18.
DIE KRÄFTE DER SOZIALEN EVOLUTION

Auf welcher Ebene der biologischen Organisation die natürliche Selektion angreift, ist für die Evolution des Sozialverhaltens eine eminent wichtige Frage. Zielt sie auf Individuen, sodass diese veranlasst werden, ihre Nachkommen in Gruppen zu sammeln und altruistisch zu kooperieren, weil es von großem Vorteil ist, solchen Gruppen anzugehören? Oder erkennen Verwandte einander und bilden altruistische Gruppen, weil Verwandte dieselben Gene besitzen und diese Gene immer noch an die nächste Generation weitergeben können, selbst wenn sie das nicht über persönlichen Nachwuchs bewerkstelligen können? Oder bilden angeborene Altruisten Gruppen, die so kooperativ und gut organisiert sind, dass sie nichtaltruistische Gruppen ausstechen?

Nach den neuesten substanziellen Erkenntnissen weist die Antwort in Richtung der dritten Erklärung – also auf die Gruppenselektion. Warum das so ist, möchte ich wie in Kapitel 16 («Insekten machen den Riesensprung») wissenschaftlich und zugleich für ein breiteres Publikum verständlich erklären. Dieses Gebiet stand über Jahre hinweg im Zentrum meiner Forschung, und ein bestimmter Aspekt der Basistheorie ist in jüngster Zeit zum Gegenstand heißer Kontroversen geworden. Die folgende Darstellung lässt sich deshalb auch als wissenschaftlicher Frontbericht verstehen.

In den vier Jahrzehnten vor dem Wechsel zur Gruppenselektion war die Standarderklärung für die ultimaten Ursachen der Evolution fortgeschrittenen Sozialverhaltens die Theorie der Gesamtfitness oder der Verwandtenselektion. Die Gesamtfitness-Theorie geht davon aus, dass Verwandtschaft beim Aufkommen des Sozialverhaltens eine entscheidende Rolle spielt. Im Wesentlichen besagt sie, je mehr eng verwandte Individuen eine Gruppe enthält, desto wahrscheinlicher verhalten sie sich altruistisch und kooperativ, und desto wahrscheinlicher wird es demnach, dass sich Arten, die solche Gruppen bilden, zur Eusozialität entwickeln. Das klingt zunächst höchst plausibel. Warum sollten nicht sowohl Ameisen als auch Menschen Verwandte begünstigen und zur Gruppenbildung nach Stammbaumkriterien neigen?

Über vierzig Jahre lang wirkte sich die Gesamtfitness-Theorie sehr stark auf die Interpretation der genetischen Evolution sämtlicher Formen von Sozialverhalten aus. Besonders beliebt war sie als Erklärungsmodell für kollateralen Altruismus, den Fall also, dass Individuen ihren anteilsmäßigen Beitrag zur nächsten fortpflanzungsfähigen Generation zum Teil Gruppenmitgliedern überlassen, die nicht ihre persönlichen Nachkommen sind.

Gesamtfitness ist ein Produkt der Verwandtenselektion, mit dem ein Individuum die Fortpflanzung seiner kollateralen Verwandten (Geschwister und Cousins) beeinflusst. In streng biologischem Sinn ist das Individuum in seinem Einfluss dann altruistisch, wenn die kollateralen Verwandten genetische Fitness gewinnen und der Altruist genetische Fitness verliert. Die «Gesamtfitness» des Individuums ist seine persönliche Fitness, also die Zahl seiner persönlichen Nachkommen, die heranwachsen und selbst Nachkommen haben, plus die Auswirkung, die seine Handlungen auf die Fitness seiner kollateralen Verwandten (Geschwister, Tanten, Onkel und Cousins) haben. Steigt die Gesamtfitness des Individuums und die (gleichwohl geringere) Fitness seiner Gruppe insgesamt an, so vermehrt sich laut dieser Theorie das Altruismusgen auch in der gesamten Art. Die Vorstellung der Verwandtenselektion war für Forscher und Öffentlichkeit von Anfang an verlockend – ihnen gefiel daran, dass sie so einfach wirkte und zugleich eine Bestätigung dafür zu liefern schien, wie wichtig Altruismus im sozialen Leben ist.

Die Vorstellung von der Verwandtenselektion wurde zwar zuerst 1955 von dem britischen Biologen J. B. S. Haldane entwickelt, zur vollen Theorie arbeitete sie aber erst 1964 sein jüngerer Landsmann William D. Hamilton aus.[25] Die Grundformel, die gleichsam zum «e = mc2 der Soziobiologie» wurde, formulierte Hamilton mit der Ungleichung rb > c: Ein Allel, das Altruismus bewirkt, vermehrt sich in einer Population, wenn der Nutzen b (englisch benefit) für den Empfänger des Altruisten, multipliziert mit dem Verwandtschaftsgrad r (englisch relatedness), zum Altruisten größer ausfällt als die Kosten c (englisch costs) für den Altruisten. Der Parameter r stellte laut Haldane und Hamilton ursprünglich den Anteil von Genen dar, der dem Altruisten und dem Empfänger des Altruismus aufgrund der gemeinsamen Abkunft gemeinsam ist. So entsteht etwa Altruismus, wenn der Nutzen für einen Bruder oder eine Schwester doppelt so hoch ausfällt wie die Kosten für den Altruisten (r = 1/2) oder der Nutzen für einen Cousin ersten Grades achtmal so hoch (r = 1/8). Um es in einem platten Beispiel auszudrücken: Sie fördern Ihr altruistisches Gen, wenn Sie selbst aus Altruismus keine Kinder haben, Ihre Schwester aber dank Ihres Altruismus ihr gegenüber mehr als doppelt so viele Kinder hat wie ohne Ihren Altruismus.

