13.
ERFINDUNGEN, DIE DIE SOZIALEN INSEKTEN VORANBRACHTEN

Ich erzähle nun die Geschichte, wie die sozialen Insekten bis zur Dominanz über die Wirbellosen der landbewohnenden Welt aufsteigen konnten – mit meiner fünfzigjährigen Forschung habe ich zur Klärung dieser Frage beigetragen. Diese winzigen Eroberer drangen nicht wie außerirdische Invasoren in die Umwelt ein. Sie schlichen sich mit leisen, kleinen Schritten herein, und jeder dieser Schritte dauerte Millionen Jahre. Zuerst waren sie normale, ja sogar seltene Elemente in den Wäldern und Wiesen des Mesozoikums. Dann kamen in ihrem Verhalten und der Physiologie Innovationen auf, die den technologischen Erfindungen des Menschen entsprechen. Jede dieser Innovationen ließ sie in neue Nischen vordringen. Ihre Fähigkeit, die Umwelt zu kontrollieren, wuchs, und ihre Zahl wuchs mit. In der Mitte des Eozäns vor 50 Millionen Jahren waren sie die häufigsten mittelgroßen bis großen Wirbellosen zu Land.

Als im späten Jura oder in der frühen Kreidezeit die ersten Ameisen aufkamen, gediehen Termiten bereits seit zig Millionen Jahren, allerdings in einem völlig anderen Teil desselben Ökosystems. Sie waren Abkömmlinge schabenartiger Insekten, deren eigene Abstammungsgeschichte weitere hundert Millionen Jahre ins Paläozoikum zurückreicht. (Eine kurze Pause zur Beantwortung einer häufig gestellten Frage: Wie lassen sich Termiten von echten Ameisen unterscheiden? Ganz einfach: Sie haben keine Wespentaille.) Termiten beherrschten die Technik, abgestorbenes Holz und andere Pflanzenteile zu verdauen, indem sie mit ligninabbauenden Einzellern und Bakterien innerhalb ihrer Verdauungsorgane Symbiosen (enge biologische Partnerschaften) eingingen. Nach einer sehr langen Zeitspanne schufen einige der evolutionär am weitesten fortgeschrittenen Arten regelrechte Städte, bauten ihre Nahrung wie die Blattschneiderameisen in Pilzgärten an und legten in ihren Nestern Klimaanlagen an. Sie verteilten die Arbeit auf eine komplizierte Anordnung physischer Kasten.

In gewisser Hinsicht wurden die Ameisen letzten Endes deshalb die dominantere der beiden Evolutionslinien und Herrinnen über die parallelen Insektenreiche, weil viele ihrer Arten sich auf Termiten als Nahrung spezialisierten, während keine Termitenart je lernte, sich von Ameisen zu ernähren. Doch obwohl ihnen ein so grandioses Schicksal bevorstand, waren die Ameisen keineswegs von Anfang an oder mit einem Schlag die Stärkeren. Mehr als dreißig Millionen Jahre lang, also den Rest des Mesozoikums, blieben sie eine gewöhnliche Art innerhalb einer riesigen Vielfalt solitärer Insekten. Gemeinsam mit anderen Entomologen haben wir Tausende Stücke von fossilem mesozoischem Harz (Bernstein) nach diesen frühesten Ameisen durchsucht. Wir fanden sie in den fossilen Ablagerungen der entsprechenden Ära in New Jersey, Alberta, Sibirien und Myanmar. Am Ende kamen wir auf nicht einmal 1000 Individuen, nur eine kleine Minderheit unter den übrigen, in gleicher Weise konservierten Insekten. Die einzelnen Tiere verteilten sich über eine Zeitspanne von mehreren Millionen Jahren.

