22.
DER URSPRUNG DER SPRACHE

Die wahre Explosion von Innovationen, der die Menschheit ihre Dominanz auf der Erde verdankt, war sicher nicht das Ergebnis einer einzigen hochpotenten Mutation. Noch weniger wahrscheinlich ist, dass sie auf irgendeiner mystischen Inspiration beruhte, die auf unsere Vorfahren in ihrem Existenzkampf herniederging. Genauso wenig kann der Stimulus in neuen Revieren und reichen Ressourcen bestanden haben – auch relativ wenig fortschrittliche Arten von Pferden, Löwen und Affen waren ihm ausgesetzt. Aller Wahrscheinlichkeit nach gab es eine graduelle Annäherung an einen Tipping Point, einen Umkipp-Punkt, bis ein Schwellenwert kognitiver Fähigkeit überschritten war, die den Homo sapiens für Kultur extrem empfänglich machte.

Der Aufstieg hatte schon mindestens zwei Millionen Jahre zuvor in Afrika begonnen, nämlich mit dem Homo habilis als Vorfahren des Homo erectus. Damals schon begann das Vorderhirn sein phänomenales Wachstum, das in der halben Milliarde Jahre der Tierevolution bei jeder anderen komplexen Struktur seinesgleichen sucht. Was war der Zünder für diesen Wandel? Die Präadaptionen für die Eusozialität, die fortgeschrittenste Ebene sozialer Organisation, waren alle vorhanden, aber das galt auch für die vielen anderen damaligen Arten von Australopithecina, von denen keine andere den Weg zum schnellen Gehirnwachstum nahm. Der entscheidende Punkt für die Fortentwicklung zum Homo lag meines Erachtens in der kritischen Präadaption, die auch bei den wenigen anderen Tierarten in der Geschichte des Lebens vorlag, die die Schwelle zur Eusozialität überschreiten konnten: Ohne Ausnahme verteidigte jede von diesen etwa zwei Dutzend Insekten- und Schalentierarten sowie Nacktmullen ein Nest, von dem aus die Gruppenmitglieder ausziehen konnten, um ausreichend Futter für die Kolonie zu beschaffen. In den seltenen Momenten, in denen solche Kolonien sich gegen solitäre Individuen durchsetzen konnten, blieben sie im Nest, statt sich zu zerstreuen und den Zyklus des solitären Lebens weiterzuführen.

Es ist kein Zufall, dass zu der Zeit, als der Homo erectus aufkam – und wahrscheinlich schon früher, also bei seinem unmittelbaren Vorfahren Homo habilis –, kleine Gruppen mit der Einrichtung von Lagerstätten begonnen hatten. Diese Entsprechung zu den Nestern der Tiere konnten die Urmenschen anlegen, weil sie ihre Ernährung umgestellt hatten und jetzt nicht mehr ausschließlich Pflanzen-, sondern Allesfresser waren, wobei das Fleisch einen wesentlichen Anteil ausmachte. Sie weideten Aas aus und jagten selbst, und allmählich verlegten sie sich auf die äußerst hohe Kalorienzufuhr aus gegartem Tierfleisch. Archäologische Funde beweisen, dass ihre Verbände nicht mehr beständig durch ein Territorium wanderten und Früchte oder andere pflanzliche Nahrung sammelten, wie es die gleichzeitig lebenden Schimpansen und Gorillas taten. Sie suchten jetzt verteidigenswerte Stellen aus und befestigten sie, und einige von ihnen blieben über längere Zeiträume dort und schützten die Jungen, während die anderen jagten. Als an der Lagerstätte zudem noch kontrolliertes Feuer genutzt wurde, war der Vorteil dieser Lebensform unabweisbar.

Und doch können Fleisch und Lagerfeuer allein das schnelle Gehirnwachstum nicht erklären. Das fehlende Glied ist, nach meiner festen Überzeugung, in der Hypothese von der kulturellen Intelligenz auszumachen, die der biologische Anthropologe Michael Tomasello und seine Mitarbeiter in den letzten dreißig Jahren erarbeiteten.

