23.
DIE EVOLUTION DER KULTURVIELFALT

Die Gen-Kultur-Koevolution, also der Einfluss der Gene auf die Kultur und umgekehrt der Kultur auf die Gene, ist ein Prozess, der für die Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften von gleichrangiger Bedeutung ist. Über ihn lassen sich diese drei großen akademischen Fakultäten in ein Netz von Kausalitäten einbinden.

Wem dieser Anspruch allzu gewagt erscheint, der betrachte nur die kulturelle Varianz zwischen Gesellschaften. Gemeinhin gilt die Annahme, wenn zwei Gesellschaften in derselben Kategorie unterschiedliche Kulturmerkmale aufweisen – etwa Monogamie vs. Polygamie oder aggressive Politik vs. friedfertige Politik –, dann muss die Evolution dieser Varianzmuster und sogar die Kategorie selbst vollständig auf kultureller Ebene abgelaufen sein, ohne dass die Gene darauf irgendeinen Einfluss hatten.

Dieses voreilige Urteil ist auf ein mangelhaftes Verständnis des Verhältnisses zwischen Genen und Kultur zurückzuführen. Was Gene vorschreiben oder vorzuschreiben helfen, ist nicht ein Merkmal im Gegensatz zu einem anderen, sondern die Häufigkeit von Merkmalen und das Muster, das sie bilden, sobald kulturelle Innovation sie verfügbar macht. Die Genexpression kann plastisch sein, das heißt, eine Gesellschaft kann aus einer Vielfalt von Möglichkeiten ein oder mehrere Merkmale auswählen. Oder aber sie ist nicht plastisch – dann können alle Gesellschaften nur ein Merkmal auswählen.

Nehmen wir ein geläufiges Beispiel variierender Plastizität an anatomischen Merkmalen. Die Gene, die die Entwicklung des Fingerabdrucks vorschreiben, exprimieren sich sehr plastisch, erlauben also sehr viele unterschiedliche Varianten. Keine zwei Personen auf der Welt haben vollständig identische Fingerabdrücke. Die Gene dagegen, die die Anzahl von Fingern an jeder Hand vorschreiben, sind relativ stabil. Es werden fünf Finger, immer fünf. Nur ein extremer Zwischenfall während der Entwicklung oder eine Genmutation kann zu einer anderen Anzahl führen.

Das Prinzip der variierenden Plastizität lässt sich auch auf Kulturmerkmale leicht anwenden. Dass wir uns überhaupt um Kleidung kümmern, vom Lendenschurz bis zum großen Gesellschaftsanzug, ist genetisch bedingt. Doch da die entsprechenden Gene extrem (und fast schon grenzenlos) plastisch sind und sie so vielen unterschiedlichen Emotionen Ausdruck geben, entscheiden sich die Individuen im Lauf ihres Lebens für mehrere oder gar für Hunderte verschiedene Optionen. Am anderen Extrem findet sich das Beispiel des Inzests, der in allen normalen Familienstrukturen instinktiv vermieden wird (aufgrund des Westermarck-Effekts, dem zufolge Personen, die in früher Kindheit in enger häuslicher Gemeinschaft aufgewachsen sind, psychologisch nicht in der Lage sind, sich als Erwachsene miteinander zu paaren).

Entwicklungsbiologen haben festgestellt, dass der Grad der Plastizität bei der Genexpression ebenso wie das Vorhandensein oder Fehlen der Gene überhaupt der Evolution durch natürliche Selektion unterliegt. Für den Erfolg des Einzelnen spielt es eine Rolle, ob er der Mode seiner Gruppe folgt und die richtigen Insignien trägt, die seinem Rang, seiner Beschäftigung und seinem Status entsprechen. In einfacheren Gesellschaften, wie sie während der menschlichen Evolution größtenteils existierten, spielte das sogar noch eine größere Rolle und konnte gar über Leben und Tod entscheiden. Und der Westermarck-Effekt spielte einst wie heute überall und unter allen Umständen eine Rolle, weil er der gesamten Menschheit eine automatische Abwehr gegen die fatalen Auswirkungen der Inzucht bot.