Derart alte Ameisenfossile waren der Wissenschaft anfangs gänzlich unbekannt. Für uns war das Mesozoikum, in dem die Frühgeschichte dieser Insekten begonnen haben muss, eine einzige Leerstelle. 1967 dann erhielt ich ein Stück Bernstein von einem Urweltmammutbaum (Metasequoia), das zwei Hobbysammler in New Jersey in einer Gesteinsschicht der Oberkreide gefunden hatten; es war also etwa 90 Millionen Jahre alt. In dem transparenten Bernstein sah man vereint zwei wunderschön erhaltene Ameisenarbeiterinnen. Sie waren beinahe doppelt so alt wie die ältesten bisher bekannten fossilen Ameisen. Als ich dieses Stück Bernstein in der Hand hielt, wusste ich, dass ich als Erster in die uralte Geschichte einer der beiden erfolgreichsten Insektengruppen der Welt blickte. Das war einer der aufregendsten Momente in meinem Leben (obwohl ich durchaus verstehe, wenn der Leser meine Reaktion auf ein fossiles Insekt nicht ganz nachvollziehen kann). Ich war sogar derart erregt, dass ich vor lauter Ungeschick den Bernstein fallen ließ. Er fiel auf den Boden und brach entzwei. Fassungslos starrte ich hinunter, als hätte ich gerade eine unbezahlbare Ming-Vase in Scherben gelegt. Doch an diesem Tag hatte ich wirklich eine Glückssträhne. In jedem Fragment steckte unversehrt eine Ameise, und beide konnten separat poliert werden. Bei einer genauen Untersuchung dieser Schätze stellte ich in der Anatomie der Insekten Merkmale fest, die zwischen modernen Ameisen und Wespen zu situieren waren – eine dieser beiden Linien musste der Vorfahre der Ameisen gewesen sein. Die Hybridität kam bemerkenswert nah an das heran, was ein Forscherkollege, William L. Brown, und ich zuvor bereits vermutet hatten. Wir nannten die neue Art Sphecomyrma, das heißt «Wespenameise». Wegen der großen Bedeutung der Ameisen in der heutigen Welt (schließlich hängt die Umwelt von ihnen ab) wurde Sphecomyrma wissenschaftlich so prominent eingeordnet wie der Archaeopteryx, das erste vergleichbare Fossil, das eine Übergangsform zwischen dem Vogel und seinem Vorfahren, dem Dinosaurier, darstellt, und wie der Australopithecus, das erste bekannte «Missing Link» zwischen dem modernen Menschen und den affenartigen Vorfahren. Die Jagd auf weitere mesozoische Ameisenfossile war damit eröffnet; Ziel war es, die Geschichte dieser sozialen Insekten vollständig zu erarbeiten.

Als die intensivierte Suche mehr Exemplare aufbrachte, beschäftigten uns auch die Veränderungen in der externen Umwelt, die den Aufstieg der Ameisen bis zu ihrer vollständigen Dominanz ermöglicht hatten. Vor 110 bis 90 Millionen Jahren, also immer noch mitten im Mesozoikum, unterliefen die Wälder, in denen die Ameisen lebten, eine tiefgreifende Veränderung, die solchen Fortschritt überhaupt erst erlaubte. Bis dahin waren Bäume und Sträucher überwiegend Nacktsamer, insbesondere Palmfarne, Ginkgos (von denen heute eine einzige Art als Zierpflanze erhalten ist) und vor allem Nadelbäume, etwa Kiefer, Tanne, Fichte, Mammutbaum und andere «Zapfenträger» (daher der Name Koniferen), die weltweit immer noch in den Wäldern vorkommen. Als Ameisen und Termiten die Bühne betraten, weideten überall die pflanzenfressenden Dinosaurier Nacktsamer ab. Termiten fraßen die übrig gebliebene tote Vegetation. Ameisen gruben ihre Nester wahrscheinlich in Stämme von Nacktsamern, in die Bodenstreu und in den Humus des darunterliegenden Bodens. Sie durchsuchten den Boden nach Nahrung und erkletterten Farne und die Kronen der Bäume. Heute können Entomologen eine Vielzahl von Arten untersuchen, die im Harz von Metasequoia-Bäumen eingeschlossen wurden, eine der häufigsten Nadelholzarten im Mesozoikum. Einige Fossilien sind in diesem Material sehr gut erhalten und geben uns Einblick in anatomische Details, aus denen sich die frühen Stadien in der Evolution der Ameisen rekonstruieren lassen.