Ihnen zufolge liegt der ursprüngliche und entscheidende Unterschied zwischen der Kognition des Menschen und der anderer Tierarten (auch unserer nächsten genetischen Verwandten, der Schimpansen) in der Fähigkeit zu kollaborieren, um so gemeinsame Ziele und Intentionen zu verwirklichen. Die Besonderheit des Menschen ist seine Intentionalität, ausgehend von einem extrem umfangreichen Arbeitsgedächtnis. Wir wurden zu Experten im Gedankenlesen und zu Weltmeistern im Erfinden von Kultur. Wir interagieren nicht nur intensiv miteinander – das tun auch andere Tiere mit entwickelter Sozialorganisation –, sondern in einzigartigem Ausmaß tritt dazu der Drang zur Zusammenarbeit. Wir bringen unsere Intentionen dem Zeitpunkt angemessen zum Ausdruck und lesen die der anderen hervorragend ab; so kollaborieren wir eng und kompetent beim Bau von Werkzeugen und Unterschlüpfen, bei der Erziehung der Jungen, bei der Planung von Jagdexpeditionen, beim Mannschaftsspiel, bei fast allem, was wir zum Überleben als Menschen tun müssen. Jäger und Sammler wie Börsenmakler schwatzen bei jedem sozialen Zusammentreffen, sie bewerten andere, schätzen ihre Vertrauenswürdigkeit ein und spekulieren über ihre Absichten. Unsere Anführer entwickeln ihre politischen Strategien mit dem Instrumentarium der sozialen Intelligenz. Geschäftsleute nutzen das Gedankenlesen, das Erspüren von Intentionen, um ihre Deals einzufädeln, und ein Großteil der Kunst dient ihrem Ausdruck. Als Individuen können wir kaum einen Tag ohne den Einsatz kultureller Intelligenz überleben, und sei es nur in den häufigen Probeläufen in unseren privaten Gedanken.

Menschen sind in sozialen Netzwerken verwoben. Wie der sprichwörtliche Fisch im Wasser können wir uns nur schwer einen anderen Platz vorstellen als dieses mentale Umfeld, das wir in der Evolution herausgebildet haben. Von Kindesbeinen an sind wir dazu veranlagt, die Intentionen der anderen zu lesen und sehr schnell zu kooperieren, wenn sich nur ein Hauch von gemeinsamem Interesse abzeichnet. In einem aufschlussreichen Experiment wurde Kindern gezeigt, wie sie die Tür zu einem Behälter öffnen konnten. Wenn Erwachsene bei dem Versuch, die Tür zu öffnen, vorgaben, nicht zu wissen, wie das ging, unterbrachen die Kinder das, womit sie gerade beschäftigt waren, und kamen ihnen quer durch den Raum zu Hilfe. Schimpansen, die im kooperativen Bewusstsein sehr viel weniger fortgeschritten sind, machten sich diese Mühe unter denselben Umständen nicht.

In einem anderen Experiment wurden bei Schimpansen Intelligenztests abgehalten und deren Ergebnisse mit denen von 2,5 Jahre alten Kindern verglichen, die noch keinerlei formale Bildung erhalten hatten. Bei der Lösung physikalischer und räumlicher Aufgaben (sie mussten etwa eine versteckte Belohnung finden, verschieden große Mengen unterscheiden, die Eigenschaften von Werkzeugen begreifen, einen Stock verwenden, um einen nicht zugänglichen Gegenstand zu erreichen) lagen Schimpansen und Kleinkinder völlig gleich auf. Bei einer Reihe sozialer Tests dagegen wiesen die Kinder sehr viel weiter entwickelte Fähigkeiten auf als die Schimpansen. Sie lernten mehr, wenn sie bei einer Vorführung zusahen, begriffen besser Hinweise auf die Lokalisierung einer Belohnung, folgten dem Blick anderer auf ein Ziel und erfassten die Intention hinter den Handlungen anderer auf der Suche nach einer Belohnung. Menschen sind offenbar nicht deshalb erfolgreich, weil sie eine höhere allgemeine Intelligenz besitzen, die bei allen Herausforderungen greift, sondern weil sie geborene Spezialisten in sozialen Fähigkeiten sind. Durch Kooperation über Kommunikation und das Ablesen von Intentionen können Gruppen sehr viel mehr erreichen als ein Einzelner aller Anstrengung zum Trotz.[29]