Alle Gesellschaften und jedes Individuum in ihnen spielt das Spiel der genetischen Fitness, dessen Regeln über unzählige Generationen durch die Gen-Kultur-Koevolution herausgebildet wurden. Gilt eine Regel unumstößlich, etwa die Schädigung durch Inzest, so können wir nur eine einzige Karte spielen; in diesem Fall heißt sie «Auszucht». Ist dagegen ein Teil der Umwelt unvorhersagbar, so ist man gut beraten, wenn man einer Mischstrategie folgt, die sich durch Plastizität erreichen lässt. Ist ein Merkmal oder eine Reaktion nicht angemessen, so kann man innerhalb des genetischen Repertoires auf eine andere Option umschalten. Der Grad der Plastizität innerhalb einer kulturellen Kategorie hängt nicht von einer expliziten Beurteilung der künftigen Ereignisse ab, sondern vom Ausmaß der Herausforderungen, denen die Merkmals- oder Verhaltenskategorie während der Gen-Kultur-Koevolution in den letzten Generationen ausgesetzt war.[43]

Seit den 1970er Jahren kennen Biologen die genetischen Prozesse, über die die Evolution der Plastizität wohl abläuft. Wahrscheinlich kommt es nicht zu Mutationen an Protein-codierenden Genen, die eine Basis einer Aminosäure und damit den Aufbau eines Proteins verändern würden. Wahrscheinlich treten solche Veränderungen eher an regulatorischen Genen auf, die steuern, in welchem Tempo und unter welchen Bedingungen die Proteine produziert werden. Kleine Veränderungen an Regulatorgenen machen auf den ersten Blick nicht viel her, aber sie können die Proportionen anatomischer Strukturen und physiologischer Aktivitäten erheblich modifizieren. Wahlweise können sie auch mit größerer Präzision auf bestimmte Körperteile und bestimmte physiologische Prozesse abzielen. Außerdem programmieren sie gegebenenfalls die Empfindlichkeit für ausgewählte Reize, die während der Entwicklung auf den Organismus einwirken: Unterschiedliche Umwelten bewirken so die Herausbildung einzelner Varianten, die dann die beste Anpassung an die jeweilige Nische darstellen. Schließlich ist es bei Regulatorgenen, die ja nur Wechselwirkungen im Entwicklungsprozess beeinflussen, weniger wahrscheinlich, dass Mutationen sich schädlich auswirken, als das bei Mutationen an Protein-codierenden Genen der Fall wäre. Sie produzieren ja kein neues Protein, also keine darauf beruhende neue Struktur oder Verhaltensform; eine solche Veränderung nämlich könnte die Entwicklung im übrigen Organismus leicht aus dem Lot bringen. Vielmehr regeln sie die Häufigkeit eines bereits existierenden Proteins und können damit fein austarierte Veränderungen an einer existierenden Struktur oder Verhaltensform vornehmen.[44]

Ameisen und andere soziale Insekten illustrieren die Evolution dieser adaptiven Plastizität bis ins Extrem. Die Arbeiterinnen in Ameisen- oder Termitenkolonien unterscheiden sich häufig so stark voneinander, dass man sie leicht versehentlich verschiedenen Arten zuweist. Dabei sind in Kolonien mit einer einzigen Königin, die sich mit nur einem einzigen Männchen gepaart hat, alle Kasten eines Geschlechts genetisch nahezu identisch. In Anatomie und Verhalten unterscheiden sie sich aber, weil sie während ihres Reifeprozesses entweder mehr oder weniger Nahrung erhielten als die anderen, was sie größer oder kleiner wachsen ließ. Außerdem wuchsen auch ihre einzelnen Gewebepartien in unterschiedlichem Ausmaß, so dass größere und kleinere Individuen unterschiedliche Körperproportionen herausbildeten. Die unreifen Tiere waren auch empfindlich für die Pheromone der erwachsenen, und diese beeinflussten ebenfalls, in welche Richtung sie sich entwickelten und wie groß sie selbst wurden. Die Forschung kennt noch weitere Faktoren für die Einteilung von Koloniemitgliedern in Kasten. Jede Kaste spezialisiert sich ihr Leben lang auf ihre eigenen Aufgaben. Eine Kolonie kann ohne signifikante Genvarianz folgende Kasten enthalten: Jungköniginnen, kleine, zurückhaltende Minor-Arbeiterinnen und riesige Soldatinnen mit grotesk vergrößerten Köpfen und Kiefern.