Niemand hat die Vorstellung der Verwandtenselektion klarer formuliert als Haldane selbst in seiner ursprünglichen Darstellung:

Nehmen wir an, Sie wären Träger eines seltenen Gens, das Ihr Verhalten dergestalt beeinflusst, dass Sie in einen reißenden Fluss springen, um ein Kind zu retten – allerdings bei einer Wahrscheinlichkeit von 1:10, dabei selbst zu ertrinken. Ich hingegen hätte das Gen nicht und würde am Ufer stehen bleiben und zusehen, wie das Kind ertrinkt. Handelt es sich bei dem Kind um Ihr eigenes, um Ihren Bruder oder Ihre Schwester, dann besteht eine 50-prozentige Wahrscheinlichkeit, dass es dieses Gen ebenfalls besitzt. Also beträgt die Wahrscheinlichkeit der Rettung eines solchen Gens gegenüber derjenigen, dass es verloren geht, 5:1. Bei der Rettung eines Enkels oder Neffen beträgt der Vorteil nur 2,5:1. Ist das gerettete Kind nur ein Cousin ersten Grades, so wirkt sich dies nur noch geringfügig aus. Riskieren Sie Ihr Leben, um einen Großcousin zu retten, dann ist es wahrscheinlicher, dass der Population dieses wertvolle Gen verloren geht, als dass es erhalten bleibt. Als ich selbst zweimal in die Lage geriet, Menschen vor dem Ertrinken zu retten (mit einem äußerst geringfügigen Risiko für mich selbst), blieb mir jedoch keine Zeit, derartige Berechnungen anzustellen. Auch die Menschen in der Steinzeit taten dies nicht. Mit Sicherheit hätten Gene, die für ein derartiges Handeln verantwortlich sind, nur in ziemlich kleinen Populationen eine Chance, sich auszubreiten – in Populationen, in denen die meisten Kinder recht nahe mit demjenigen verwandt sind, der sein Leben riskiert. Abgesehen von ganz kleinen Populationen kann man sich nicht so leicht vorstellen, wie sich solche Gene hätten durchsetzen können. In einer Gemeinschaft wie der eines Bienenstocks oder eines Ameisennestes wären die Voraussetzungen dafür natürlich noch besser, denn alle Mitglieder sind im wahrsten Sinne des Wortes Brüder und Schwestern.[26]

Als ich ein Jahr nach der Veröffentlichung von Hamiltons Aufsatz 1964 zum ersten Mal mit der Theorie der Verwandtenselektion konfrontiert wurde, war ich zunächst skeptisch. Die Vielfalt sozialer Organisationsformen in Insektengesellschaften war so enorm und unser Wissen darüber, wie sie sich überhaupt entwickelt hatten, damals so spärlich, dass ich meine Zweifel hatte, diese ganze Komplexität könne sich in eine derart simple Formel fassen lassen wie in Hamiltons Ungleichung. Außerdem schien es mir kaum denkbar, dass ein Neuling in diesem Bereich, noch dazu im (für einen Evolutionsbiologen) jungen Alter von 28 Jahren, einen revolutionär neuen Ansatz präsentieren konnte. (Bei dieser emotionalen Reaktion übersah ich groß zügig mein eigenes relativ zartes Alter von 35.) Doch nach genauer Prüfung änderte ich meine Meinung. Bestechend fand ich die Originalität und das große Erklärungspotenzial der Verwandtenselektion. 1965 verteidigte ich an der Seite von Bill Hamilton die Theorie vor einem überwiegend ablehnenden Publikum in der Londoner Royal Entomological Society.

Hamilton war damals überzeugt von der Stichhaltigkeit seiner Arbeit, aber trotzdem deprimiert: Sein Artikel zur Verwandtenselektion war als Doktorarbeit abgelehnt worden. Auf langen Spaziergängen durch London versuchte ich ihn aufzumuntern. Ich versicherte ihm, dass die Arbeit, wenn er sie noch einmal einreichte, bestimmt durchkäme und dass sie in unserem Fachbereich eine bedeutende Wirkung entfalten würde. In beiden Punkten behielt ich recht. Ich ging zurück nach Harvard, und später räumte ich der Verwandtenselektion und der Gesamtfitness einen bedeutenden Platz in meinen Veröffentlichungen ein (The Insect Societies, 1971, Sociobiology: The new synthesis, 1975, und Biologie als Schicksal, 1978). Diese drei Bücher strukturierten die Kenntnisse im Sozialverhalten zu der neuen, auf der Populationsbiologie aufbauenden Disziplin, die ich Soziobiologie nannte und aus der später die Evolutionspsychologie hervorgehen sollte. Allerdings inspirierte mich in den 1960er und 1970er Jahren nicht Hamiltons Ungleichung selbst in ihrer abstrakten Form. Vielmehr war es ein brillanter Vorschlag von Hamilton, später als Haplodiploidie-Hypothese bezeichnet, der seiner Formel ursprünglich ihre Anziehungskraft verlieh. Als Haplodiploidie bezeichnet man den Mechanismus der Geschlechtsdeterminierung, nach dem befruchtete Eier sich zu Weibchen und unbefruchtete Eier zu Männchen entwickeln. Demnach sind Schwestern untereinander enger verwandt (r = 3/4, das heißt, drei Viertel ihrer Gene sind wegen der gemeinsamen Abstammung identisch) als Töchter mit ihren Müttern (r = 1/2, die Hälfte der Gene sind wegen der gemeinsamen Abstammung identisch). Nun wird bei den Hautflüglern – also bei der Ordnung der Hymenoptera, der Ameisen, Bienen und Wespen angehören – das Geschlecht durch Haplodiploidie bestimmt. Daher wäre zu erwarten, so Hamilton, dass Kolonien altruistischer Schwestern sich in dieser Ordnung häufiger entwickeln als in anderen taxonomischen Ordnungen, deren Geschlecht konventionell diplodiploid bestimmt wird.

