. In der Literatur wäre das äquivalente Kapitalverbrechen Plagiat. Betrug aber ist hier geduldet. In der Belletristik wie in anderen Künsten wird erwartet, dass die Phantasie freien Lauf hat. Und solange sie sich als ästhetisch gefällig oder sonst wie anregend erweist, wird sie gefeiert.

Der entscheidende Unterschied zwischen literarischem und wissenschaftlichem Schreibstil ist der Einsatz von Metaphern. In wissenschaftlichen Texten sind Metaphern in gewissem Ausmaß zulässig – solange sie unaufdringlich bleiben und vielleicht einen Hauch Ironie oder Selbstironie enthalten. Folgendes etwa wäre in der Einleitung oder der Diskussion eines Forschungsberichts denkbar: «Wenn sich dieses Ergebnis erhärtet, wird es unseres Erachtens den Weg freimachen für weitere fruchtbare Untersuchungen.» Nicht erlaubt ist: «Wir gehen davon aus, dass dieses Ergebnis, das uns ein hartes Stück Arbeit abverlangt hat, geradezu eine Quelle wird, der mit Sicherheit viele wasserreiche Ströme neuer Forschung entspringen werden.»

Entscheidend in der Wissenschaft ist die Bedeutsamkeit der Entdeckung. In der Literatur sind es die Originalität und die Macht der Metapher. Wissenschaftliche Texte fügen unserem Wissen über die materielle Welt ein überprüftes Stück hinzu. Poetischer Ausdruck in der Literatur dagegen ist ein Hilfsmittel, um Emotion direkt vom Schreiber zum Leser zu kommunizieren. Dieses Ziel kennt ein wissenschaftlicher Text nicht; hier will der Autor den Leser durch Beweis und Argumentation von der Gültigkeit und der Bedeutung der Entdeckung überzeugen. In der Fiktion muss die Sprache umso poetischer sein, je drängender das Bedürfnis ist, Emotionen mitzuteilen. Im Extremfall mag die Aussage offensichtlich falsch sein, wenn Autor und Leser es eben so wollen. Für den Dichter geht die Sonne im Osten auf und im Westen unter, und dabei zeichnet sie unseren Tageszyklus nach, ist Symbol für die Geburt, den Zenit des Lebens, für Tod und Wiedergeburt – und das alles, obwohl die Sonne sich de facto überhaupt nicht bewegt. Nur stellten sich unsere frühen Vorfahren eben die Himmelssphäre und den Sternenhimmel so vor. Sie verbanden seine zahlreichen Rätsel mit den Rätseln ihres eigenen Lebens und hielten sie über Jahrhunderte in heiligen Schriften und in der Poesie fest. Es wird noch lange dauern, bis ein solcher literarischer Ehrenplatz dem wirklichen Sonnensystem zukommt, in dem die Erde sich auf einer Laufbahn um einen eher zweitrangigen Stern dreht.

Zu dieser anderen Wahrheit, also der besonderen Wahrheit, die die Literatur anstrebt, fragt E. L. Doctorow:

Wer würde denn für einen «echten» historischen Bericht auf die Ilias verzichten? Natürlich trägt der Schriftsteller, sei es als feierlicher Dolmetscher oder als Satiriker, eine Verantwortung dafür, dass seine Komposition einer klaren Wahrheit dient. Aber das verlangen wir von allen Künstlern, gleichgültig in welchem Medium. Außerdem weiß der Leser eines Romans, in dem eine bekannte öffentliche Gestalt etwas sagt und tut, was sonst nirgends bezeugt ist, dass er einen fiktiven Text liest. Er weiß, dass der Autor mit dieser Lüge einer höheren Wahrheit zu dienen hofft, als der reine Tatsachenbericht sie liefern kann. Der Roman ist ein ästhetisches Werk, das eine öffentliche Gestalt in ihrem Porträt genauso interpretiert, wie es ein Porträt auf einer Leinwand tut. Der Roman wird nicht gelesen wie die Zeitung; er wird gelesen, wie er geschrieben wird, im Geist der Freiheit.[71]

Picasso fasste denselben Gedanken so zusammen: «Kunst ist die Lüge, die uns die Wahrheit erkennen lässt.»