Speziell bei Ameisen ist die Herausbildung von Kasten aufgrund der Plastizität nur Teil eines raffinierten Prozesses, der sogenannten adaptiven Demographie. Die Kasten übernehmen nicht nur spezielle Aufgaben, sondern sie folgen zudem einem Programm, nach dem sie entsprechend ihrer natürlichen Sterberate in einer bestimmten Frequenz neu produziert werden, damit das Verhältnis der Kasten zueinander für die Kolonie als Ganzes insgesamt optimal bleibt. Zum Beispiel haben Mitglieder der großen Major-Kaste bei Weberameisen, die für die Kolonie die meiste Arbeit außerhalb des Nests erledigen und außerdem die Kolonie gegen Feinde verteidigen, eine höhere Sterberate als Minor-Arbeiterinnen, die innerhalb des Nests als Ammen dienen. Ganz offensichtlich produziert die Kolonie deswegen pro Mitglied mehr Majores als Minores, damit das optimal erscheinende Gleichgewicht zwischen den beiden Kasten gehalten werden kann.[45]

23.1 Die Evolution kultureller Varianz am einfachen Beispiel zweier Merkmale in derselben Kulturkategorie (etwa Inzestvermeidung oder Kleidungswahl). Die Varianz misst sich über die Anzahl der Gesellschaften, die in drei Kulturkategorien (von oben nach unten) eines von zwei Merkmalen auswählen. Die Neigung, andere zu imitieren, wird als Sensibilität für Verhaltensmuster bezeichnet.

Beim Menschen wird kulturelle Varianz vor allem von zwei Eigenschaften des Sozialverhaltens bestimmt, die beide der Evolution durch natürliche Selektion unterliegen. Erstens ist das die Frage, wie stark der Einfluss epigenetischer Regeln ist – bei der Kleiderwahl sehr gering, bei der Inzestvermeidung sehr stark. Die zweite Eigenschaft der kulturellen Variation ist die Wahrscheinlichkeit, dass individuelle Gruppenmitglieder andere Mitglieder derselben Gesellschaft imitieren, die das Merkmal adaptiert haben («Sensibilität für Verhaltensmuster»).

Um die Lösung für die Streitfrage «Gene oder Kultur» zu illustrieren, halten wir zunächst fest, dass die drei Reihen kultureller Kategorien, die in Abbildung 23.1 dargestellt sind, sich genetisch voneinander unterscheiden. Wählen Sie eine der drei Kategorien und betrachten Sie je einen Punkt unter den beiden Scheiteln, die sich herausgebildet haben (rechts unten, aufgrund der weiter entwickelten Neigung, die Handlungen anderer zu imitieren). Die Punkte stehen für zwei Gesellschaften. Beide Gesellschaften haben wahrscheinlich unterschiedliche Kulturmerkmale ausgebildet, obwohl sie genetisch gleich dafür bedingt sind, nach welchen Regeln sie sie auswählen. Entscheidend für die Divergenz sind die epigenetischen Regeln und die Neigung, andere zu imitieren, und beides ist durch Gen-Kultur-Koevolution entstanden.

Die Feinheiten der Gen-Kultur-Koevolution sind eine unverzichtbare Grundlage für das Verständnis der Conditio humana. In ihrer Komplexität wirken sie auf den ersten Blick vielleicht befremdlich, weil sie so ungewohnt sind. Doch wenn die Forschung unter der Führung der Evolutionstheorie die richtigen Messungen und Analysen vornimmt, lassen sie sich in ihre wesentlichen Elemente zerlegen.

Die soziale Eroberung der Erde: Eine biologische Geschichte des Menschen
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