Die frühen Populationen des Homo sapiens oder ihre unmittelbaren Vorfahren in Afrika näherten sich dem höchsten Niveau der sozialen Intelligenz an, indem sie eine Kombination von drei besonderen Attributen erwarben. Sie entwickelten geteilte Aufmerksamkeit – also die Neigung, in einem Ereignisablauf demselben Gegenstand Beachtung zu schenken wie die anderen. Sie erwarben das hochgradige Bewusstsein, das sie brauchten, um beim Erreichen eines gemeinsamen Ziels (oder bei der Behinderung der Versuche anderer) gemeinschaftlich zu handeln. Und sie erwarben eine «Theory of Mind», die Erkenntnis, dass ihr eigener geistiger Zustand von anderen geteilt wird.

Als diese Eigenschaften ausreichend ausgebildet waren, entwickelten sich Sprachen, die den heute gebräuchlichen vergleichbar sind. Zu diesem Fortschritt kam es mit Sicherheit vor der Auswanderung aus Afrika vor 60.000 Jahren. Die Kolonisten besaßen bereits die vollständige Sprachfähigkeit ihrer modernen Nachfahren und verwendeten wahrscheinlich differenzierte Sprachen. Hauptbeweis dafür ist die Tatsache, dass heutige Aborigines-Populationen, die direkten Nachfahren der Kolonisten, welche heute noch in niedergelassenen Restpopulationen von Afrika bis Australien zu finden sind, alle solche hoch entwickelten Sprachen sowie die mentalen Eigenschaften besitzen, die notwendig sind, um sie zu erfinden.

Die Sprache war der Gral der menschlichen Sozialevolution. Als sie erst installiert war, verlieh sie der menschlichen Spezies geradezu Zauberkraft. Die Sprache nutzt willkürlich Symbole und Wörter, um Bedeutung zu übermitteln und eine potenziell unbegrenzte Zahl von Botschaften zu generieren. Sie ist letztlich in der Lage, zumindest grob alles auszudrücken, was die menschlichen Sinne wahrnehmen können, jeden Traum und jede Erfahrung, die der menschliche Geist sich vorstellen kann, und jede mathematische Aussage, die unsere Analysen erstellen können. Es scheint logisch, dass nicht die Sprache den Geist erschaffen hat, sondern umgekehrt. Die Abfolge der kognitiven Evolution ging von intensiver sozialer Interaktion an den frühen Lagerstätten über das Zusammenwirken mit der wachsenden Fähigkeit, Intentionen zu lesen und dementsprechend zu handeln, bis zu der Fähigkeit, im Umgang mit anderen und der Außenwelt zu abstrahieren, und schließlich zur Sprache. Die ersten Grundlagen der menschlichen Sprache waren wohl die essentiellen befähigenden geistigen Eigenschaften, die sich in ihrem Aufeinandertreffen gegenseitig förderten und gemeinsam evolvierten. Doch es ist hochgradig unwahrscheinlich, dass die Sprache am Anfang stand. Michael Tomasello und seine Koautoren legen den Fall folgendermaßen dar:

Sprache ist nicht grundlegend; sie ist abgeleitet. Sie beruht auf denselben bedingenden kognitiven und sozialen Fähigkeiten, die Kinder dazu bringen, auf Dinge zu weisen und anderen Menschen bestimmt und informativ Dinge zu zeigen, so wie das andere Primaten nicht tun; diese Fähigkeiten führen sie auch dazu, kollaborative Aktivitäten mit geteilter Aufmerksamkeit mit anderen aufzunehmen, wie es unter Primaten ebenfalls einzigartig ist. Die Grundfrage lautet: Was ist Sprache, wenn nicht eine Reihe von Koordinationsmitteln, über die die Aufmerksamkeit anderer gelenkt wird? Welcher Sinn läge in der Aussage, dass Sprache es möglich macht, Intentionen zu verstehen und zu teilen, wo doch in Wirklichkeit linguistische Kommunikation ohne diese bedingenden Fähigkeiten unvorstellbar ist? Und so ist es zwar richtig, dass die Sprache ein Hauptunterschied zwischen Menschen und anderen Primaten ist; aber wir sind der Meinung, dass sie eigentlich ein abgeleitetes Ergebnis von der einzigartigen menschlichen Fähigkeit ist, Intentionen zu lesen und mit anderen zu teilen – wobei diese Fähigkeit auch andere ausschließlich menschliche Fähigkeiten garantiert, die mit der Sprache einhergehen, etwa deklarative Gesten, Kollaboration, Täuschung und imitierendes Lernen.

Gelegentlich hört man, auch Tiere hätten eine Sprache. Das beste Beispiel dürften die Honigbienen sein, die dieser Ansicht nach mit abstrakten Signalen kommunizieren, etwa bei ihren Tänzen auf den Waben des Stocks oder auf den dicht gedrängten Körpern ihrer Stockgefährtinnen beim Ausschwärmen an einen neuen Nistplatz. Tatsächlich übermittelt die tanzende Biene Richtung und Entfernung des Zielpunkts, also einer Nektar- und Pollenquelle oder eines möglichen neuen Nistplatzes. Allerdings ist dieser Code fixiert, und das wahrscheinlich seit Millionen von Jahren. Zudem ist der Tanz kein abstraktes Zeichen wie die Kombination menschlicher Wörter und Sätze. Vielmehr spiegelt er den Flug wider, den die Bienen unternehmen müssen, um das Ziel zu erreichen. Bewegt sich die Tänzerin im Kreis, so bedeutet das, dass das Ziel nah am Nest liegt («Bewegt euch dicht um das Nest, um das Ziel zu finden»). Der Schwänzeltanz dagegen, eine wieder und wieder aufgeführte Acht, weist auf ein entfernteres Ziel hin. Der Querbalken der 8 – eigentlich sieht es eher aus wie bei dem griechischen Buchstaben U – entspricht der Richtung relativ zum Sonnenstand, und die Länge des Querbalkens ist proportional zur Entfernung des Ziels. So beeindruckend das ist – jedoch nur Menschen können etwas sagen wie: «Geh durch den Eingang, bieg nach rechts, bleib auf dieser Straße bis zur ersten Ampel, danach siehst du das Restaurant auf halber Höhe des Blocks, es liegt gleich an der nächsten Ecke.»[30]

Anders als in der Kommunikation von Bienen und anderen Tieren konnte die menschliche Sprache allmählich auch abstrakt repräsentieren, sich also auf Objekte und Ereignisse beziehen, die nicht in unmittelbarer Nähe vorhanden sind – oder auch überhaupt nicht existieren. Außerdem übermittelt die menschliche Sprache noch zusätzliche Informationen durch die Satzmelodie, die Betonung bestimmter Wörter und den Rhythmus ihres Flusses, um eine Stimmung zu übermitteln, etwas hervorzuheben oder eine Satzbedeutung gegen eine andere abzugrenzen. Die menschliche Sprache kennt die Ironie, ein raffiniertes Spiel mit Übertreibung und Irreführung, das dem Satz eine andere Bedeutung verleiht als die, die der Wortsinn eigentlich ausdrückt. Sprache kann indirekt sein, eine Botschaft also nur andeuten, statt sie direkt darzulegen, und damit Platz für mögliche Einwände lassen. Das ist zum Beispiel der Fall bei unverhohlenen, selbst klischeehaften sexuellen Aufforderungen («Darf ich dir meine Briefmarkensammlung zeigen?»); bei höflichen Bitten («Ich wäre Ihnen ewig dankbar, wenn Sie mir helfen würden, diesen Reifen zu wechseln»); bei Drohungen («Hübscher Laden hier. Wäre doch zu schade, wenn dem etwas zustoßen würde»); bei einem Spendenaufruf («Wir hoffen auf Ihre Unterstützung für unser Förderprogramm»). Steven Pinker und anderen Experten zufolge hat der indirekte Sprechakt zwei Funktionen: Information zu übermitteln und zwischen Sprecher und Hörer ein Verhältnis herzustellen.[31]