Kunst als ein evolutionärer Fortschritt wurde möglich, als der Mensch die Fähigkeit zum abstrakten Denken entwickelte. Jetzt konnte der menschliche Geist eine abstrakte Form für eine Gestalt, einen Gegenstand oder eine Handlung bilden, und er konnte eine konkrete Darstellung des Gedankens an andere weiterreichen. Hier liegt auch der Ursprung echter, produktiver Sprache, die sich aus willkürlichen Wörtern und Symbolen zusammensetzt. Der Sprache folgten die darstellende Kunst, Musik, Tanz und die religiösen Rituale.[72]

Wann genau der Prozess zu echter bildender Kunst führte, ist unbekannt. Bereits vor 1,7 Millionen Jahren formten die Vorfahren des modernen Menschen, höchstwahrscheinlich der Homo erectus, grobe tropfenförmige Steinwerkzeuge. Sie wurden wahrscheinlich in der Hand gehalten und dienten dem Zerkleinern von Gemüse und Fleisch. Ob sie auch als mentale Abstraktion repräsentiert oder nur auf dem Weg der Nachahmung hergestellt wurden, ist unbekannt.

Vor 500.000 Jahren, in der Zeit des schon sehr viel größeren Gehirns beim Homo heidelbergensis, einer zeitlichen und anatomischen Zwischenform zwischen Homo erectus und Homo sapiens, waren Faustkeile schon raffinierter, und dazu kamen sorgfältig hergestellte Steinklingen und Pfeilspitzen. Nochmals 100.000 Jahre später benutzte der Mensch hölzerne Speere, für deren Bau mehrere Tage und viele Einzelschritte nötig waren. Damals in der mittleren Steinzeit begann bei den Vorfahren des Menschen die Evolution einer Technologie, die auf echter, auf Abstraktion begründeter Kultur fußte.

Als Nächstes kamen durchlöcherte Muschelschalen, die wohl als Anhänger an Ketten um den Hals getragen wurden, des Weiteren immer raffiniertere Werkzeuge, darunter sorgfältig geformte Knochenpfeilspitzen. Am erstaunlichsten sind dabei gravierte Ocker-Stücke. Ein 77.000 Jahre altes Exemplar zeigt drei geritzte Linien, die eine Reihe von neun X-Zeichen verbinden. Was und ob es überhaupt etwas bedeutete, wissen wir nicht, aber dass es sich um ein abstraktes Muster handelt, scheint klar.

Mit Bestattungen wurde vor mindestens 95.000 Jahren begonnen, wie eine Ausgrabung von dreißig Individuen in der israelischen Qafzeh-Höhle belegt. Einer der Toten, ein neunjähriges Kind, wurde mit gebeugten Beinen und einem Hirschgeweih in den Armen bestattet. Allein schon diese Anordnung verweist nicht nur auf ein abstraktes Todesbewusstsein, sondern auf eine Form existenzieller Angst. Bei zeitgenössischen Jägern und Sammlern ist der Tod ein Ereignis, das mit Hilfe von Zeremonie und Kunst bewältigt wird.

Die Anfänge der heute praktizierten bildenden Kunst werden vielleicht für immer ein Rätsel bleiben. Jedenfalls waren sie durch die genetische und kulturelle Evolution so weit eingerichtet, dass es vor etwa 35.000 Jahren in Europa zur «kreativen Explosion» kommen konnte. Von damals an und mehr als 20.000 Jahre lang bis in die späte Altsteinzeit blühte die Höhlenmalerei. In über zweihundert Höhlen beiderseits der Pyrenäen in Südwestfrankreich und Nordostspanien wurden Tausende Figuren, meist Großwild, gefunden. Zusammen mit Felsenzeichnungen aus anderen Erdteilen stellen sie eine verblüffende Momentaufnahme des Lebens kurz vor dem Aufkommen der Zivilisation dar.

Der Louvre der altsteinzeitlichen Höhlenmalerei ist die Grotte Chauvet in der südfranzösischen Ardèche. Das Meisterstück dort stammt aus der Hand eines einzelnen Künstlers, der mit rotem Ocker, Holzkohle und Gravuren eine Herde aus vier parallel laufenden Individuen einer damals in Europa heimische Wildpferdart schuf. Dargestellt sind nur ihre Köpfe, aber jedes Tier ist ein eigener Charakter. Die Tiere sind dicht gedrängt und schräg angeordnet, als würde man sie leicht von oben links betrachten. Die Ränder der Mäuler wurden als Basrelief herausgemeißelt, um sie markanter zu machen. Genaue Analysen haben ergeben, dass verschiedene Künstler zunächst zwei männliche Nashörner im Zweikampf malten, dann zwei Auerochsen, die einander den Rücken zuwenden. In den verbleibenden Freiraum dazwischen setzte dann der Einzelkünstler seine kleine Pferdegruppe.