Fast alle in den 1960er und 1970er Jahren bekannten eusozialen Arten gehörten zu den Hautflüglern. Das schien die Haplodiploidie-Hypothese mit Macht zu untermauern. Die Annahme, Haplodiploidie und Eusozialität seien ursächlich miteinander verbunden, wurde in der allgemeinen und der Lehrbuchliteratur der 1970er und 1980er Jahre Standard. Das Konzept folgte scheinbar Newton’schen Prämissen, es führte in logischen Schritten von einem einzelnen biologischen Prinzip zu einer bedeutenden evolutionären Auswirkung, nämlich dem Auftretensmuster der Eusozialität. Es machte eine übergreifende Struktur der soziobiologischen Theorie glaubwürdig, die auf der angenommenen Schlüsselstellung der Verwandtschaft beruhte.

In den 1990er Jahren allerdings begann die Haplodiploidie-Hypothese zu bröckeln. Termiten hatten in dieses Erklärungsmodell noch nie hineingepasst. Dann wurden immer mehr eusoziale Arten entdeckt, bei denen das Geschlecht diplodiploid bestimmt wird und nicht haplodiploid, darunter eine Art Platypus-Kernkäfer, mehrere unabhängig entstandene Linien in Schwämmen wohnender Knallkrebsarten der Gattung Synalpheus sowie zwei unabhängig entstandene Linien Nacktmulle aus der Familie der Bathyergidae. Damit sank die Assoziation von Haplodiploidie und Eusozialität unter die Grenze statistischer Bedeutsamkeit. Und als Folge daraus wird die Haplodiploidie-Hypothese heute von den meisten Experten sozialer Insekten verworfen.

Inzwischen mehren sich die Belege gegen die Grundannahmen der Verwandtenselektion und der Gesamtfitness-Theorie.[27] Dazu gehört zunächst ganz einfach die Seltenheit der Eusozialität, obwohl die angenommene Prädisposition dazu in der Geschichte des Tierreichs immer reichlich vorhanden war. Es gibt sehr viele unabhängig voneinander entstandene Arten, die sich haplodiploid oder per Parthenogenese fortpflanzen; bei Letzterer besteht der höchste mögliche Grad der genetischen Verwandtschaft (r = 1), und doch kennen wir dort keinen einzigen Fall von Eusozialität.

Außerdem wissen wir inzwischen von der Existenz kompensierender Selektionskräfte, nach denen enge Verwandtschaft der Evolution des Altruismus tendenziell entgegenwirkt. So wird etwa größere genetische Variabilität von der Gruppenselektion gefördert, wie an den Ameisenarten Pogonomyrmex occidentalis und Acromyrmex echinatior nachgewiesen wurde, weil sie zumindest im zweiten Fall die Resistenz gegen Krankheiten erhöht.[28] Weiterhin zeigt sich, dass die genetische Variabilität als Prädisposition für Unterkasten von Arbeiterinnen bei Pogonomyrmex badius die Arbeitsteilung schärfen und damit die Koloniefitness erhöhen könnte – wobei Letzteres noch nicht im Versuch nachgewiesen wurde.[29] Außerdem wurde bei Honigbienen und Formica-Ameisen eine zunehmende Temperaturstabilität in Nestern mit genetischer Vielfalt nachgewiesen.[30] Weitere Faktoren, die wohl dem Vorteil eines hohen Verwandtschaftsgrads entgegenwirken, sind die spalterische Wirkung in nepotistischen Kolonien sowie die insgesamt negativen Auswirkungen der Inzucht, die gleichwohl die genetische Verwandtschaft unter Koloniemitgliedern maximieren könnte.

Die meisten Gegenkräfte entwickeln sich unter dem Einfluss der Gruppenselektion oder, um es für die eusozialen Insekten genauer zu benennen, der Selektion zwischen Kolonien. Wie gesagt, ist diese Selektionsebene die nächsthöhere über der Individualselektion. Sie wirkt an genetisch bedingten Merkmalen, die im Zusammenspiel von Gruppenmitgliedern entstanden sind, insbesondere Kastendetermination, Arbeitsteilung, Kommunikation und gemeinsamem Nestbau. Die Gruppe ist dabei ausreichend abgegrenzt, um sich als Einheit zu reproduzieren und insofern mit solitären Individuen und anderen Gruppen derselben Art im Wettbewerb zu stehen.

Vielleicht sieht es so aus, als ließen sich zumindest theoretisch die verschiedenen Gegenkräfte der eusozialen Evolution unter b, dem Nutzen jedes Merkmals für die individuelle Fitness, und unter c, den Kosten dafür, fassen, so dass wir Hamiltons Ungleichung beibehalten könnten. In der Praxis aber müssten wir dann die Gesamtfitness vollständig berechnen und b und c genau messen. Das wiederum würde extrem schwierige Feld- und Laborstudien erfordern. So etwas wurde noch nirgends abgeschlossen und nach meiner Kenntnis auch nie unternommen. Außerdem bestehen mathematische Schwierigkeiten bei der Definition von r, dem genetischen Verwandtschaftsgrad. Wegen dieser Schwierigkeiten erweist sich die so oft wiederholte Behauptung als fehlerhaft, Gruppenselektion sei dasselbe wie Verwandtenselektion per Gesamtfitness.

