19.
DAS AUFKOMMEN EINER NEUEN THEORIE
DER EUSOZIALITÄT

Der evolutionäre Ursprung eines komplexen biologischen Systems lässt sich stets nur dann korrekt rekonstruieren, wenn man es als Ergebnis einer Geschichte von Einzelstadien versteht, die lückenlos verfolgt werden. Ausgehend von empirisch bekannten biologischen Phänomenen in jedem Stadium – sofern vorhanden –, erforscht man dabei das Spektrum von theoretisch möglichen Phänomenen. Jeder Übergang von einem Stadium zum nächsten verlangt eine eigene Modellierung, und jedes Stadium muss in seinen eigenen Kontext möglicher Ursachen und Wirkungen versetzt werden. Nur so lässt sich vorstoßen zu dem, was die fortgeschrittene soziale Evolution und die «Conditio humane», die Natur des Menschen, bedeuten.

Das erste erkennbare Stadium beim Aufkommen der Eusozialität, das Arbeitsteilung mit dem Anschein von Altruismus zur Folge hat, ist die Bildung von Gruppen in einer frei vermischten Population ansonsten solitärer Individuen. Theoretisch kann es dazu in der Realität auf vielerlei Weise kommen. Gruppen können sich finden, wenn Nistplätze oder Nahrungsquellen, auf die eine Art spezialisiert ist, nur lokal verteilt sind, wenn Eltern und Nachkommen zusammenbleiben, wenn migrierende Kolonnen sich vor einer Niederlassung wiederholt verzweigen oder wenn Herden ihren Anführern an bekannte Futterstellen folgen. Sogar zufällig können sie über gegenseitige lokale Attraktion zusammenfinden.[50]

Der Prozess der Gruppenbildung wirkt sich vermutlich stark auf die Wahrscheinlichkeit einer Entwicklung hin zur Eusozialität aus. Am wichtigsten ist dabei die Verstärkung der Gruppenkohäsion und -persistenz. Wie bereits dargestellt, weisen alle bekannten lebenden Evolutionslinien mit primitiv eusozialen Arten (stacheltragende Wespen, Wildbienen der Unterfamilien Halictinae und Xylocopinae, schwammbewohnende Krebse, Termiten der Familie Termopsidae, in Kolonien lebende Blattläuse und Blasenfüße, Ambrosiakäfer und Nacktmulle) Kolonien auf, die verteidigenswerte Nester bauen und bewohnen. In wenigen Fällen bündeln nichtverwandte Individuen ihre Kräfte und bilden kleine Festungen. Nicht miteinander verwandte Kolonien von Zootermopsis angusticollis zum Beispiel fusionieren im Lauf mehrerer Kämpfe zu einer Superkolonie mit einem einzigen Königspaar.[51] In den meisten Fällen tierischer Eusozialität dagegen startet die Kolonie mit einer einzelnen begatteten Königin (zum Beispiel bei den Hautflüglern) oder einem begatteten Paar (Termiten). Daher wächst die Kolonie in den meisten Fällen über die Nachkommen, die als nichtreproduktive Arbeiter dienen. Bei wenigen, primitiveren eusozialen Arten beschleunigt sich das Wachstum, indem fremde Arbeiter aufgenommen werden oder nicht miteinander verwandte Gründerköniginnen kooperieren.

Die Gruppierung in Familien kann die Verbreitung eusozialer Allele beschleunigen, führt aber nicht selbst zu fortgeschrittenem Sozialverhalten. Dessen eigentliche Ursache ist der Vorteil eines verteidigenswerten Nestes, insbesondere wenn es aufwändig zu bauen ist und in Reichweite einer nachhaltigen Futterquelle liegt. Aufgrund dieser Vorbedingung bei den Insekten ist enge genetische Verwandtschaft bei der primitiven Koloniegründung die Folge und nicht die Ursache eusozialen Verhaltens.