Die Nashörner und Auerochsen wurden auf ein Alter von 32.000 bis 30.000 Jahren datiert, und man hatte zunächst angenommen, dass die Pferde genauso alt sind. Doch die Eleganz der Pferde und die offenbar benutzte Technik bringen einige Experten heute dazu, sie ins Magdalénien zu datieren, also zwischen 17.000 und 12.000 vor heute. Dann würde ihre Entstehung in die gleiche Zeit wie die großartigen Höhlenmalereien im französischen Lascaux und im spanischen Altamira fallen.

Abgesehen von der genauen Datierung der Herde in der Grotte Chauvet bleibt auch ungewiss, welche bedeutende Funktion die Höhlenmalerei hatte. Es gibt keinen Grund zu der Annahme, die Höhlen hätten als eine Art Proto-Kirchen gedient, in denen sich die Menschengruppen zur Anbetung der Götter versammelt hätten. Die Böden sind bedeckt mit den Überresten von Feuerstellen, Tierknochen und anderen Belegen für längere Bewohnung. Die ersten Vertreter des Homo sapiens kamen vor etwa 45.000 Jahren nach Mittel- und Osteuropa. Höhlen dienten in dieser Zeit offenbar als Unterschlupf, in denen die Menschen die harten Winter der Mammutsteppe überstehen konnten, deren Grasland sich unterhalb der kontinentalen Gletscherplatte über das gesamte Eurasien und bis in die Neue Welt erstreckte.

Vielleicht, so argumentierten einige Autoren, sollten die Höhlenmalereien wohlwollenden Zauber beschwören und den Jagderfolg mehren. Diese Vermutung stützt die Tatsache, dass die dargestellten Gestalten überwiegend große Tiere sind. Zudem zeigen 15 Prozent der Malereien Tiere, die mit Speeren oder Pfeilen verletzt wurden.

Ein zusätzliches Argument für eine rituelle Funktion der europäischen Höhlenmalerei stellt die Entdeckung eines Motivs dar, das wahrscheinlich einen Schamanen mit einer Hirschmaske zeigt oder vielleicht mit einem echten Hirschkopf. Erhalten sind weiterhin Skulpturen von drei «Löwenmännern» mit Menschenkörper und Löwenkopf – Vorläufer der Chimären, halb Tier und halb Gott, wie sie in der Frühgeschichte des Nahen Ostens auftauchten. Zugegebenermaßen haben wir keine stichhaltige Vorstellung davon, was die Schamanen taten oder wofür die Löwenmenschen standen.

Eine konträre Meinung über die Rolle der Höhlenmalerei vertritt der Naturforscher R. Dale Guthrie, dessen Hauptwerk The Nature of Paleolithic Art die gründlichste Veröffentlichung zu diesem Thema überhaupt ist. Fast die gesamte Malerei lässt sich, so Guthrie, als Darstellung des Alltags im Aurignacien und Magdalénien deuten. Die dargestellten Tiere gehören den Arten an, die von den Höhlenbewohner regelmäßig gejagt wurden (und einige wenige, etwa Löwen, jagten vielleicht auch umgekehrt die Menschen). Jedenfalls kamen sie ganz selbstverständlich regelmäßig in Gesprächen und visueller Kommunikation vor. Außerdem finden sich mehr menschliche Gestalten oder zumindest Teile der menschlichen Anatomie, als üblicherweise in Veröffentlichungen zur Höhlenmalerei genannt werden. Diese Gestalten sind gewöhnlich zu Fuß unterwegs. Häufig schufen die Bewohner Schablonendrucke, indem sie ihre Hände auf die Wände hielten und mit dem Mund Ockerpuder daraufsprühten, so dass die Umrisse der gespreizten Finger zu sehen blieben. Die Größe der Hände weist darauf hin, dass das überwiegend Kinder taten. Darüber hinaus finden sich recht viele Graffiti, bedeutungslose Kritzeleien, darunter häufig grobe Darstellungen männlicher und weiblicher Genitalien. Es gibt Skulpturen grotesk dickleibiger Frauen, vielleicht Opfergaben an die Geister oder Götter, um die Fruchtbarkeit zu fördern – die kleinen Verbände brauchten so viele Nachkommen wie möglich. Andererseits könnten die Skulpturen ganz einfach auch eine übertriebene Darstellung der fülligen Gestalt sein, nach der sich die Frauen in den häufig harten Wintern der Mammutsteppe sehnten.[73]