Die meisten Autoren in diesem Bereich, einschließlich des weltweit viel gelesenen Richard Dawkins, halten noch an ihrer Meinung fest; ich aber hegte seit Anfang der 1990er Jahre Zweifel.[31] Ich fand es an der Zeit zu fragen: Was hatte die Gesamtfitness-Theorie in den dreißig Jahren, in denen sie als Paradigma der genetischen Sozialevolution vorgeherrscht hatte, zur Erklärung von Altruismus und auf Altruismus beruhenden Gesellschaften bewirkt? Sie veranlasste Messungen von Verwandtschaftskoeffizienten und etablierte diese in der Soziobiologie. Diese Messungen haben einen Wert an sich. Die Theorie wurde zur Prognose einiger Fälle genutzt, in denen die Geschlechterverteilung verzerrt wird, weil Ameisenkolonien in neue fortpflanzungsfähige Tiere investieren;[32] die Belege sind durchwegs solide, wenngleich sie großteils auf Ungleichungen statt auf genau passenden Angaben beruhen. (Die Schlussfolgerung daraus ist aber, wie ich kurz darlegen werde, fehlerhaft.) Die Theorie der Verwandtenselektion führte auch zu der richtigen Prognose der Auswirkungen, die hohe Verwandtschaftsgrade auf Dominanz- und Kontrollverhalten haben.[33] Bienen und Wespen, die enger verwandt sind, kämpfen erwiesenermaßen weniger gegeneinander als weniger eng verwandte Bienen und Wespen. Wieder aber ist die Schlussfolgerung, die Datenlage erweise den Verwandtschaftsgrad als entscheidenden Faktor dafür, nicht die einzig mögliche Interpretation. Und schließlich wurde die Gesamtfitness-Theorie für die Prognose genutzt, Königinnen primitiv eusozialer Bienenarten würden sich nur einmal paaren.[34] Hier aber fehlen bei der Beweisführung solitäre Bienenarten als Kontrollart, es lässt sich also aus dieser Studie überhaupt keine Schlussfolgerung ziehen.[35]

Die Ergebnisse eines so langen Zeitraums intensiver theoretischer Forschung müssen in jeder Beziehung als dürftig gelten. Im selben Zeitraum war dagegen die empirische Forschung an eusozialen Organismen, insbesondere an Insekten, äußerst fruchtbar und legte die vielfältigen Details des Kastensystems, der Kommunikation, der Lebenszyklen und anderer Phänomene offen, und das sowohl auf der Ebene der Individual- wie der Gruppenselektion. Fast keiner dieser Fortschritte wurde von der Gesamtfitness-Theorie unterstützt oder vorangebracht, die in hohem Maße ein abstraktes Eigenleben entwickelt hatte.[36]

Dass die Theorie als inadäquat gelten muss, liegt zum Großteil daran, dass r, also der Begriff des Verwandtheitsgrads oder -koeffizienten selbst, in den verschiedenen Interpretationen von Hamiltons Ungleichungen so ungenau definiert wird. In ihrem ursprünglichen Ansatz bestimmten die Theoretiker der Gesamtfitness r als genetischen Verwandtschaftsgrad, also die Nähe der Gruppenmitglieder im Stammbaum. So sind sich etwa Geschwister dort näher als Cousins ersten Grades. Diese absolut logische Definition betrifft den durchschnittlichen Anteil von Genen, die zwei Individuen aufgrund der gemeinsamen Abstammung gemeinsam haben. Bald aber wurde klar, dass diese Definition des Verwandtschaftsgrads in den meisten realen und theoretischen Anwendungen von Hamiltons Gleichung nicht funktionierte. Deshalb wurden je nach den Bedürfnissen des zu entwerfenden Modells jeweils unterschiedliche Definitionen verwendet; und das auch bei den Modellen, die Verwandtenmodelle mit Modellen der natürlichen Multilevel-Selektion gleichsetzen sollten.[37] Unter bestimmten Umständen konnte Verwandtschaft auch den gemeinsamen Besitz eines einzigen Allels bedeuten, egal ob das auf genetische Verwandtschaft zurückzuführen war oder nicht – oder sogar auf unabhängig voneinander erfolgte Mutationen.[38]

Kurz, irgendwann bestand offenbar die einzige Gemeinsamkeit darin, dass r, ursprünglich der genetische Verwandtschaftsgrad, ebendas darstellte, was Hamiltons Ungleichung funktionieren lässt. Dabei ging der Ungleichung selbst der Sinn eines theoretischen Konzepts verloren, und sie wurde als Werkzeug zur Einrichtung von Versuchen oder zur komparativen Datenanalyse im Grunde unbrauchbar. In einem einfachen Modell zeichenbasierter Kooperation zum Beispiel werden zur Berechnung von r Dreierbeziehungen verwendet. Aus einer Gruppe müssen per Zufall drei Individuen ausgewählt werden, einer davon ist der Kooperator, die beiden anderen sind Träger desselben phänotypischen Zeichens, etwa desselben Aussehens oder Verhaltens (metaphorisch ist hier häufig vom «Greenbeard-Effekt» die Rede). Die meisten Biologen, die die Gesamtfitness-Theorie nur aus der Ferne kannten, waren überrascht zu hören, dass es bei der tatsächlichen Berechnung der Messungen keinen einheitlichen biologischen Begriff für den Parameter des «Verwandtschaftsgrads» gab.

Es wurden viele Modelle vorgeschlagen, die im Grunde einen Ansatz aus natürlicher Selektion und Spieltheorie verfolgen und dabei von der Annahme ausgehen, Reproduktion sei proportional zum Erfolg im Spiel. Nachweislich ist die natürliche Selektion normalerweise, zumindest in gewissem Ausmaß, eine Multilevel-Selektion: Ihre Konsequenzen auf der Ebene des primären Zielmerkmals wirken sich nach oben und unten auch auf andere Ebenen der biologischen Organisation aus, und das vom Molekül bis zur Population. Viele der Modelle, die natürliche Selektion und Spieltheorie verbinden, ließen sich in den Begriffen der Verwandtenselektion umformulieren, und das ist auch geschehen. Noch einmal: Dieser Ansatz betrachtet nicht die direkte Fitness des Individuums, sondern nimmt mit hinein, wie sich die Handlungen des Einzelnen auf ihn selbst und auf alle Individuen in der Gruppe auswirken, und zwar gewichtet nach dem Grad der «Verwandtschaft» zwischen Handelndem und dem jeweiligen Adressaten der Handlung.

Es lässt sich nachweisen, dass dieses Problem der unterschiedlichen Berechnungen sehr leicht lösbar ist. Wir betrachten eine allgemeine Aussage zur dynamischen genetischen Selektion und versuchen sie auf beide Weisen zu interpretieren. Dabei stellt sich heraus, dass die Interpretation über die klassische natürliche Selektion in allen Fällen anwendbar ist, die Interpretation über die Verwandtenselektion dagegen zwar in sehr seltenen Fällen möglich ist, sich aber nicht so verallgemeinern lässt, dass alle Situationen abgedeckt werden, ohne das Konzept des «Verwandtschaftsgrades» bis zur Bedeutungslosigkeit überzustrapazieren.

