4.
DIE ANKUNFT

Vor zwei Millionen Jahren schritten hominide Primaten auf verlängerten Hinterbeinen über den Boden Afrikas. Nehmen wir die genetische Vielfalt zum Kriterium, die sich an Erbunterschieden in der Anatomie messen lässt, so waren sie ein Erfolg. Sie hatten eine adaptive Radiation erreicht, bei der viele Arten gleichzeitig koexistierten und sich zumindest teilweise in ihrer geografischen Verteilung überschnitten. Zwei oder drei von ihnen waren Australopithecina, und mindestens drei unterschieden sich in Gehirngröße und Gebiss so stark, dass die Taxonomen sie in die neu herausgebildete Gattung Homo einordnen. Alle lebten in einer komplexen Umwelt, in der sich Savanne, Savannenwald und flussnahe Weichholzauen mischten. Australopithecina waren Vegetarier und ernährten sich von Blättern, Früchten, Wurzeln und Samen. Pflanzliche Nahrung sammelten und aßen auch die Homo-Arten, aber zusätzlich verzehrten sie Fleisch, wahrscheinlich indem sie Kadaver größerer Beutetiere ausweideten, die andere Räuber überwältigt hatten; mit kleineren Tieren wurden sie selbst fertig. Dieser Wandel, der in eine freie Abzweigung im Labyrinth der Evolution führte, sollte den alles entscheidenden Unterschied ausmachen.

Die hominiden Primaten von vor zwei Millionen Jahren waren recht unterschiedlich, allerdings auch nicht vielfältiger als die zahlreichen Antilopen und geschwänzten Altweltaffen (Cercopithecoidea) in ihrem Umfeld. Sie wiesen ein hohes Potenzial auf – wie unser eigenes Dasein bezeugt. Trotzdem war ihr dauerhaftes Überleben von einer Generation zur nächsten immer gefährdet. Ihre Populationen waren im Vergleich zu den großen Pflanzenfressern spärlich, und sie waren weniger zahlreich als einige der menschengroßen Fleischfresser, die Jagd auf sie machten.

4.1 Rekonstruktion eines Verbandes des Australopithecus afarensis, eines Vorläufers und wahrscheinlichen Vorfahren des Menschen, der vor fünf bis drei Millionen Jahren in Afrika lebte.

Während des häufig unwirtlichen, zehn Millionen Jahre dauernden Neogens entwickelten sich vor und zeitgleich mit dem Aufkommen der hominiden Primaten häufiger neue Säugetierarten, die genauso groß waren wie der Mensch; aber sie starben auch häufiger aus.[8] Kleinere Säugetiere konnten extreme Umweltveränderungen im Durchschnitt besser abpuffern als große Säugetiere (darunter auch der Mensch). Dazu bauten sie Höhlen, machten Winterschlaf, fielen in Hunger- oder Kältestarre; alle diese Anpassungen sind größeren Säugetieren verwehrt. Paläontologen haben festgestellt, dass die Artenfluktuation bei Säugetieren, die soziale Gruppen bilden, sogar noch höher war. Sie weisen darauf hin, dass soziale Gruppen während der Brutzeit dazu neigen, sich voneinander abzusondern, also kleinere Populationen bilden und sich damit sowohl rascherer genetischer Divergenz als auch höheren Aussterbensraten aussetzen.[9]

Während der sechs Millionen Jahre zwischen der Trennung von Schimpansen und Vormenschen bis zum Ursprung des Homo sapiens kam es zu einer raschen Ereignisfolge, die in der Auswanderung dieser Art aus Afrika kulminierte. Als die Kontinentalgletscher sich südwärts über Eurasien ausbreiteten, gab es in Afrika eine lange Trocken- und Kältephase. Ein Großteil des Kontinents war von trockenem Grasland und Wüsten überzogen. In dieser schwierigen Zeit hätte der Tod von ein paar tausend Individuen, vielleicht sogar nur von ein paar Hundert die Abstammungslinie des Homo sapiens ganz auslöschen können. Doch obwohl die Hominini sich diesem Spießrutenlauf der Umwelt aussetzen mussten – oder vielleicht gerade deswegen –, bildete sich der Homo sapiens heraus und war im Begriff, sich auch außerhalb Afrikas zu verbreiten.