Die utilitaristische Theorie der Höhlenmalerei, der zufolge die Gemälde und Gravuren das Alltagsleben darstellen, ist mit großer Wahrscheinlichkeit zum Teil korrekt, aber nicht ganz ausreichend. Nur wenige Experten berücksichtigen, dass, um ein ganz anderes Gebiet zu nennen, zur gleichen Zeit die Musik aufkam. Das spricht dafür, dass zumindest einige der Malereien und Skulpturen im Leben der Höhlenbewohner sehr wohl eine magische Komponente hatten. Einige Autoren argumentieren, dass die Musik aus darwinscher Perspektive nicht von Bedeutung war, dass sie als Nebenprodukt der Sprache gleichsam ein «auditiver Käsekuchen» sei, wie ein Autor es einmal formulierte. In der Tat haben wir nur sehr spärliche Belege dafür, worin die Musik selbst bestand – so wie wir übrigens selbst von der griechischen und römischen Musik keine Notierung und deshalb keine Überlieferung besitzen und lediglich die Instrumente kennen. Musikinstrumente aber gab es schon früh in der Periode der kreativen Explosion. Gefunden wurden «Flöten» aus Vogelknochen, technisch wohl besser als Pfeifen zu bezeichnen, die 30.000 Jahre oder älter sind. Im französischen Isturitz und an anderen Fundorten wurden etwa 225 vermeintliche Pfeifen registriert, bei einigen davon ist freilich die Authentizität nicht gesichert. An den besterhaltenen Instrumenten finden sich Fingerlöcher, die auf einer gerundeten schrägen Linie so angeordnet sind, dass sie anscheinend zu den Fingern einer menschlichen Hand passen. Außerdem sind die Löcher so abgekantet, dass die Fingerspitzen sie dicht verschließen können. Der moderne Flötist Graeme Lawson spielte auf einer Nachbildung einer solchen Pfeife, aber natürlich ohne steinzeitliche Noten.

Auch weitere bei Ausgrabungen gefundene Artefakte lassen sich plausibel als Musikinstrumente interpretieren, beispielsweise feine Feuersteinscheiben, die zusammen aufgehängt werden und beim Aneinanderschlagen angenehme Klänge produzieren wie ein Windspiel. Vielleicht ist es auch nur ein Zufall, aber die Wandbereiche, auf denen die Malereien angebracht wurden, werfen faszinierende Echos zurück.[74]

War Musik ein darwinsches Evolutionskriterium? Trug sie für die altsteinzeitlichen Stämme, die sie praktizierten, zum Überlebenserfolg bei? Untersucht man die Gebräuche heutiger Jäger-und-Sammler-Kulturen weltweit, so kann man kaum zu einem anderen Schluss kommen. Gesänge, gewöhnlich begleitet von Tänzen, sind nahezu universell. Und da die australischen Aborigines seit der Ankunft ihrer Vorfahren vor etwa 45.000 Jahren isoliert waren, ihre Gesänge und Tänze aber grundsätzlich denen anderer Jäger-und-Sammler-Kulturen ähneln, lässt sich begründet annehmen, dass sie auch denen ähneln, die schon ihre altsteinzeitlichen Vorfahren praktizierten.

Anthropologen schenken normalerweise der Musik heutiger Jäger und Sammler nur wenig Beachtung und überlassen das eher Musikspezialisten; ähnlich halten sie es auch mit Linguistik und Ethnobotanik (dem Studium der Pflanzen, die die Stämme nutzten). Dabei sind Gesang und Tanz wichtige Elemente aller Jäger-und-Sammler-Gesellschaften. Zudem werden sie üblicherweise kollektiv praktiziert und betreffen ein weites Spektrum an Lebenssituationen. Die Lieder der gut untersuchten Inuit, Pygmäen im Gabun und der Aborigines von Arnhemland sind in ihrem Detailreichtum und ihrer Komplexität durchaus vergleichbar mit denen der fortgeschrittenen modernen Zivilisationen. Die Musik moderner Jäger und Sammler dient generell als Hilfsmittel zur Belebung ihres Alltags. Inhaltlich behandelt sie Geschichten und Mythen des Stammes sowie praktisches Wissen über Land, Pflanzen und Tiere.

Besonders wichtig für die Interpretation der Wildmotive in der europäischen altsteinzeitlichen Höhlenmalerei ist der Umstand, dass die Tänze moderner Stämme überwiegend die Jagd betreffen. Sie handeln von verschiedenen Beutetieren; sie rufen die Jagdwaffen und die Hunde an; sie beruhigen die Tiere, die sie getötet haben oder gleich töten werden; und sie huldigen dem Land, auf dem sie jagen. Sie erinnern und feiern erfolgreiche Jagdzüge der Vergangenheit. Sie ehren die Toten und bitten um die Gunst der Geister, die ihre Geschicke lenken.