Eine vollständigere Grundlagenanalyse hat gezeigt, dass Hamiltons Ungleichung es nur unter äußerst strengen Bedingungen möglich macht, dass Kooperatoren in einer Gruppe mehr werden als Randerscheinungen. Zudem beschreibt sie nicht die fundamentale Evolutionsdynamik, in der die Bedingungen für eine stabile Verteilung während der Evolution entstehen.[39]

Um die Grenzen der Verwandtenselektion in realen Populationen richtig zu bewerten, benötigen wir dringend das Konzept der schwachen Selektion.[40] Das Spiel zwischen den konkurrierenden Genotypen impliziert einerseits Selektion, die sich aus verwandtschaftsbedingten Reaktionen ergeben könnte, andererseits Selektion, die an jedem anderen erblichen Unterschied zwischen Individuen greift, also an allen Individuen und allem, was dem Individuum zustößt und wie es sein Leben lang reagiert. Sind zwei Individuen miteinander sehr eng verwandt, so können sie durchaus der Verwandtenselektion unterliegen – vorausgesetzt, sie existiert überhaupt; doch diese Nähe vermindert dann die Variabilität im übrigen Genom der Individuen, verteilt die Selektionskraft auf die tatsächlich vorhandene Variabilität und reduziert damit den überhaupt möglichen Spielraum der dynamischen Evolution. Unter bestimmten Annahmen sind im Fall der schwachen Selektion der Ansatz der Gesamtfitness und die Multilevel-Selektion identisch. Verlässt man dagegen den Bereich der schwachen Selektion oder sind die Annahmen nicht erfüllt, so lässt sich der Ansatz der Verwandtenselektion nicht weiter verallgemeinern, ohne ihn so breitzutreten und zu abstrahieren, dass er seine ganze Bedeutung verliert. So gesehen stellt sich vernünftigerweise folgende Frage: Wenn es eine allgemeine Theorie gibt, die für alle Fälle funktioniert (natürliche Multilevel-Selektion), und eine Theorie, die nur für bestimmte Fälle funktioniert (Verwandtenselektion), und wenn in den wenigen Fällen, in denen die zweite Theorie funktioniert, diese mit der allgemeinen Theorie der Multilevel-Selektion übereinstimmt – warum behalten wir dann nicht einfach überall die allgemeine Theorie bei?

Schlimmer noch: Der Glaube an die vermeintliche Schlüsselrolle der Verwandtschaft bei der sozialen Evolution hat uns dazu geführt, dass die normale Reihenfolge biologischer Forschung umgekehrt wurde. In der Evolutionstheorie wie in den meisten Naturwissenschaften ist es erwiesenermaßen die beste Methode, ein Problem zu definieren, das sich aus der empirischen Forschung ergibt, und dann die geeignete Theorie zu seiner Lösung auszuarbeiten. Bei der Gesamtfitness-Theorie ist fast die gesamte Forschung umgekehrt verlaufen: Erst wurde hypothetisch die zentrale Rolle der Verwandtschaft und der Verwandtenselektion festgelegt, dann wurde nach Beweisen gesucht, die diese Hypothese belegen sollten.

Die größte Schwäche dieses Ansatzes besteht darin zu verhindern, mehrere konkurrierende Hypothesen in Betracht zu ziehen. Untersucht man die biologischen Details bestimmter Einzelfälle, bevor man die Gesamtfitness-Theorie darauf anwendet, so geraten solche alternativen Sichtweisen schnell ins Blickfeld. Selbst bei den am sorgfältigsten analysierten Fällen, die als Belege für die Verwandtenselektion gelten, kommen – ausgehend von der klassischen Theorie der natürlichen Selektion – leicht Erklärungen in Betracht, die mindestens genauso valide sind. Sie beruhen auf direkter individueller oder auf Gruppenselektion oder auf beidem. Verwandtenselektion tritt vielleicht hinzu, aber kein Fall lässt den zwingenden Schluss zu, dass sie die treibende Kraft der Evolution war.

Ein klassisches Beispiel zum Beweis dafür, dass wir mehrere konkurrierende Hypothesen brauchen, liefern biologische Biofilme und die stielbildenden zellulären Schleimpilze. Frei lebende einzellige Organismen bilden entweder Schichten (etwa Bakterien) oder werden von anderen Individuen desselben genetischen Stammes angezogen und bilden dichte Aggregationen (Schleimpilze). Viele nehmen dann Positionen ein, die ihre eigene Reproduktion mindern oder ganz opfern – und das eindeutig zugunsten der Gruppe. Die Theoretiker der Gesamtfitness postulieren, hinter diesem Altruismus stehe die Verwandtenselektion. Dabei lautet doch ganz offenbar die geradlinigere und verständlichere Erklärung, dass hier Gruppenselektion die «egoistische» Individualselektion aussticht.[41]