Was trieb die Hominini dazu an, größere Gehirne, höhere Intelligenz und schließlich eine auf Sprache beruhende Kultur herauszubilden? Natürlich ist das die Frage der Fragen. Die Australopithecina hatten bereits einige der wesentlichen Präadaptionsstufen erreicht. Nun ging eine ihrer Arten noch die weiteren Schritte, die sie zur weltweiten Dominanz und zum Potenzial einer virtuell unbegrenzten Lebenszeit führen sollte.

Dieses Ziel, einer der sechs großen Übergänge in der Geschichte des Lebens, wurde nicht in einem einzigen Sprung erreicht. Die Evolution, die darauf hinführte, hatte schon sehr viel früher begonnen. Zwei bis drei Millionen Jahre zuvor war eine der Australopithecina-Arten zum Verzehr von Fleisch übergegangen. Genau genommen wurde sie zum Allesfresser, nahm also das Fleisch in ihren bereits existierenden pflanzlichen Speiseplan mit auf. Zu diesem Wandel kam es zu Zeiten des Homo habilis, einer von Australopithecina abstammenden Art, die aus Fossilienfunden in der Olduvai-Schlucht in Tansania bekannt ist und auf ein Alter von 1,8 bis 1,6 Millionen Jahren geschätzt wird. Obwohl er nicht zweifelsfrei als direkter Vorfahre des Homo sapiens feststeht, besaß der Homo habilis wesentliche Merkmale, die eine Verbindung zwischen den primitiven Australopithecina und den ältesten bekannten, etwas weiter entwickelten Arten herstellen, die mit ausreichender Gewissheit als direkte Vorfahren des Homo sapiens gelten können. Der Homo habilis wies ein größeres Gehirnvolumen auf als die Australopithecina, nämlich 640 cm2 im Vergleich zu 400 bis 550 cm2, damit aber immer noch nur die Hälfte des Gehirnvolumens beim modernen Menschen (Homo sapiens). Seine Backenzähne waren kleiner: eine verbreitete Begleiterscheinung bei der Evolution zum Fleischfresser. Die Eckzähne waren verbreitert, was womöglich ein weiterer Beweis für das Umschwenken auf Fleischnahrung ist. Der Schädel des Homo habilis wies verkleinerte Überaugenwülste auf, und sein Gesicht hatte eine weniger ausgeprägte Schnauze als das der eher affenartigen Australopithecina. Die Falten des Stirnlappens im Gehirn waren in einem Muster angeordnet, das dem des modernen Menschen ähnelt. Weitere Gehirnmerkmale wiesen auf die moderne Menschheit hin, etwa die gut entwickelten Wülste im Broca-Areal und einem Teil des Wernicke-Zentrums, die zu den Sprachzentren beim modernen Menschen gehören.[10]

Der Status des Homo habilis und anderer Hominini-Arten, die vor zwei bis drei Millionen Jahren in Afrika lebten, ist daher für die Untersuchung der menschlichen Evolution entscheidend. Die Veränderungen an seinem Schädel lassen sich als Startphase des evolutionären Sprints zur modernen Natur des Menschen interpretieren. Sie stehen nicht nur für einen anatomischen Fortschritt, sondern für einen grundlegenden Wandel in der Lebensweise der Habilis-Population. Ganz einfach gesagt, wurde der Homo habilis geschickter als die anderen Hominini in seiner Umgebung.

4.2 Ein entscheidender Fortschritt im Evolutionslabyrinth. Der Homo habilis, hier mit einem getöteten Beutetier, ist zu größerem Fleischkonsum übergegangen und setzt Steinwerkzeuge ein, um Tierkadaver zu zerteilen.

Warum aber entwickelte sich genau eine Linie der Australopithecina in diese Richtung? Viele Paläontologen sind der Meinung, dass Veränderungen in Klima und Vegetation Afrikas die Evolution der Anpassungsfähigkeit förderten.[11] Daten zu Anstieg und Abnahme bestimmter Tierarten weisen darauf hin, dass ganz Afrika vor 2,5 bis 1,5 Millionen Jahren trockener wurde. Fast überall auf dem Kontinent wurden Regenwälder zu tropischen Trockenwäldern und Übergangs-Savannenwald, der sich dann überwiegend zu durchgängigem Grasland und übergreifenden Wüsten entwickelte. Die Australopithecina hätten sich demnach der unwirtlicheren Umwelt durch größere Variierung ihrer Nahrung angepasst. Sie könnten zum Beispiel Werkzeuge verwendet haben, um Wurzeln und Knollen auszugraben, die in Trockenzeiten als Vorrat dienten. Kognitiv waren sie dazu mit Sicherheit in der Lage. Moderne Schimpansen im Savannenwald wurden bei dieser Praxis nachweislich beobachtet: Sie verwenden Rinderknochen und Holz- und Rindenbruch als Grabwerkzeuge.[12] In der Nähe der Küsten oder von Binnengewässern könnten die Australopithecina auch Krustentiere verzehrt haben.