Mit Hilfe der Überreste vieler anderer Tier- und Pflanzenarten konnten wir in einem Forscherteam rekonstruieren, was dann geschah. Etwa 130 Millionen Jahre vor heute und mit einem Scheitelpunkt vor 100 Millionen Jahren kam es zu einer der radikalsten und bedeutendsten Veränderungen in der Geschichte des Lebens. Die Nacktsamer (Gymnospermae) wurden weitgehend durch Bedecktsamer (Angiospermae) ersetzt, die «Blütenpflanzen», die die Landvegetation heute deutlich dominieren. Mammutbäume und ihre Verwandten gaben den Weg frei für Magnolie, Buche und Ahorn sowie andere verbreitete Bäume, während Palmfarne und Farne ihre Dominanz den Gräsern und krautigen Bedecktsamern und Buschpflanzen der Bodenflora überließen.

Zwei evolutionäre Innovationen dieser Zeit machten die Angiospermae-Revolution möglich. Erstens erlaubte das Endosperm an den Samen (also das Fruchtfleisch, das wir essen) nicht nur ein Überleben unter ungünstigen Bedingungen, sondern auch eine Ausbreitung über größere Distanzen. Zweitens ermöglichten die Blüten und ihre attraktiven Farben und Düfte die Evolution ganzer Heere von Bienen, Wespen, Schwebfliegen, Nachtfaltern, Schmetterlingen, Vögeln, Fledermäusen und anderen spezialisierten Tieren, die den Pollen von der Blüte einer Pflanze zur Blüte anderer Pflanzen derselben Art transportieren. Mit dieser Ausrüstung breiteten sich die Blütenpflanzen weltweit (in geologischen Begriffen gerechnet) relativ schnell aus. Mit zunehmender Ausdehnung und Häufigkeit im Lauf von Millionen Jahren füllten sie die Nischen, die ihnen zur Verfügung standen, und schufen zugleich mit der Masse und der Komplexität ihrer Vegetation ganz neue Nischen. Heute gibt es auf der Erde über 250.000 Blütenpflanzenarten, unter anderem die sehr verbreiteten Roseaceae (Rosen und Verwandte), Fagaceae (Buchen) und Asteraceae (Korbblütler wie Sonnenblumen). Sie bilden die dichten Böschungen am Straßenrand, die Wiesen, Obstgärten, Kulturflächen und – bei Weitem das vielfältigste aller Ökosysteme – die tropischen Regenwälder.

Ameisen schwappten auf der Woge der Evolution von Blütenpflanzen mit. Der Grund für diese Koevolution liegt meiner Überzeugung nach darin, dass die Angiospermae-Wälder substanziell reicher und architektonisch komplizierter waren und damit mehr kleinen Tierarten einen günstigen Lebensraum boten. Unterholz und abgefallene Pflanzenstreu der alten Nacktsamer-Wälder, in denen die Ameisen ursprünglich entstanden waren, waren in ihrer Struktur relativ schlicht. Insekten und anderen Tieren standen demnach weniger Nischen zur Verfügung, und die Vielfalt von Insekten, Spinnen, Tausendfüßern und anderen Gliederfüßern in den Wäldern war proportional kleiner. Dieselbe relative Artenarmut finden wir noch heute in Nacktsamer-Beständen. Die Schichten von Bodenstreu und der Boden unter den Blütenpflanzen der neuen Wälder boten Gliederfüßern eine sehr viel komplexere Umwelt und damit auch den Ameisen, die sich von ihnen ernährten. Die Bodenstreu, in denen Ameisenkolonien vieler Arten ihre neuen Nester bauten, bot eine größere Vielfalt verrottender Zweige, Äste, Blattbüschel und Samenhülsen, in die Kammern und Gänge gegraben werden konnten. Außerdem gab es in der Bodenstreu der Angiospermae je nach Tiefe ein größeres Spektrum unterschiedlicher Temperatur- und Feuchtigkeitsbedingungen. Deswegen stand auch eine größere Vielfalt von Gliederfüßern als Nahrung zur Verfügung. Insgesamt folgte daraus eine globale adaptive Radiation der Ameisen; mehr und mehr Ameisenarten konnten sich weltweit sowohl auf den Neststandort als auch auf die Nahrung, die sie nutzten, spezialisieren. Es gab immer mehr verschiedene Ameisenarten, weil sich ihnen immer neue Nischen eröffneten. Gegen Ende des Mesozoikums vor 65 Millionen Jahren existierten die meisten der zwei Dutzend heute lebenden taxonomischen Unterfamilien der Ameisen.