Eine ähnliche Wechselwirkung zwischen den Kräften der Multilevel-Selektion wird sichtbar, wenn man eingehend untersucht, wie häufig eusoziale Ameisen, Bienen und Wespen sich paaren. Eine Forschungsgruppe aus Gesamtfitness-Theoretikern stellte fest, dass Arten mit relativ geringer sozialer Organisation sich mit nur einem Männchen paaren und demnach eng verwandte Nachkommen produzieren. Die Autoren stellen ihre Daten als korrelativen Beleg für die Verwandtenselektion dar.[42] Allerdings wurden keine Vergleichsdaten von solitären Arten erhoben, die mit den eusozialen Beispielen eng verwandt sind; mithin gab es keine stabilen Anhaltspunkte für die Schlussfolgerung, dass Einfachpaarung das Aufkommen von eusozialem Verhalten fördert. Eigentlich ist es logisch anzunehmen, dass auch Königinnen solitärer Arten sich mit nur einem Männchen paaren, und zwar aufgrund eines Umstands, der mit der Verwandtenselektion nichts zu tun hat: Längere Paarungsflüge erhöhen für junge Weibchen die Bedrohung durch Fressfeinde. Umgekehrt wiesen viele Gesamtfitness-Forscher darauf hin, dass die Königinnen vieler Hautflüglerarten mit fortgeschrittener Kolonie-Organisation sich mehrmals paaren. Sie schlossen daraus, dass die Verwandtenselektion in späteren Evolutionsstadien gelockert wird. Obwohl das aus ihren eigenen Daten hervorging, übersahen sie aber, dass sich die Paarung mit mehreren Männchen so gut wie vollständig auf Arten mit außerordentlich großen Arbeiterpopulationen beschränkt. Hier ist es doch plausibler, dass die treibende Kraft die Gruppenselektion ist, die die Speicherung von Spermien oder die Resistenz gegen die Bedrohung von Krankheitserregern in großen Nestern oder auch beides begünstigt.[43]

Ein weiterer Typ von Erklärungen für das Aufkommen fortgeschrittenen Sozialverhaltens, der sich aus der Beurteilung von Einzelfällen im Licht der natürlichen Selektionstheorie ergibt, ist die Diskordanz von Gruppenmitgliedern als Evolutionsfaktor für Physiologie und Verhalten. Je entfernter die Mitglieder verwandt sind, desto geringer wird die Wahrscheinlichkeit, dass sie effizient kommunizieren, auf dieselben Umweltreize reagieren und ihre Aktivitäten präzise koordinieren. Eine genetisch sehr variable Gruppe neigt zu weniger Harmonie und damit zur Aussonderung durch die Gruppenselektion. Dasselbe Prinzip gilt bis zum Extrem für den geläufigen Fall von Krebszellen in einem Organismus sowie, auf einer anderen biologischen Organisationsebene, für die genetischen Isolationsmechanismen, die einzelne Arten in zwei oder mehr Tochterarten teilen. Auch die Wechselwirkung von Individual- und Gruppenselektion bei Gesellschaften von Mikroorganismen lässt sich als Abschaltung der Diskordanz zwischen den teilnehmenden Zellen verstehen. Bei dieser Interpretation, einer Alternative zur Sichtweise der Gesamtfitness, sind erfolgreich kooperierende Zellen plastische Varianten desselben Genotyps, und die Koloniebildung ist ein Ergebnis der Gruppenselektion, die gegen die Diskordanz mutierter Phänotypen wirkt.

Dasselbe Grundargument gilt auch für die Rolle, die die Ernährung für die Steuerung der Königin-Produktion bei den Honigbienen spielt: Hier füttern die Arbeiterinnen die Larven mit besonderer Nahrung, dem Gelée Royale, so dass sie zu Königinnen heranreifen. Relevant ist es generell in Insektengesellschaften auch für die Einschränkung und Überwachung der Reproduktionskontrolle von Arbeiterinnen. Beide Phänomentypen wurden zeitweise in der Sprache der Verwandtenselektion und ihrem Produkt, der Gesamtfitness, formuliert, aber die Diskordanzreduktion durch Gruppenselektion und ohne Verwandtenselektion ist mindestens genauso plausibel.[44]

Als Stütze für die Gesamtfitness-Theorie diente lange die Erklärung, wie und warum Ameisenkolonien die Menge der Nahrung steuern, die sie in die Produktion von fortpflanzungsfähigen Weibchen bzw. von Männchen investieren. Hatte die Mutter sich einmalig gepaart, so sollte sie theoretisch ein Verhältnis von einem Männchen zu einem Weibchen anstreben, da sie mit ihren Töchtern, den Jungköniginnen, und ihren Söhnen, den reproduktiven Männchen, im gleichen Ausmaß verwandt ist (die Hälfte der Gruppe hat durch gemeinsame Abstammung Gene gemeinsam). Robert L. Trivers und Hope Hare argumentierten nun 1976,[45] und Gesamtfitness-Theoretiker arbeiteten ihre These an Ameisenarten ausführlich aus, dass Arbeiterinnen dagegen mehr in fortpflanzungsfähige Weibchen (ihre Schwestern) investieren dürften, da sie wegen der gemeinsamen Abstammung und der haplodiploiden Geschlechtsbestimmung drei Viertel ihrer Gene teilen. Mit den Männchen, ihren Brüdern, dagegen teilen sie nur ein Viertel ihrer Gene. Daher, so das Argument, stehen die Königin (Mutter) und ihre Arbeiterinnen (Töchter) im Konflikt um das Geschlechterverhältnis des fortpflanzungsfähigen Nachwuchses in der Kolonie. Tatsächlich zeigen viele Studien, dass das von der Königin angestrebte Verhältnis zugunsten der Produktion von Königinnen verzerrt wird. Damit haben scheinbar die Arbeiterinnen den Konflikt gewonnen, und die Gesamtfitness-Theorie ist bestätigt.