Vielleicht, so lautet die traditionelle Argumentation, gaben die Herausforderungen der neuen Umwelt denjenigen genetischen Typen einen Vorteil, die innovative Fertigkeiten aufbringen und einsetzen konnten, um Feinden aus dem Weg zu gehen, und zugleich die Fähigkeit entwickelten, im Kampf um Futter und Reviere Konkurrenten auszustechen. Diese genetischen Typen waren innovationsfähig und in der Lage, von ihren Konkurrenten zu lernen. Sie überlebten die harten Zeiten. Nur die flexible Art entwickelte größere Gehirne.

Wie behauptet sich diese verbreitete Innovations- und Adaptivitätshypothese, wenn man sie an anderen Tierarten testet? Eine Studie an 600 Vogelarten, die vom Menschen in Gebieten eingeführt wurden, in denen sie nicht heimisch waren, also in artfremde Lebensräume, scheint diese Vorstellung zu stützen.[13] Die Arten, deren Hirnvolumen im Verhältnis zur Körpergröße größer war, konnten sich durchschnittlich in der neuen Umwelt besser etablieren. Zudem nutzten sie dazu nachweislich ihre größere Intelligenz und Erfindungsgabe. Allerdings ist es vielleicht voreilig, eine erfasste Tendenz von nichtheimischen Vögeln auf die Geschichte des Menschen zu übertragen. Die untersuchten Arten waren ganz plötzlich in die radikal veränderten Lebensräume geworfen worden. Ihre Aussonderung unterschied sich qualitativ sehr stark von dem natürlichen Selektionsdruck, der auf unseren Vorfahren unter den Australopithecina vor dem Homo habilis lastete. Anders als die umgesiedelten Vögel entwickelten sich diese Arten schrittweise über viele tausend Jahre, in denen auch ihre Umwelt sich allmählich veränderte.

Die Veränderung, die sich entscheidend auf die Evolution der frühen Hominiden auswirkte, bestand wohl eher darin, dass ihnen eine steigende Gesamtfläche von Grasland und Savannenwald zur Verfügung stand. Man sollte sich die Hominiden besser als Spezialisten für genau diese Lebensräume vorstellen statt als Art, die sich auf Veränderungen rund um oder innerhalb ihres Lebensraums anpassen kann. Alle Biologen, die speziell im Savannenwald gearbeitet haben, kennen die schier grenzenlose Vielfalt von Sub-Habitaten, aus denen sich diese Ökosysteme zusammensetzen. Unterschiedlich dichte Waldbestände sind unterbrochen von Streifen offenen Graslands, dazwischen flussnahe Gehölze sowie Inseln dichter Wälder in saisonal überfluteten Bodenmulden. Mit den Jahrhunderten verändern sich die einzelnen Komponenten, eine weicht der anderen, es geht vor und zurück, aber die Häufigkeit jeder einzelnen Komponente und die kaleidoskopischen Muster, die sie gemeinsam bilden, verändern sich sehr viel langsamer, zumindest wenn man Tiergenerationen und die ökologische Zeit als Maßstab ansetzt. Als große Tiere müssen die Hominiden Habitate von mindestens zehn Kilometer Durchmesser bewohnt haben. Bei der Vielzahl der unterschiedlichen vorhandenen Lebensräume konnten sie das Grasland auf der Suche nach Beute und Pflanzennahrung durchstreifen und sich beim Auftauchen eines Raubtiers im Laufschritt in die nahen Gehölze retten, wo sie auf Bäume kletterten und sich versteckten. Sie konnten sowohl im offenen Boden essbare Knollen ausgraben als auch Früchte und essbare Pflanzenspitzen von Büschen und Bäumen im Wald pflücken. Ich vermute, dass sie sich nicht an einen bestimmten dieser lokalen Lebensräumen anpassten oder von einem Ökosystem ins andere überwechselten, sondern sich an die wachsende Ausdehnung und die im Maßstab der Evolution relativ hohe Konstanz der kaleidoskopischen Muster adaptierten, die die örtlichen Gegebenheiten bildeten.