Da Sprache für den Menschen von zentraler Bedeutung ist, ist es wichtig zu wissen, wie ihre Evolution vor sich ging. Behindert werden wir dabei durch die Tatsache, dass Sprache zugleich das vergänglichste aller Artefakte ist. Archäologische Funde reichen nur bis zur Erfindung der Schrift zurück, also etwa 5000 Jahre, als die entscheidenden genetischen Veränderungen am Homo sapiens längst abgeschlossen waren und die raffinierten Regeln zum Sprachgebrauch weltweit in sämtlichen Gesellschaften funktionierten.

Dennoch finden sich im Sprachgebrauch einige Muster, die sich als Produkte der Evolution zitieren lassen. Eine solche Spur sind Gesprächslücken in einer Unterhaltung. Hartnäckig hält sich gemeinhin der Eindruck, Kulturen würden sich darin unterscheiden, wie viel Zeit vergeht, bevor der Gesprächspartner eine Antwort gibt. In Skandinavien, so die verbreitete Meinung, entstehen lange Pausen zwischen den letzten Worten des einen Gesprächspartners und der Antwort des anderen. Und glaubt man der komödiantischen Darstellung von New Yorker Juden, so sprechen diese am liebsten so gut wie gleichzeitig. Bei einer genauen Messung der Gesprächslücken bei Sprechern von zehn Sprachen weltweit zeigte sich aber, dass Überschneidungen (nicht aber Unterbrechungen) von allen vermieden werden, und die Dauer der Gesprächslücken erwies sich als im Grunde identisch. Andererseits ergaben Gespräche zwischen Sprechern unterschiedlicher Muttersprachen erheblich variierende Gesprächslücken, da die Sprecher Mühe hatten, Bedeutung und Intention des Gesagten zu erfassen. Dieser verständliche Effekt ist wahrscheinlich die Ursache für den Eindruck, Kulturen würden sich in ihrem Gesprächsrhythmus unterscheiden.[32]

Als weitere Spur der frühen Sprachevolution wurden kürzlich nonverbale Stimmlaute dokumentiert, deren Äußerung wahrscheinlich älter ist als die Sprache. Stimmlaute, die negative Emotionen kommunizieren (Ärger, Ekel, Angst und Traurigkeit), sind diesen Untersuchungen zufolge beispielsweise bei europäischen Muttersprachlern des Englischen dieselben wie bei Sprechern der Sprache Hima, die sich in abgelegenen, kulturell isolierten Siedlungen in Nord-Namibia findet. Nonverbale Stimmlaute, die positive Emotionen kommunizieren (Erfolg, Belustigung, Sinneslust und Erleichterung), passen dagegen nicht in der gleichen Weise zusammen. Der Grund für diesen Unterschied ist unklar.[33]