Das zweite Stadium ist die zufällige Häufung anderer Merkmale, die den Übergang zur Eusozialität immer wahrscheinlicher machen. Am wichtigsten ist dabei eine fürsorgliche Pflege der im Nest heranwachsenden Brut – die Jungen werden progressiv befüttert, die Brutkammern werden gereinigt oder bewacht, womöglich eine Kombination der drei Faktoren. Wie zum Bau eines verteidigenswerten Nests durch den solitären Vorfahren kommt es zu diesen Präadaptionen durch Individualselektion; dass sie später beim Aufkommen der Eusozialität eine Rolle spielen werden, ist nicht geplant (die Evolution durch natürliche Selektion kann die Zukunft nicht prognostizieren). Die Präadaptionen sind Produkte der adaptiven Radiation, in deren Verlauf sich Arten auffächern und ökologisch unterschiedliche Nischen besetzen. Je nachdem, auf welche Nischen sie sich spezialisieren, ist es für einige Arten mehr oder weniger wahrscheinlich, dass sie Präadaptionen mit hohem Potenzial erwerben. Einige Arten etwa leben per Zufall in Lebensräumen ohne viele Fressfeinde. Da die Notwendigkeit, die Brut zu beschützen, hier weniger drängend ist, werden sie wahrscheinlich in ihrer sozialen Evolution stabil bleiben oder sich ganz in Richtung einer solitären Lebensform entwickeln. Andere Arten sind in ihrem Lebensraum dagegen ständig gefährlichen Feinden ausgesetzt – sie werden sich stärker der Schwelle zur Eusozialität annähern und diese auch wahrscheinlicher überschreiten. Die Theorie dieses Stadiums ist die Theorie der adaptiven Radiation, die unabhängig von den Untersuchungen zur Eusozialität schon umfassend formuliert wurde.

Der dritte Evolutionsschritt hin zum fortgeschrittenen Sozialverhalten ist die Entstehung eusozialer Allele, entweder durch Mutation oder durch Immigration mutierter Individuen von außen. Zumindest bei präadaptierten Hautflüglern (Bienen und Wespen) kann dieses Ereignis auch als Punktmutation auftreten. Außerdem muss die Mutation nicht unbedingt den Aufbau eines neuen Verhaltens vorschreiben. Sie kann auch einfach alte Verhaltensformen abschalten. Um die Schwelle zur Eusozialität zu überschreiten, müssen nur ein Weibchen und seine erwachsenen Nachkommen sich nicht verstreuen, um neue, individuelle Nester zu gründen, sondern im alten Nest verbleiben. Wenn an diesem Punkt der umweltbedingte Selektionsdruck stark genug ist, fangen die «sprungbereiten» Präadaptionen an zu wirken, und die Gruppenmitglieder beginnen das Zusammenspiel, das sie zu einer eusozialen Kolonie macht.

Bisher wurden eusoziale Gene noch nicht identifiziert, aber wir kennen mindestens zwei andere Gene oder kleine Gengruppen, die größere Veränderungen an sozialen Merkmalen steuern, indem sie Mutationen an präexistierenden Merkmalen abschalten. Diese Beispiele lassen auf Fortschritte sowohl in der Theorie als auch in der Genanalyse hoffen; zugleich bringen sie uns zur vierten Phase in der Evolution der Eusozialität bei Tieren. Sobald die verwandten und untergeordneten Nachkommen im Nest verbleiben wie bei primitiv sozialen Bienen- oder Wespenfamilien, kommt es zur Gruppenselektion; diese zielt ausnahmslos auf die emergenten Merkmale, die sich aus dem Zusammenspiel der Koloniemitglieder ergeben. Die Selektionskräfte führen mit hoher Wahrscheinlichkeit zur Herausbildung eines Warnsystems über Alarmrufe oder chemische Signale. Es kommt zur Entwicklung von Körpergerüchen, um die eigene von fremden Kolonien zu unterscheiden. Wahrscheinlich werden Möglichkeiten erfunden, Nestgefährten zu neu entdecktem Futter zu führen. Und zumindest in den fortgeschritteneren Stadien kommt es zwischen den reproduktiven Königinnen und der dienenden Arbeiterkaste zur Evolution von Unterschieden in Anatomie und Verhalten.

Betrachtet man die emergenten Merkmale, an denen die Gruppenselektion greift, so ist eine neue Form der theoretischen Forschung vorstellbar. Hervorgehoben wurde etwa kürzlich das Phänomen, dass die unterschiedlichen Rollen der reproduktiven Eltern und ihres nicht reproduktiven Nachwuchses nicht genetisch bedingt sind. Forschungsergebnisse an primitiv eusozialen Arten beweisen vielmehr, dass beide alternative Phänotypen desselben Genotyps sind. Anders gesagt, bei Königin und Arbeiterinnen werden Kaste und Arbeitsteilung von identischen Genen vorgegeben, obwohl gleichzeitig andere Gene durchaus stark variieren. Dieser Umstand untermauert die Vorstellung, dass sich die Kolonie als individueller Organismus betrachten lässt oder, genauer, als individueller Superorganismus. In der Frage des Sozialverhaltens vollzieht sich die Vererbung von Königin zu Königin, die Arbeiter sind jeweils nur ihre Extension.[52] Es kommt weiterhin zur Gruppenselektion, aber sie vollzieht sich an den Merkmalen der Königin und an der extrasomatischen Projektion ihres persönlichen Genoms.[53] Dieses Verständnis wirft eine neue Form theoretischer Untersuchungen auf, außerdem Fragen, die sich nur durch neue Ansätze empirischer Forschung entscheiden lassen.