Wahrscheinlich lebten die frühen Hominiden in Gruppen von bis zu mehreren Dutzend Individuen, so wie unsere engsten noch lebenden Verwandten, der gemeine Schimpanse und der Bonobo. Es klingt nach einer Binsenweisheit: Wenn komplexeres Sozialverhalten die Evolution eines im Verhältnis zur Körpergröße umfangreicheren Gehirns erfordert, dann weist ein größeres Gehirnvolumen auf die Präsenz von Sozialverhalten hin. Demnach wäre ein größeres Gehirn, das in Reaktion auf eine sich wandelnde Umwelt entstanden ist, ein Vorläufer, der die Ausbildung von Sozialverhalten erwarten lässt. Doch als in einer großen Stichprobe lebender und fossiler Fleischfresser, darunter Katzen, Hunde, Bären, Wiesel und ihre Verwandten, ein solches Verhältnis zwischen Hirnvolumen und Sozialverhalten getestet wurde, ließ sich diese Korrelation nicht nachweisen. Die Assoziierung trat weder allgemein auf noch war sie stark genug, um eine messbare Tendenz abzugeben. John A. Finarelli und John J. Flynn, die die Studie durchführten, schlossen daraus, dass «die moderne Distribution der Enzephalisation, der Gehirnausbildung, bei Karnivoren durch komplexe Prozesse herausgeformt wurde».[14] In anderen Worten, wir müssen mehrere Selektionskräfte ausfindig machen.

Wenn es keine Anpassung an Umweltveränderungen war (was freilich alles andere als abschließend geklärt ist), was löste dann das schnelle evolutionäre Wachstum des menschlichen Gehirns aus? Einer der Gründe war wahrscheinlich der allmählich wachsende Rückgriff auf Fleisch als Hauptproteinquelle; nachweisbar ist er durch die grundlegenden Veränderungen in der Schädel- und Gebissanatomie. Auch zu diesem Wandel kam es nicht plötzlich. Zunächst weideten die Vorgänger des Homo habilis wahrscheinlich Teile von Leichnamen großer Tiere ab. Die ältesten bekannten Steinwerkzeuge, die für die eine oder andere Funktion grob abgeschlagen waren, sind sechs bis zwei Millionen Jahre alt. Aus ihrer länglichen Form und den scharfen Kanten, außerdem aus Einkerbungen auf einem fossilen Antilopenknochen, lässt sich begründet ableiten, dass diese Werkzeuge dazu benutzt wurden, Fleisch und Mark großer Tiere abzukratzen, vielleicht nachdem andere Aasfresser vertrieben worden waren.[15] Die Hominiden in diesem Stadium der Evolution waren ganz offensichtlich Australopithecina.

Vor etwa 1,95 Millionen Jahren, zu Zeiten des Homo habilis und vor dem Aufkommen des bereits moderner wirkenden Homo erectus, erjagten dessen Abkommen, die ältesten Hominini, auch Beute im Wasser, also Schildkröten, Krokodile und Fische.[16] Letztere waren höchstwahrscheinlich Welse, die auch heute noch bei Trockenzeiten in Wasserrückstandsbecken in großer Dichte konzentriert vorkommen und sich leicht mit der Hand fangen lassen. Bei meiner eigenen zoologischen Feldforschung bin ich immer wieder auf trockenfallende Teiche gestoßen, in denen sich Fische und Wasserschlangen ohne große Anstrengung mit Netzen bedecken und zu Dutzenden hochziehen lassen. (Es war so leicht, dass ich mir durchaus vorstellen kann, mit einer Gruppe Habiles das Abendessen zu erjagen, wenn sie sich einmal an meine Hochwüchsigkeit und meine seltsame Kopfform gewöhnt haben.)