Der Ansatz der Gesamtfitness-Theorie über die Bestimmung des Geschlechterverhältnisses bei fortpflanzungsfähigen Ameisen ist eines der am ausführlichsten behandelten und dokumentierten Theoriegebiete der Evolutionsbiologie. Allerdings geht er von zwei Prämissen aus, nämlich dass genetische Verwandtschaft ein primärer Bestimmungsfaktor für das Geschlechterverhältnis ist und dass folglich Gruppen innerhalb der Kolonie, die auf Gruppenebene unterschiedliche Verwandtschaftskoeffizienten aufweisen, miteinander in Konflikt stehen. Was aber, wenn eine oder beide dieser Prämissen nicht zutreffen? Denn ganz ohne Verwandtenselektion bietet die elementare Theorie der natürlichen Selektion eine einfachere und direktere Erklärung. Ziel der gesamten Kolonie ist es, so viele künftige Eltern wie möglich in die nächste Generation zu bringen. Bei Ameisen sind Männchen generell und häufig sogar erheblich kleiner und leichter als Jungköniginnen, weil diese bedeutende Fettreserven bei sich tragen müssen, um neue Kolonien gründen zu können. Männchen verursachen bei ihrer Aufzucht geringere Kosten, und wenn das Verhältnis der Energieinvestition 1:1 betrüge, so stünden zur Paarung mehr Männchen als Weibchen zur Verfügung. Üblicherweise haben die jungen fortpflanzungsfähigen Tiere nur eine einzige Gelegenheit zur Paarung, so dass im Durchschnitt die Produktion zu vieler Männchen für die Kolonie Verschwendung wäre. Nur wenn die Kolonie wüsste, dass in anderen Kolonien die Produktionsverhältnisse gestört wären oder wenn die Sterblichkeit von Männchen beim Hochzeitsflug höher wäre, könnte sie sich anders entscheiden. Demnach steht es im Interesse sowohl der Königin-Mutter als auch ihrer Töchter, die Energieinvestition zugunsten der Jungköniginnen zu verlagern. Diese Erklärung kommt ganz ohne die Annahmen der Verwandtenselektion aus und bietet unter Hinzunahme der Selektion auf Kolonie-Ebene eine datenkonformere Erklärung als die Gesamtfitness-Theorie. Bei Arten mit mehreren Königin-Müttern sowie bei Sklavenhalter-Kolonien brauchen Jungköniginnen üblicherweise keine so umfangreichen Körperreserven, wie sie zur selbständigen Gründung von Kolonien notwendig sind; im Einklang mit den empirischen Beobachtungen liegt damit das ideale Verhältnis erwartungsgemäß näher bei 1:1. Diese Tendenzen stimmen auch mit der Datenlage überein. Weitere Verschiebungen des Geschlechterverhältnisses beruhen offenbar auf dem Selektionsdruck der jeweiligen Umweltbedingungen, wenn die Kolonien entweder ihre Jungköniginnen und Männchen zum Hochzeitsflug aussenden oder sie bis zur Paarung zu Hause behalten.[46]

In einer ganz anderen Situation hat eine ähnlich akribische Forschungsanalyse erwiesen, dass bei der periodisch subsozialen Röhrenspinne Stegodyphus lineatus Gruppen von Jungspinnen, die Geschwister sind, einer gemeinsamen Beute mehr Nährstoffe entziehen als Gruppen von Jungspinnen mit künstlich gemischten Eltern.[47] Weil die Forscher glauben, dass Jungspinnen sich bei der Injektion von Verdauungsenzymen zurückhalten, um deren Nutzung durch Fremde zu vermeiden, akzeptieren sie die Hypothese der Verwandtenselektion. Doch schon eine schnelle Berechnung zeigt, dass ein solches Verhalten auch den durchschnittlichen Erfolg für jedes Einzeltier reduzieren würde, auch für diejenigen, die ihre Verdauungsenzyme zurückhalten. Die insgesamt niedrigere Aufnahme von Nährstoffen ließe sich leichter damit erklären, dass zwischen nicht verwandten Jungspinnen eine Merkmalsdiskordanz besteht oder dass sie in offenem Konflikt zueinander stehen.

Die Annahme der Vererbung ist ein dritter Prozess, der zu scheinbar verwandtschaftsbedingtem Altruismus führen kann, sich aber einfacher und realistischer als direktes Ergebnis der Individualselektion erklären lässt. Bei einem kleinen Anteil von Vogel- und Säugetierarten bleiben die Nachkommen im Nest ihrer Geburt und helfen ihren Eltern bei der Aufzucht der weiteren Brut. Damit verschieben sie ihre eigene Reproduktion und steigern noch die Reproduktion ihrer Eltern. Gesamtfitness-Forscher schreiben dieses Phänomen der Verwandtenselektion zu und stützen ihre Argumentation mit dem Hinweis auf eine positive, artenübergreifende Korrelation zwischen Verwandtschaftsgrad und dem Umfang der am Nest den Eltern geleisteten Hilfe.[48] Genauere, ältere Studien mit einem breiten Spektrum historischer Lebensdaten verschiedener Arten hatten jedoch bereits zu einer anderen Erklärung gefunden: nämlich derjenigen einer Multilevel-Selektion mit starkem Gewicht auf der Individualselektion.[49] Unter bestimmten Umständen, die nicht mit der Verwandtenselektion in Zusammenhang stehen, wird das Verbleiben erwachsener Jungtiere im Geburtsnest begünstigt. Solche Umstände können etwa eine ungewöhnliche Einschränkung von Nistplätzen, Territorien oder beidem sein, alternativ auch eine geringe Erwachsenensterblichkeit oder relativ unveränderte Bedingungen innerhalb einer stabilen Umwelt. Nach dem längeren Aufenthalt erben die Helfer nach dem Tod der Eltern das Nest oder das Territorium. Die positive artenübergreifende Korrelation zwischen Verwandtschaft und Helferverhalten, von dem die Gesamtfitness-Forscher berichten, beruht auf nur wenigen Messwerten und lässt sich logisch dadurch erklären, dass einige Arten gemeinhin eine «Fluktuationsstrategie» verfolgen, bei der Individuen von Nest zu Nest wandern und den Umfang ihrer Hilfe verteilen. Je stärker sie fluktuieren, desto weniger sind sie durchschnittlich verwandt und desto weniger Hilfe steuern sie zu jedem Nest bei.