Es ist ganz selbstverständlich, dass die Gesänge und Tänze zeitgenössischer Jäger- und Sammlervölker sowohl auf individueller als auch auf Gruppenebene wirken. Sie einen die Stammesmitglieder, schaffen gemeinsames Wissen und eine gemeinsame Zielsetzung. Sie schüren die Bereitschaft zu leidenschaftlichem Einsatz. Sie nutzen Mnemotechniken, stimulieren und fördern die Erinnerung an Informationen, die dem Stamm insgesamt nützlich sind. Und nicht zuletzt verleiht die Kenntnis der Lieder und Tänze denjenigen Stammesmitgliedern Macht, die sie am besten beherrschen.[75]

Musik zu ersinnen und zu praktizieren, ist ein menschlicher Instinkt und eine der echten Universalien unserer Spezies. Ein extremes Beispiel beschreibt der Neurowissenschaftler Aniruddh D. Patel mit dem kleinen Stamm der Pirahã im brasilianischen Amazonasgebiet: «Die Mitglieder dieser Kultur sprechen eine Sprache ohne Zahlen oder das Konzept des Zählens. Ihre Sprache kennt keine festen Begriffe für Farben. Sie haben keine Schöpfungsmythen, und sie zeichnen nichts als einfache Strichmännchen. Doch Musik haben sie jede Menge, Musik in Form von Liedern.»[76]

Patel bezeichnet die Musik als «transformative Technologie». Im gleichen Ausmaß wie Sprache und Schrift verändert sie die Weltsicht der Menschen. Das Erlernen eines Musikinstruments verändert sogar die Gehirnstruktur, von den subkortikalen Nervenbahnen, die Klangmuster verarbeiten, über die Nervenfasern, die die beiden Gehirnhälften verbinden, bis hin zu den Mustern, nach denen die Dichte der grauen Substanz in bestimmten Regionen des Zerebralkortex verteilt ist. Musik wirkt sich beträchtlich auf das menschliche Fühlen und auf die Interpretation von Ereignissen aus. Die neuronalen Schaltkreise, die sie nutzt, sind außerordentlich kompliziert; offenbar löst sie in mindestens sechs verschiedenen Gehirnmechanismen Emotionen aus.

In der mentalen Entwicklung ist Musik eng mit Sprache verbunden und leitet sich in gewisser Hinsicht offenbar von der Sprache ab. Die Unterscheidungsmuster für hohe und tiefe Tonlagen sind dieselben. Doch während der Spracherwerb bei Kindern schnell und weitgehend autonom abläuft, wird Musik langsamer erworben und benötigt Unterricht und Übung. Zudem existiert für den Spracherwerb ein deutliches Zeitfenster, in dem die Fertigkeiten schnell und leicht aufgenommen werden; für Musik ist eine solche sensible Phase nicht bekannt. Aber sowohl Sprache als auch Musik funktionieren syntaktisch, sind also aus einzelnen Elementen zusammengesetzt – Wörtern, Tönen und Akkorden. Von Menschen mit angeborener Amusie («Unmusikalität»; etwa 2 bis 4 Prozent der Bevölkerung) leiden etwa 30 Prozent gleichzeitig an einer Wahrnehmungsschwäche für Tonalitäten; dasselbe gilt für sprachliche Störungen.

Insgesamt ist zu vermuten, dass Musik in der menschlichen Evolution relativ spät aufkam. Es ist gut möglich, dass sie sich aus der Sprache heraus entwickelte. Diese Annahme rechtfertigt freilich nicht den Schluss, dass Musik lediglich eine kulturelle Weiterentwicklung der Sprache ist. Zumindest ein Merkmal teilt sie nicht mit der Sprache: das Metrum, das sich zudem noch vom Lied auf den Tanz übertragen lässt.

Es scheint plausibel anzunehmen, dass die neuronale Verarbeitung der Sprache als Präadaption für Musik diente und dass Musik, als sie einmal entstanden war, sich als so vorteilhaft erwies, dass sich eine eigene genetische Prädisposition dafür herausbildete. In diesem Bereich steht noch viel lohnenswerte Forschung aus; sie müsste Elemente aus Anthropologie, Psychologie, Neurowissenschaften und Evolutionsbiologie zu einer Synthese führen.

Die soziale Eroberung der Erde: Eine biologische Geschichte des Menschen
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