Doch die Jagd auf Beutetiere und damit die Versorgung mit tierischen Proteinen, die sich beim einzelnen Tier positiv auf die Gehirnentwicklung auswirken, erklärt für sich genommen noch nicht, warum das Gehirn der Hominiden so extrem anwuchs. Der eigentliche Grund liegt offenbar darin, wie die Beute erjagt wurde. Moderne Schimpansen jagen überwiegend geschwänzte Affen und holen etwa drei Prozent ihrer gesamten Kalorienzufuhr aus dem so gewonnenen Fleisch. Beim modernen Menschen liegt dieser Anteil, wenn er die Wahl hat, zehnmal so hoch. Doch selbst bei dem kleineren Anreiz bilden Schimpansen für die Jagd organisierte Gruppen und entwickeln komplexe Strategien. Ihr Verhalten ist unter Primaten im Grunde einzigartig. Die einzigen anderen nichtmenschlichen Primaten, die beim Jagen nachweislich kooperieren, sind die über große Hirne verfügenden Kapuzineraffen in Mittel- und Südamerika.

Dem Jagdrudel gehören beim Schimpansen ausschließlich Männchen an. Sie wurden dabei beobachtet, wie sie in koordinierten Gruppen Affen fingen. Ein Affe, der von seiner eigenen Gruppe getrennt werden konnte, wird zunächst auf einem relativ isoliert stehenden Baum in die Enge getrieben. Ein oder zwei Schimpansen klettern auf diesen Baum, um das Beutetier nach unten zu scheuchen, während andere sich unten an die nächstgelegenen Bäume stellen, um zu verhindern, dass der Affe in die Kronen anderer Bäume gelangt und an deren Stämmen abwärts und in die Freiheit klettert. Ist die Beute gefasst, so wird sie zu Tode geprügelt und gebissen. Dann zerreißen die Jäger sie und teilen das Fleisch untereinander auf. Widerwillig werden auch kleine Stücke an andere Gruppenmitglieder abgegeben. Dasselbe Verhalten wurde bei Bonobos beobachtet, den nächsten lebenden Verwandten von Schimpansen; allerdings wirken hier beide Geschlechter mit.[17] Das Jagdfieber wird dadurch nicht geringer, auch nicht, wenn Weibchen das Geschehen dominieren.

4.3 Der Homo erectus, in dem die Forschung den unmittelbaren Vorfahren des Homo sapiens sieht, vollzog die nächsten beiden großen Schritte hin zum modernen menschlichen Sozialverhalten: die Einrichtung von Lagerstätten und die Beherrschung des Feuers.

Jagen in Gruppen ist bei Säugetieren insgesamt selten. Außer Primaten praktizieren die gemeinsame Jagd noch Löwinnen (die ein oder zwei Männchen des Rudels bekommen einen Teil der Beute, jagen aber selten selbst). Auch bei Wölfen und afrikanischen Wildhunden kommt sie vor.

Die Evolutionsgeschichte von Schimpansen und Bonobos reicht sechs Millionen Jahre zurück; etwa zu dieser Zeit trennte sich ihre Abstammungslinie von der des Menschen. Vor dieser Trennung hatten wir gemeinsame Vorfahren – warum also haben sie nicht auch das Niveau des Menschen erreicht? Vielleicht liegt es daran, dass die Vorfahren von Schimpansen und Bonobos in geringerem Maße in das Fangen und Verzehren von lebenden Tieren investierten. Die Populationen, die sich zum Homo weiterentwickelten, spezialisierten sich auf einen hohen Konsum tierischer Proteine in ihrer Nahrung. Um ihn zu erreichen, mussten sie in großem Ausmaß im Team arbeiten, aber diese Mühe war es wert: Fleisch ist, aufs Gewicht bezogen, energieeffizienter als pflanzliche Nahrung. Extrem wurde diese Tendenz in den Populationen des Homo neanderthalensis, der eiszeitlichen Schwesterart des Homo sapiens, die im Winter vollständig auf erjagte Tiere zurückgriff, darunter auch Großwild.[18]

4.4 Die für die Beschreibung der Evolution des Menschen gebräuchliche Bezeichnungsweise. Wir sehen hier die Abzweigungen im evolutionären Stammbaum der Altweltaf en, mit den wissenschaftlichen und den deutschen Namen der Affen und Menschen sowie den übergeordneten Gruppen.