In der vierten Phase werden diejenigen Umweltkräfte identifiziert, die die Gruppenselektion vorantreiben – folgerichtig ein Thema für kombinierte Untersuchungen der Populationsgenetik und der Verhaltensökologie. In diesem Gebiet werden nur zögerlich die ersten Forschungsprogramme ausgeschrieben, was zum Teil darauf zurückzuführen ist, dass den Selektionskräften der Umwelt, die die frühe eusoziale Evolution bewirken, nur ein vergleichsweise geringes Augenmerk gilt. Die Naturgeschichte der primitiven eusozialen Tiere und besonders die Struktur ihrer Nester sowie der Umstand, dass sie erbittert verteidigt werden, legen nahe, dass die Verteidigung gegen Feinde (Parasiten, Fressfeinde und rivalisierende Kolonien) ein Schlüsselelement im Aufkommen der Eusozialität ist. Um diese und möglicherweise konkurrierende Hypothesen zu prüfen, wurden aber bisher nur wenige Feld- und Laborstudien ausgewiesen.

In der fünften und letzten Phase werden bei den fortgeschritteneren eusozialen Arten durch Gruppenselektion (zwischen Kolonien) Lebenszyklus und Kastensystem geformt. Viele Evolutionslinien haben dabei sehr spezialisierte, ausgefeilte soziale Systeme entwickelt. Vorreiter bei diesen Systemen ist nicht der Mensch, sondern sind die Insekten, insbesondere die auf der fortgeschrittensten Ebene – Honigbienen, stachellose Bienen, Blattschneiderameisen, Weberameisen, Heeresameisen und hügelbauende Termiten.

Knapp zusammengefasst, muss eine vollständige Theorie der eusozialen Evolution aus einer Folge von experimentell überprüften Stadien bestehen, von denen folgende bereits klar identifiziert sind:

1. Gruppenbildung.

2. Das Auftreten einer minimalen, notwendigen Kombination präadaptiver Merkmale in den Gruppen, die die Gruppenkohäsion erheblich stärken. Zumindest bei Tieren gehört dazu ein wertvolles, verteidigenswertes Nest. Die Nest-Bedingung erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass primitiv eusoziale Gruppen Familien sind – Eltern und Nachwuchs bei Insekten und anderen Wirbellosen, erweiterte Familien bei Wirbeltieren.

3. Das Auftreten von Mutationen, die die Beständigkeit der Gruppe vorgeben, am wahrscheinlichsten durch das Abschalten von Verhaltensstreuungen. Ganz offensichtlich bleibt ein dauerhaftes Nest der Schlüsselfaktor bei der Erhaltung der Prävalenz. Primitive Eusozialität kann in unmittelbarer Folge «sprungbereiter» Präadaptionen auftreten, die sich in früheren Stadien entwickelt haben und per Zufall Gruppen dazu veranlassen, sich eusozial zu verhalten.

4. Bei Insekten werden durch Gruppenselektion unter dem Einfluss von Umweltkräften emergente Merkmale herausgeformt, die entweder durch das Vorhandensein roboterartiger Arbeiterinnen oder durch das Zusammenspiel der Gruppenmitglieder entstehen.

5. Gruppenselektion bewirkt häufig extrem bizarre Veränderungen im Lebenszyklus und den Sozialstrukturen der Insektenkolonie, so dass differenzierte Superorganismen entstehen.

Da die beiden letzten Schritte nur bei Insekten und anderen Wirbellosen vollzogen wurden, stellt sich die Frage, wie die Spezies Mensch ihre einzigartige, auf der Kultur fußende soziale Lebensform erreicht hat. Welchen Stempel hat der aus Kultur und Genetik kombinierte Prozess der menschlichen Natur aufgeprägt? Oder anders gesagt, was sind wir?

Die soziale Eroberung der Erde: Eine biologische Geschichte des Menschen
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