Die Grundfrage zum Ursprung der Sprache betrifft jedoch weder Gesprächspausen in Unterhaltungen noch vorsprachliche Äußerungen, sondern die Grammatik. Ist die Reihenfolge, in der Wörter und Sätze zusammengebaut werden, erlernt oder in irgendeiner Hinsicht angeboren? 1959 kam es zu diesem Thema zu einem historischen Gelehrtenstreit zwischen B. F. Skinner und Noam Chomsky, und zwar in Form einer langen Rezension Chomskys zu Skinners Buch Verbal Behavior (1957).[34] Skinner, der Begründer des Behaviorismus, vertrat darin die Ansicht, Sprache sei vollständig erlernt. Das bestritt Chomsky. Eine Sprache mit all ihren Grammatikregeln zu erlernen, verlangt einem Kind im zur Verfügung stehenden Zeitraum eine viel zu große Gedächtnisleistung ab. Chomsky schien in der Auseinandersetzung zunächst die Oberhand zu behalten. Er untermauerte seine Argumentation später, indem er eine Reihe von Regeln vorlegte, denen seiner Ansicht nach das Gehirn während seiner Entwicklung spontan folgt. Allerdings drückte er diese Regeln nahezu unverständlich aus – ein unglückliches Beispiel dafür sei hier zitiert:

Zusammenfassend sind wir unter der Annahme, daß die Spur einer Kategorie der Ebene Null echt regiert sein muß, zu folgenden Schlußfolgerungen gelangt. 1. Die VP wird von I a-markiert. 2. Nur lexikalische Kategorien sind L-Markierer, so daß die VP von I nicht L-markiert wird. 3. A-Rektion ist ohne die Einschränkung (35) auf die Schwesterbeziehung beschränkt. 4. Nur das terminale Glied einer X°-Kette kann a-markieren oder Kasusmarkieren. 5. Kopf-zu-Kopf-Bewegung bildet eine A-Kette. 6. Die Kongruenz zwischen SPEC und Kopf und die Ketten werden gleich indiziert. 7. Koindizierung in Ketten gilt für die Glieder einer erweiterten Kette. 8. Es gibt keine zufällige Koindizierung von I. 9. I-V-Koindizierung ist eine Form von Kopf-zu-Kopf-Kongruenz; wenn sie auf aspektuelle Verben beschränkt ist, dann zählen basisgenerierte Strukturen der Form (174) als Adjunktionsstrukturen. 10. Möglicherweise regiert ein Verb sein α-markiertes Komplement nicht echt.[35]

Die Gelehrten mühten sich zu begreifen, was sich als tiefschürfende neue Einsicht in die Arbeitsweise des Gehirns präsentierte (ich gehörte in den 1970er Jahren zu ihnen). Die generative Transformationsgrammatik oder Universalgrammatik, wie sie wahlweise genannt wurde, wurde zum Steckenpferd geradezu berauschter intellektueller Kreise und Proseminare. Chomsky war lange so erfolgreich, weil er selten die Demütigung erfuhr, verstanden zu werden.

Irgendwann konnten die Kommentatoren in verständliche Sprache und Diagramme umsetzen, was Chomsky und seine Anhänger meinten. Am zugänglichsten und leserfreundlichsten war dabei Steven Pinkers Bestseller Der Sprachinstinkt (Original 1994).

Doch selbst nach der Entschlüsselung Chomskys blieb eine Frage offen: Gibt es die Universalgrammatik wirklich? Mit Sicherheit existiert ein überwältigend machtvoller Instinkt zum Spracherwerb. Innerhalb der kognitiven Entwicklung eines Kindes besteht ein besonders empfängliches Zeitfenster, in dem es am schnellsten lernt. Tatsächlich: So schnell der Spracherwerb auch vor sich geht, so stark bemüht sich das Kind ums Sprechenlernen – Skinners Argumentation ist also vielleicht doch nicht von der Hand zu weisen. Vielleicht gibt es einen Zeitpunkt in der frühen Kindheit, an dem die Fähigkeit, Wörter und Wortstellung zu erlernen, so effizient arbeitet, dass wir ein bestimmtes Hirnmodul für Grammatik gar nicht brauchen.