Ich selbst konnte das Helfer-Phänomen am Kokardenspecht untersuchen, als ich mich bei einem Besuch im westlichen Florida mit Forschern über eine Population austauschte, deren individuelle Lebensgeschichten in freier Natur über Markierungen verfolgt worden waren. Der Kokardenspecht ist weltweit die einzige Spechtart, so erfuhr ich, die ihr Nest in die Stämme lebender Bäume schlägt. Ein junges Männchen braucht ein ganzes Jahr, um ein solches Nest anzulegen, das zudem noch außerhalb des Territoriums etablierter Familien liegen muss. Bis dahin ist es sowohl für Töchter als auch für Söhne von Vorteil, zu Hause zu bleiben. Zudem kann es vorkommen, dass während der Wartezeit ein oder beide Eltern sterben, so dass das Geburtsnest übernommen werden kann. Andererseits ist es von Vorteil für die Eltern, erwachsene Jungtiere weiter zu tolerieren, wenn sie als Helfer mitarbeiten.

Im Wesentlichen verläuft die Argumentation der Gesamtfitness-Theorie folgendermaßen: Man geht aus von der Existenz der Verwandtenselektion, die in vielen biologischen Systemen im Grunde unvermeidlich ist. Kommt es zur Verwandtenselektion, dann folgt sie Hamiltons Ungleichung, die im einfachsten Fall mindestens prognostiziert, ob Altruismusgene in der Population zunehmen oder nicht. Wird Hamiltons Ungleichung auf alle Mitglieder einer Gruppe angewandt, so ergibt sich daraus die Gesamtfitness für die Gruppe, deren Wert aussagen kann, ob eine Population solcher Gruppen in Richtung einer altruismusbasierten sozialen Organisation evolviert.

Keine dieser Annahmen aber hat sich als tragbar erwiesen. Die Empiriker, die genetische Verwandtschaft messen und die Gesamtfitness für ihre Argumentation nutzen, sind bis heute der Meinung, ihre Überlegungen würden auf einer soliden theoretischen Grundlage fußen. Doch das ist nicht der Fall. Die Gesamtfitness ist ein mathematischer Einzelfall mit so vielen Einschränkungen, dass sie unbrauchbar wird. Anders als weithin angenommen, handelt es sich dabei nicht um eine allgemeine Evolutionstheorie; sie charakterisiert weder die Dynamik der Evolution noch die Distribution von Genfrequenzen.

Für die Extremfälle, in denen die Gesamtfitness-Theorie vielleicht funktioniert, sind biologische Bedingungen nötig, die in der Natur nachweislich nicht existieren. Das System muss sich, so zeigt sich, auf die mathematische Einschränkung der «schwachen Selektion» zubewegen, bei der alle Mitglieder einer Gruppe sich derselben Fitness annähern und alle alternativen Reaktionen in etwa gleich häufig sind. Zudem müssen alle Interaktionen zwischen Gruppenmitgliedern additiv und paarweise 1:1 auftreten. Tatsächlich widersprechen alle bekannten Gesellschaften außer Geschlechtspartnern dieser Bedingung. Andere Interaktionen sind tendenziell synergistisch in einem Ausmaß, das mit den stetig wechselnden Bedingungen der Kolonie variiert. Und schließlich lässt sich die Gesamtfitness-Theorie nur in statischen Strukturen nutzen, in denen die Intensität des Zusammenspiels nicht von einem Kontakt zum nächsten variiert; außerdem muss zyklisch eine globale Aktualisierung stattfinden.

Diese Frage der theoretischen Biologie ist bedeutsam, weil die intuitiven Annahmen, die die Gesamtfitness-Theorie liefert, allgemein, aber zu Unrecht als grundsätzlich korrekt aufgefasst wurden. Ohne stichhaltige Modelle, wie Feld- und Laborforscher sie normalerweise benutzen, führen Darlegungen, die mit der Gesamtfitness argumentieren, in die Irre. Wie abwegig diese Schlussfolgerung ausfallen kann, zeigt sich in dem mathematischen Beweis, wonach in zwei Systemen zwar alle Messwerte des Verwandtschaftsgrads identisch sein können, die Kooperation aber in einem System gefördert wird und im anderen nicht. Umgekehrt können zwei Populationen diametral entgegengesetzte Verwandtschaftsgrade aufweisen, beide Strukturen aber gleich wenig in der Lage sein, die Evolution der Kooperation voranzubringen.

Eine weitere verbreitete Fehlmeinung lautet, dass Berechnungen zur Gesamtfitness einfacher sind als die der klassischen Modelle mit natürlicher Selektion. Das ist schlicht falsch. In den seltenen Fällen, in denen die Gesamtfitness sich in abstrakten Modellen formulieren lässt, sind die beiden Theorien gleichwertig und erfordern die Erhebung derselben Messwerte.

Das alte Paradigma der sozialen Evolution, das nach vier Jahrzehnten fast schon Heiligenstatus genießt, ist damit gescheitert. Seine Argumentation von der Verwandtenselektion als Prozess über Hamiltons Ungleichung als Bedingung für Kooperation bis zur Gesamtfitness als darwinschem Status der Koloniemitglieder funktioniert nicht. Wenn es bei Tieren überhaupt zur Verwandtenselektion kommt, dann nur bei einer schwachen Form der Selektion, die ausschließlich unter leicht verletzbaren Sonderbedingungen auftritt. Als Gegenstand einer allgemeinen Theorie ist die Gesamtfitness ein trügerisches mathematisches Konstrukt; unter keinen Umständen lässt es sich so fassen, dass es wirkliche biologische Bedeutung erhält. Auch für den Nachvollzug der Evolutionsdynamik genetisch bedingter sozialer Systeme ist es unbrauchbar.

Das Missgeschick der Gesamtfitness-Theorie wurzelt in dem Glauben, eine einzige abstrakte Formel, in diesem Fall Hamiltons Ungleichung, hätte Auswirkungen, die sich Schicht für Schicht untersuchen ließen, um mit immer größerer Detailgenauigkeit die soziale Evolution zu erklären. Diesen Glauben widerlegen sowohl mathematische Logik als auch empirische Belege. Welchen Weg aber sollen wir stattdessen einschlagen, um das entwickelte Sozialverhalten zu begreifen?

Die soziale Eroberung der Erde: Eine biologische Geschichte des Menschen
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