13.1 Im Reptilienzeitalter in der Kreide fielen Aufstieg und Diversifizierung der heute noch vorhandenen Ameisen zusammen mit der Dominanz von Blütenpflanzen (Angiospermae) über die globale Flora.

Doch selbst bei dieser bereits großen Vielfalt erreichte die wachsende Ameisenfauna nicht sofort die heutige zahlen mäßige Dominanz in Organismen und Kolonien. Die ältesten Fossile, die den Entomologen aus Bernstein- und Steineinschlüssen bekannt sind, sind im Vergleich zu anderen Insekten nur mäßig häufig. Wohl gegen Ende des Mesozoikums («Reptilienzeitalter») und mit Sicherheit nicht später als in den ersten 15 Millionen Jahren des darauffolgenden Känozoikums («Säugetierzeitalter») machten die Ameisen zwei weitere evolutionäre Fortschritte, die ihre heutige weltweite Dominanz mit begründen.

Die erste Innovation betraf die kuriose Partnerschaft, die viele Vertreter dieser Art mit Insekten eingingen, die sich von Pflanzensäften ernähren. Blatt-, Schild- und Schmierläuse und andere Arten von Gleichflüglern (Homoptera) stechen mit ihren schnabelartigen Mundwerkzeugen in die Pflanze und saugen Saft und andere Flüssigkeiten heraus. Jedes einzelne Tier muss große Mengen dieser Substanzen aufnehmen, um genug Nährstoffe für Wachstum und Reproduktion zu erhalten. Eine Nebenwirkung ihrer Ernährungsmethode ist, dass sie einen hohen Durchlauf von Exkrementen und überschüssiger Flüssigkeit haben. Die Tröpfchen werden so ausgeschwitzt oder verspritzt, dass sie auf den Boden oder die umliegende Vegetation fallen, damit das klebrige Material sich nicht rund um die Insekten anhäuft. Dieser «Honigtau» ist für die meisten Ameisenarten das reinste Manna. Und für viele Ameisen eine erstrangige Nahrungsquelle.

13.2 Ein kritischer Schritt beim Aufstieg der Ameisen zur Dominanz sind ihre Partnerschaften mit saftsaugenden Insekten; im Tausch gegen die nahrhaften flüssigen Exkremente schützen sie sie vor Räubern und Parasiten. Die Zeichnung zeigt die europäische Waldameise Formica polyctena und ihren symbiotischen Partner, die Blattlaus Lachnus roboris.

Das Aufkommen der Ameisen verschaffte beiden Partnern einen gleichberechtigten Vorteil, und die Symbiose dauert bis heute an. Wenn Blattläuse und andere Saftsauger die Pflanzenepidermis durchstechen, sind sie regelrecht an ihrer Nahrung verankert. Ihre weichen Körper bilden mundgerechte Bissen für eine Menge Räuber und Parasiten, die durch das Laub schwärmen. Wespen, Käfer, Florfliegen, Fliegen, Spinnen und andere können die gesamte Population auf einer Pflanze im Handumdrehen vernichten. Die Saftsauger brauchen beständigen Schutz, und ein Bündnis mit den kothungrigen Ameisen ist ein hervorragender Garant dafür. Viele Ameisenarten behandeln jede dauerhafte reichhaltige Futterquelle als Teil ihres Territoriums, selbst wenn sie weit von ihrem Nest entfernt liegt. Von den Saftsaugerherden, die sie als ihr Eigentum beanspruchen, halten sie jeden Fressfeind fern.