Die jüngste Experimental- und Feldforschung zeichnet indessen ein anderes Bild von der Evolution der Sprache als das der Transformationsgrammatik. Ihr zufolge greifen in der Evolution der Sprachen einzelner Kulturen epigenetische Regeln, die «vorbereitetes Lernen» bewirken. Die Zwänge bei der Umsetzung dieser Regeln aber sind sehr lose. Der Psychologe und Philosoph Daniel Nettle beschreibt ihre Entstehung und die Möglichkeiten, die sie für neue linguistische Forschung eröffnen:

Alle menschlichen Sprachen erfüllen dieselbe Funktion, und die Gesamtheit der Merkmale, die sie dafür verwenden, unterliegt wahrscheinlich erheblichen Zwängen. Diese Zwänge ergeben sich aus der Basisarchitektur des menschlichen Geistes, die die Sprache dadurch beeinflusst, wie er hört, artikuliert, sich erinnert und lernt. Doch innerhalb dieser Zwänge besteht ein breiter Spielraum für Variationen zwischen den einzelnen Sprachen. Die Hauptkategorien Subjekt, Verb und Objekt zum Beispiel treten in unterschiedlichen Ordnungen auf, und einige Sprachen signalisieren grammatische Unterschiede überwiegend durch die Syntax oder das Kombinieren von Wörtern, während andere dasselbe hauptsächlich über die Morphologie, also die interne Veränderung der Wörter, leisten.[36]

Heute bieten sich uns mehrere geeignete neue Wege, um tiefer in das Geheimnis der Sprache einzudringen; dabei lösen wir die Linguistik von der Betrachtung steriler Diagramme und rücken sie mehr in die Nähe der Biologie. Ein Aspekt ist die Frage, inwieweit die äußere Umwelt die Restriktionen innerhalb der Sprachevolution lockert oder verschärft, sei es durch genetische oder kulturelle Evolution oder durch beides. In warmen Klimazonen, um ein einfaches Beispiel zu nennen, haben sich weltweit die Sprachen so entwickelt, dass sie mehr Vokale und weniger Konsonanten verwenden, so dass sie kräftiger klingen. Grund dafür könnte ganz einfach eine Frage der akustischen Effizienz sein. Klangvolle Laute tragen weiter, und das passt dazu, dass man in einem warmen Klima mehr Zeit draußen verbringt und sich in größerer Entfernung zueinander aufhält.[37]

Ein weiterer Faktor für die Entstehung der sprachlichen Vielfalt könnte die Genetik sein. Betrachten wir etwa die geografische Verteilung für den Einsatz der Tonalität als Träger von Grammatik und Wortbedeutung: Sie korreliert mit der Frequenz der Gene namens ASPM und Microcephalin, die an der Entwicklung der Tonalität mitwirken.[38]

Die Haupteigenschaften der geistigen und sprachlichen Evolution traten fast sicher schon vor dem Entstehen der Sprache selbst auf. Ihren Ursprung vermutet man in der noch älteren, grundlegenderen Architektur der Kognition. Wie flexibel sich die Syntax entwickeln kann, zeigt die Unterschiedlichkeit der Wortstellung in erst kürzlich evolvierten Sprachen wie Kreol, Pidgin und Gebärdensprachen, die auf allen Kontinenten sehr umfassend genutzt werden. Zwar muss man davon ausgehen, dass die Syntax durch frühkindlichen Kontakt mit konventionellen Sprachen verzerrt wird,[39] jedoch lässt sich ein solcher Einfluss in mindestens einem Fall widerlegen, nämlich für die Gebärdensprache der Al-Sayyid-Beduinen. Alle Mitglieder dieser Gruppe leben in der israelischen Negev-Wüste, und sie leiden an angeborener Taubheit. Gegründet wurde die Gruppe vor zweihundert Jahren von 150 Individuen, und ihre Mitglieder sind die Nachkommen von zwei der fünf Söhne des Gründers. Durch einen Fehler auf dem rezessiven Gen auf Chromosom 13q12 litten sie an schwerem prälingualem Gehörverlust auf allen Frequenzen. Ein Ergebnis der seither praktizierten Inzucht ist, dass heute alle 3500 Al-Sayyid diese Bedingung aufweisen. Die Gemeinschaft verwendet eine Gebärdensprache, die schon früh in ihrer Geschichte entwickelt wurde und unabhängig entwickelte Wortstellungen nutzt. Diese Strukturen unterscheiden sich von denen beider von ihnen selbst und in ihrer Nähe gesprochenen Sprachen und anderer Gebärdensprachen benachbarter Gemeinschaften.[40]