Ein Stück fehlt noch im Minimalszenario für das Aufkommen großer Gehirne und eines komplexen Sozialverhaltens bei frühen Hominiden. Jede andere bekannte Tierart, die Eusozialität herausgebildet hat, begann, wie gesagt, mit einem geschützten Nest, von dem aus Streifzüge zur Futtersuche unternommen werden konnten. Andere Arten relativ großer Tiere, die in Sachen Eusozialität fast genauso weit fortgeschritten sind wie die Ameisen, sind die in Ostafrika heimischen Nacktmulle (Heterocephalus glaber). Auch für sie gilt das Prinzip des geschützten Nests. Jede aus einer erweiterten Familie zusammengesetzte Gruppe belegt und verteidigt ein System unterirdischer Bauten. Es gibt eine «Königin», die Mutter, und «Arbeiterinnen», die zwar fortpflanzungsfähig -wären, aber keine Nachkommen haben, solange die Königin aktiv bleibt. Sogar «Soldaten» gibt es, die vor allem damit beschäftigt sind, das Nest gegen Schlangen und andere Feinde zu verteidigen. Eine weitere Art, die eine allerdings anders ausdifferenzierte Eusozialität lebt, ist der Damara-Graumull (Fukomys damarensis) in Namibia. Bei den Insekten entsprechen den Nacktmullen am ehesten die eusozialen Blasenfüße (Thripse) und Blattläuse, die auf Pflanzen das Wachstum von Gallen stimulieren. Diese hohlen Verdickungen dienen den Insekten gleichzeitig als Nester und als Nahrungsquelle.

4.5 Stammbaum und Zeitleiste der Australopithecina und des frühen Homo bis zur modernen Menschenart.

4.6 Das schnelle Wachstum des Gehirns bis zu seiner Größe beim modernen Menschen.

Warum ist ein geschützter Nistplatz so wichtig? Weil die Mitglieder der Gruppe dort zwangsläufig zusammenkommen. Ist es erforderlich, dass sie das Nest verlassen und in der Umgebung nach Futter suchen, so müssen sie dorthin zurückkehren. Schimpansen und Bonobos besetzen und verteidigen zwar Reviere, aber sie durchwandern sie auf der Futtersuche. Dasselbe galt wahrscheinlich auch für die Vorfahren des Menschen, die Australopithecina und den Homo habilis. Schimpansen und Bonobos zerfallen wiederholt in Untergruppen und verschmelzen wieder. Sie teilen durch lautes Rufen mit, wenn sie Bäume mit vielen Früchten gefunden haben, aber die gepflückten Früchte teilen sie nicht. Gelegentlich jagen sie in kleinen Rudeln. Erfolgreiche Rudelmitglieder teilen das Fleisch mit den Mitjägern, aber da endet auch schon die Großzügigkeit. Und besonders wichtig ist, dass Affen kein Lagerfeuer haben, um das sie sich versammeln.

Fleischfresser, die sich an Lagerstätten aufhalten, weisen Verhaltensweisen auf, die umherwandernde Individuen nicht benötigen. Sie müssen die Arbeit teilen: Die einen sammeln und jagen Futter, die anderen bewachen das Lager und den Nachwuchs. Sie müssen Nahrung, und zwar pflanzliche wie tierische, so teilen, dass es für alle akzeptabel ist: Sonst würden die Bindungen, die sie zusammenhalten, geschwächt. Außerdem konkurrieren die Gruppenmitglieder unausweichlich miteinander – um einen Status, der ihnen einen größeren Futteranteil sichert, um den Zugang zu einem möglichen Geschlechtspartner und um einen bequemen Schlafplatz. All diese Faktoren verleihen denen einen Vorteil, die die Absichten der anderen erkennen, sich besser Vertrauen und Zusammenhalt verschaffen und mit Rivalen gut umgehen können. Soziale Intelligenz hatte daher immer eine hohe Priorität. Ein geschärfter Sinn für Empathie kann alles verändern, denn er befähigt dazu zu manipulieren, Kooperation zu erwirken oder auch zu betrügen. Um es so einfach wie möglich zu sagen: Soziale Gewitztheit lohnt sich. Ganz zweifellos konnte eine Gruppe kluger Vormenschen eine Gruppe plumper, ignoranter Vormenschen besiegen und vertreiben, so wie es heute bei Armeen, Firmen und Fußballmannschaften der Fall ist.

Die Kohäsion, die sich zwangsläufig aus der Konzentration von Gruppen an geschützten Orten ergab, war mehr als nur ein Schritt im Labyrinth der Evolution. Sie war, wie ich später ausführen werde, das Ereignis, das die Zielgerade zum modernen Homo sapiens eröffnete.

Die soziale Eroberung der Erde: Eine biologische Geschichte des Menschen
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