In den Millionen Jahren ihrer Evolution gingen Ameisen sogar noch weiter: Sie machten kooperative Blattläuse und andere Saftsauger zu regelrechten Melkkühen. Genauso treffend könnte man übrigens auch sagen, die Saftsauger machten die Ameisen zu regelrechten Milchbauern. Die symbiotischen Saftsauger spritzen ihre Exkremente nun nicht mehr von der Pflanze, auf der sie sitzen, herunter, sondern halten sie zurück, bis eine Ameise kommt und sie leicht mit ihren Antennen berührt, woraufhin der Saftsauger einen großzügigen Tropfen ausscheidet und der Ameise zum Trinken entbietet. Im Laufe der Evolution profitierten beide Symbiosepartner. Andere kamen weniger gut weg. Die Pflanzen verloren einen Gutteil ihres «Pflanzenbluts», und die Fressfeinde der Saftsauger gingen oft hungrig nach Hause. Alle aber überlebten; wir haben hier ein Beispiel für einen natürlichen ökologischen Gleichgewichts zustand.

Bei einer Wanderung durch einen Regenwald auf Neuguinea stieß ich eines Tages auf einen Schwarm riesiger Schildläuse, die sich vom Gestrüpp im Unterholz ernährten. Ihre Körper unter den harten Chitinhüllen, die wirkten wie Schildkrötenpanzer, waren beinahe zehn Millimeter lang. Sie waren begleitet von Ameisen, die durch die Herde wimmelten und tröpfchenweise Honigtau sammelten. Mir kam in den Sinn, dass diese Schildläuse so groß waren (oder andersherum gesehen, dass ich so klein war), dass ich die Rolle einer Ameise spielen konnte. Gleichzeitig war ich glücklicherweise zu groß, als dass die Wächterameisen mich hätten verjagen können, obwohl sie das durchaus versuchten. Ich riss mir ein Kopfhaar aus und berührte damit den Rücken einer Schildlaus – so vorsichtig, wie eine Ameise sie mit den Spitzen ihrer Antennen berührte. Wie erhofft, drang ein großzügiger Tropfen des Exkrements aus. Ich nahm ihn mit einer feinen Pinzette auf, die ich bei mir hatte, und kostete ihn. Er schmeckte leicht süß. Ich wusste auch, dass ich hier eine kleine Portion Aminosäuren bekam, die ein guter Nährstoff für mich gewesen wäre, wäre ich eine Ameise. Aber für die Schildlaus war ich natürlich auch eine Ameise.

Die Partnerschaft zwischen Ameisen und Saftsaugern hat in der geologisch lang andauernden Assoziierung der beiden Insektenarten extrem weit geführt. Viele heutige Ameisenarten verwalten ihre Populationen sechsbeinigen Nutzviehs als Allzweckherden – in Zeiten von Proteinmangel fressen sie auch manche auf. Manche gehen sogar so weit, dass sie sie von ausgeweideten Futterquellen zu neuen, frischeren Pflanzen tragen. Eine Art in Malaysia wurde sogar zum Nomadenhirten, der seine gesamte Kolonie zusammen mit den gefangenen Saftsaugern periodisch von Ort zu Ort bewegt, um dauerhaft hohe Honigtaumengen zu garantieren.[2]

Symbiosen zwischen Ameisen und Homoptera-Saftsaugern sowie den Honigtau sekretierenden Raupen der Schmetterlingsfamilie Lycaenidae (Bläulinge) sind alles andere als triviale Kuriositäten. Rund um die Welt sind sie überaus häufig und gehören zu den wichtigsten Gliedern der Nahrungsketten, die viele terrestrische Ökosysteme zusammenhalten. Für den Menschen sind sie bedeutende Schädlinge in der Landwirtschaft. Den Ameisen dagegen ermöglichten es die Symbiosen, eine völlig neue Dimension der Landumwelt zu besetzen. Waren sie zuvor regelmäßig in die immergrünen Bereiche der tropischen Wälder hinaufgeklettert und zu ihrem Nest auf dem oder kurz über dem Boden zurückgekehrt, so konnten sie jetzt beständig hoch über dem Boden leben. In vielen Regionen der Tropen wurden die Ameisen so zu den häufigsten Insekten in der Blätterkrone.