Darüber hinaus wurde die natürliche Variabilität der Grammatik durch Untersuchungen belegt, bei denen die Abfolge der Aktivitäten bei Menschen, die bestimmte Aufgaben erledigten, mit der Wortstellung verglichen wurde, die sie zur Beschreibung derselben Abfolge verwendeten. In einer Studie sollten Sprecher von vier Sprachen (Englisch, Türkisch, Spanisch und Chinesisch) ein Ereignis erst sprachlich und dann separat mit Hilfe von Bildern rekonstruieren. Dabei verwendeten alle Probanden bei der nonverbalen Kommunikation dieselbe Reihenfolge (nämlich Agens–Patiens–Akt, das entspricht in der Sprache Subjekt–Objekt–Verb). Ungefähr so also denken Menschen in einem nichtsprachlichen Handlungsszenario. Weniger konsistent waren dagegen die gesprochenen Sprachen. Die Reihenfolge Subjekt–Objekt–Verb findet sich zwar in vielen Sprachen auf der Welt – insbesondere in den sich neu entwickelnden Gebärdensprachen. Offensichtlich existiert eine epigenetische Regel für die Wortstellung, die in unserer tieferen kognitiven Struktur eingebettet ist, aber die Endprodukte in der Grammatik der Einzelsprachen sind hochflexibel und erlernt.[41] Mithin haben anscheinend sowohl Skinner als auch Chomsky recht, aber Skinner ein Stück mehr.

Dass die Evolution der Elementarsyntax so vielfältig verlaufen kann, lässt vermuten, dass den Spracherwerb des einzelnen Menschen wenige oder gar keine Regeln leiten. Der Grund dafür wurde in den jüngsten mathematischen Modellen der Gen-Kultur-Koevolution von Nick Chater und seinem Team von Kognitionswissenschaftlern aufgedeckt. Die schnell sich wandelnde Sprachumwelt liefert ganz einfach keine stabile Umwelt für die natürliche Selektion. Die Sprache variiert über die Generationen hinweg und zwischen den verschiedenen Kulturen zu schnell, als dass eine solche Evolution stattfinden könnte. Demnach besteht nur wenig Grund für die Erwartung, dass die willkürlichen Eigenschaften der Sprache, etwa die abstrakten syntaktischen Prinzipen für Satzbau und Genusmarkierung, von der Evolution im Gehirn in ein eigenes «Sprachmodul» eingebaut wurden. «Die genetische Grundlage des menschlichen Spracherwerbs», so schließen die Forscher, «koevolvierte nicht mit der Sprache, sondern lag bereits vor dem Aufkommen der Sprache vor. Wie von Darwin vermutet, passen Sprache und ihre bedingenden Mechanismen deswegen zusammen, weil die Sprache sich passend zum menschlichen Gehirn entwickelte, und nicht umgekehrt.»[42]

Ich denke, es führt nicht zu weit, wenn wir ergänzen, dass das Scheitern der natürlichen Selektion, eine unabhängige Universalgrammatik zu erschaffen, ein wesentlicher Beitrag dazu war, dass sich die Kultur in einer solchen Vielfalt ausbilden und, ausgehend von dieser Flexibilität und dem potenziellen Erfindungsreichtum, das menschliche Genie eine solche Blüte erleben konnte.

Die soziale Eroberung der Erde: Eine biologische Geschichte des Menschen
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