Lange Zeit stellte die Dominanz der Ameisen in den Bäumen für die Biologen ein Rätsel dar. Wie konnten derart ausnehmende Fleischfresser so große Populationen erhalten? Dass sie so zahlreich am Ende einer Nahrungskette auftraten, schien einem Grundprinzip der Ökologie zu widersprechen. Jedes Gramm eines Fleischfressers verbraucht demnach mehrere Gramm Pflanzenfresser (grob berechnet, zehnmal so viel), etwa wenn ein Mensch Rindfleisch isst. Pflanzenfresser wiederum verzehren noch viel größere Mengen Vegetation, etwa Vieh auf der Weide.

Als irgendwann junge, unternehmungslustige Biologen die tropischen Baumkronen bestiegen und die Ameisengesellschaften dort direkt beobachteten, machten sie eine verblüffende Entdeckung. Die Ameisen sind nur Teilzeit-Fleischfresser. Zu einem großen Anteil ernähren sie sich auch von Pflanzen. Genauer gesagt, sie sind indirekte Pflanzenfresser. Baumameisen können Vegetation noch immer nicht selbstständig verdauen wie Raupen und Schildläuse. Dazu müsste ihr Verdauungssystem komplett umgerüstet werden. Sie können aber von den nährstoffreichen Exkrementen saftsaugender Gleichflügler leben, die in den Baumkronen sehr zahlreich sind. Ameisen schützen und steuern sorgfältig Herden von Saftsaugern, die sich in und um ihre Nester ansammeln. Einige der Symbionten werden in «Ameisengärten» gehalten, kugelförmigen Ansammlungen epiphytischer Pflanzen, die von den Ameisen kultiviert werden, etwa Orchideen-, Bromelien- und Gesneriengewächse. Die Gärten dienen sowohl als Behausung als auch als Weiden für die Symbionten.

In den Regenwäldern am Amazonas und auf Neuguinea habe ich selbst diese Gärten untersucht – zugegeben, nur auf den untersten Ästen, wo ich nicht klettern musste. Die Aggressivität dieser Ameisen erschreckte mich. Wann immer ich ein Nest störte, schwärmten zur Verteidigung Arbeiterinnen aus und bissen, stachen und versprühten giftige Sekrete auf jeden erdenklichen Teil von mir, den sie erreichen konnten. Die wahrscheinlich grimmigsten Ameisen der Welt am oder über dem Boden sind die der Art Camponotus femoratus, eine mittelgroße Verwandte der großen Rossameisenart Camponotus pennsylvanicus von der nördlichen Halbkugel. In den südamerikanischen Regenwäldern ist C. femoratus sehr zahlreich. Die gartenbauenden Exemplare, denen ich begegnete, ließen mich nicht einmal das Nest berühren. Wenn ich vor dem Wind mehr als eineinhalb Meter herankam, rochen mich die Nestbewohner. Die Arbeiterinnen schwärmten zu Hunderten aus, bildeten einen brodelnden Teppich auf dem Nest und fingen an, einen Schleier von Ameisensäure in meine Richtung zu versprühen. Blieb ich beharrlich stehen, so ließen sie sich auf nahe gelegenes Blattwerk fallen, um näher heranzukommen. Jeder, der einmal auf die Äste eines von C. femoratus bewohnten Baumes geklettert ist, braucht keine weiteren Erklärungen über die ökologische Dominanz der Ameisen.

Einen Rivalen um die größte Aggressivität hat die Camponotus femoratus in den äquatorialafrikanischen und asiatischen Weberameisen der Gattung Oecophylla. Die Kolonien bauen Nester aus Blättern, die sie über lebendige Ketten aus Arbeiterinnen zusammenziehen und mit einem Gewebe aus Seide fixieren; diese erhalten sie in einzelnen Fäden von den madenartigen Larven der Kolonie. Eine reife Kolonie baut in den Kronen eines oder mehrerer Bäume Hunderte solche seidenen Pavillons. Jeder Eindringling in das Territorium einer Weberameise wird von Schwärmen furchtloser Verteidiger mit Bissen und Schleiern von Ameisensäure bedacht. Als Arbeiterinnen einer Kolonie, die ich an der Harvard University züchtete, einmal aus ihrem Plastikbehälter entkamen, trippelten einige auf meinen Schreibtisch und bedrohten mich mit geöffneten Mandibeln, ihre Hinterleibspitzen ragten hoch und konnten jeden Moment Ameisensäure ausspritzen. Im Freien ist ihre Aggressivität legendär. Auf den Salomon-Inseln hatten Scharfschützen der US-Marines im Zweiten Weltkrieg angeblich genauso viel Angst vor Ameisen wie vor den Japanern. Das ist natürlich eine Übertreibung, aber zugleich eine Hommage an die Insekten, die gemeinsam mit uns die Welt regieren.

Mit den Jahren kristallisierte sich für mich allmählich ein Prinzip heraus, das für unser Verständnis vom evolutionären Ursprung der Ameisen und anderer sozialer Insekten von Bedeutung ist: Je komplizierter und aufwändiger ein Nest im Hinblick auf den Verbrauch von Energie und Zeit ist, desto aggressiver sind die Ameisen bei seiner Verteidigung. Dieses Konzept werde ich später mit dem Ursprung der Eusozialität selbst in Verbindung bringen.

Etwa im selben Abschnitt der geologischen Zeit, in dem viele Ameisenarten in den Baumkronen ihre Partnerschaft mit Honigtau produzierenden Insekten perfektionierten, erweiterten andere ihre Lebensräume und Fressgewohnheiten in einer ganz anderen Richtung. Ihren Grundspeiseplan aus Beutetieren und Aas ergänzten sie durch Samen. Diese Innovation ließ die Zahl der Arten und die Dichte der Kolonien in den Waldbeständen der ursprünglichen Ameisenfaunen zunehmen. Zugleich konnten sich so viele Ameisensorten ins trockene Grasland und in Wüsten ausbreiten.

Heute bauen viele der Ameisenarten, die Samen fressen, auch Kornkammern, um sie zu lagern. In begrenztem Ausmaß findet das in bewaldeten Gebieten statt, wurde aber bis weit ins 19. Jahrhundert weder dort noch irgendwo anders wahr genommen; dann begannen Naturforscher mit der Untersuchung von Ameisen in den trockeneren Regionen der Levante, in Indien und dem westlichen Nordamerika. Als sie die Erdnester der später so genannten Ernteameisen aufgruben, fanden sie Kammern voller Samen von den nahe stehenden Gräsern. Erst jetzt ergab der Spruch des Salomon einen Sinn: «Geh hin zur Ameise, du Fauler, sieh an ihr Tun und lerne von ihr! Wenn sie auch keinen Fürsten noch Hauptmann, noch Herrn hat, so bereitet sie doch ihr Brot im Sommer und sammelt ihre Speise in der Ernte.»[3]

Bei einem Besuch des Jerusalemer Tempelbergs saß ich einmal in der Nähe eines Nests von Ernteameisen der Gattung Messor, einer der dort dominanten Ameisenarten. Ich sah zu, wie die Arbeiterinnen Samen durch ein Eingangsloch abwärts zu den unterirdischen Kornkammern trugen. Und ich bildete mir ein, dass dies wahrscheinlich dieselbe Art war, die schon Salomon kannte, und dass er vielleicht ganz hier in der Nähe gesessen und sie beobachtet hatte.

Dreitausend Jahre später und sehr weit weg von Judäa wenden sich nun Wissenschaftler wegen ganz anderer Erkenntnisse den Ameisen und anderen sozialen Insekten zu. Obwohl diese kleinen Geschöpfe sich von uns in vielerlei Hinsicht radikal unterscheiden, wirft ihre Herkunft und Geschichte ein Licht auch auf unsere eigene.

Die soziale Eroberung der Erde: Eine biologische Geschichte des Menschen
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