21.
DIE EVOLUTION DER KULTUR

Im kongolesischen Goualougo Triangle Forest bricht ein Schimpanse einen Zweig von einem jungen Baum, streift die Blätter ab und steckt ihn in einen nahe gelegenen Termitenhügel. Im Bau fliehen die weichen weißen Arbeiterinnen vor dem Zweig, während Soldatentermiten sich darauf stürzen und sich mit ihren nadelspitzen Mundwerkzeugen daran festbeißen. Genau das weiß der Schimpanse. Er wartet kurz ab, bis genügend Verteidiger zusammengekommen sind, dann zieht er den Stock heraus, streicht die Soldatinnen herunter und frisst sie. Diese Verhaltensweise findet sich nicht überall. Sie gehört lediglich in manchen Populationen zu einer lokalen Schimpansenkultur, die erlernt wird, indem ein Individuum ein anderes beobachtet und nachahmt.

Im Land der Yanomamo zwischen Rio Negro und Rio Branco im Grenzgebiet von Brasilien und Venezuela verlässt eine kleine Gruppe Dorfbewohner eine Mehrfamilienhütte und geht zu einem drei Kilometer entfernten Fluss. Sie geben das Gift Timbó ins Wasser, warten und sammeln die Fische ein, die an die Oberfläche treiben. Der Fang wird nach Hause getragen und mit den anderen Dorfbewohnern geteilt. Praktiziert wird dieser Fischfang im Sommer. Ansonsten kommen Frauen allein an den Fluss. Sie fangen die Fische mit der Hand und beißen ihnen ins Genick, um sie zu töten. Vor der Küste von Alaska – und in einem ganz anderen Maßstab – werfen professionelle Tiefseefischer lange Taue mit Reihen von Krallen auf den bis über 1000 m tiefen Meeresboden des Pazifiks. Damit werden Kohlenfische heraufgeholt (oder Gindara beim Sushi). Der Fang wird gereinigt und tiefgekühlt, zu Großmärkten an der Küste verbracht und weltweit an hochklassige Restaurants und Privathaushalte ausgeliefert.

Die Praxis der Fischerei ist eine bestimmte Form der Kultur, die sich wahrscheinlich über Millionen von Jahren herausgebildet hat, anfangs extrem langsam, dann schneller, immer schneller und schließlich explosionsartig schnell. Der Weg eines Kohlenfischs auf den Esstisch ist nur eine der unzähligen kulturellen Kategorien, die seit dem Anbruch der Jungsteinzeit dem Geist des Menschen entsprungen sind, sich verzweigt und Querverbindungen gebildet haben und schließlich gemeinsam die Substanz der modernen globalen Zivilisation bildeten. Erfunden haben die Kultur nicht wir, sondern die gemeinsamen Vorfahren von Schimpansen und Vormenschen. Wir haben ausgebaut, was unsere Vorgänger entwickelt hatten, und wurden so zu dem, was wir heute sind.

Nach einer bei Anthropologen und Biologen verbreiteten Definition ist Kultur die Kombination von Merkmalen, die eine Gruppe von einer anderen unterscheidet. Ein Kulturmerkmal ist ein Verhalten, das entweder in einer Gruppe neu erfunden oder von einer anderen Gruppe erlernt und dann zwischen den Gruppenmitgliedern weitervermittelt wird. Die meisten Forscher sind sich auch einig, dass der Begriff der Kultur auf Tier und Mensch gleichermaßen angewandt werden sollte, um damit die Kontinuität zwischen beiden zu unterstreichen, ungeachtet der ungleich größeren Komplexität im menschlichen Verhalten.[19]

Die fortgeschrittensten bekannten Kulturen bei Tieren sind die von Schimpansen und ihren nahen Verwandten, den Bonobos. Komparative Untersuchungen von Schimpansenpopulationen in Afrika ergaben eine erstaunliche Zahl von Kulturmerkmalen und große Unterschiede in der Kombination solcher Merkmale von einer Population zur nächsten.

Welche Rolle bei der Ausbreitung von Kulturmerkmalen die Nachahmung eines Gruppenmitglieds durch ein anderes spielt, zeigten Experimente mit zwei Schimpansenkolonien. Dabei wählten Forscher ein ranghohes Weibchen aus jeder Gruppe aus und wiesen sie persönlich darin ein, aus einem eigens entwickelten Behälter Futter zu bekommen. Mit dem Futter als Belohnung erwiesen sich die Schimpansen als schnelle Lerner. Eines der beiden Weibchen erlernte eine «Stocher»-Technik, das andere eine «Hebe»-Technik. Zurück in der eigenen Gruppe, praktizierten beide die erlernte Technik weiter. Bald schon begann eine große Mehrheit ihrer Gruppengefährten dieselbe Methode zu nutzen, um den Behälter zu öffnen. Vielleicht imitierten sie dabei direkt die «Lehrerin», aber es ist auch denkbar, dass die «Schüler» lernten, indem sie die Mechanik des Futterautomaten untersuchten. Würde sich Letzteres bestätigen, so könnten weitere Untersuchungen ergeben, dass sich das soziale Lernen beim Schimpansen stark von dem des Menschen unterscheidet.[20]

Auch bei Orang-Utans und bei Delfinen wurde das Vorhandensein einer authentischen Kultur überzeugend dokumentiert. Ein eindrucksvolles Beispiel für Innovation und kulturelle Transmission bei Delfinen sind die Großen Tümmler in der australischen Shark Bay, die zum Fischen Schwämme verwenden.[21] Eine kleine Minderheit ihrer Weibchen stülpt sich dabei ein Stück Schwamm über die Schnauze und durchkämmt damit die engen Verstecke von Fischen zwischen den Sandbänken der Bucht. Dass Delfine Kultur besitzen, sollte nicht besonders überraschen. Sie gehören zu den intelligentesten Tieren überhaupt und rangieren dabei direkt hinter den Affen. Da Delfine in ihren sozialen Interaktionen zudem hochimitativ sind, scheint es sehr wahrscheinlich, dass die Innovatoren aus der Shark Bay tatsächlich kulturelle Transmission praktizieren. Warum aber sind dann Delfine und andere Wale mit großen Gehirnen, deren Evolution Millionen von Jahren zurückreicht, in der sozialen Evolution nicht weiter fortgeschritten? Drei Gründe zeichnen sich ab: Anders als Primaten haben sie keine Nester oder Lagerstätten. Ihre vorderen Gliedmaßen sind Flossen. Und in ihrem Wasserreich ist ihnen der Einsatz kontrollierten Feuers für immer versagt.

Um eine Kultur zu entwickeln, ist ein Langzeitgedächtnis unabdingbar, und in dieser Fähigkeit ist der Mensch allen anderen Tieren weit überlegen. Die Unmengen von Erinnerungen in unserem übergroßen Vorderhirn machen uns zu vollendeten Geschichtenerzählern. Wir speichern Träume und gesammelte Erfahrungen eines ganzen Lebens und nutzen sie, um Szenarien für Vergangenheit und Zukunft zu entwerfen. Wir leben in unserem Bewusstsein mit den Folgen unseres Handelns, ob sie real sind oder nur vorgestellt. Indem wir unsere inneren Geschichten in alternative Versionen auslagern, können wir Wünsche, die wir eigentlich sofort befriedigen möchten, zugunsten von aufgeschobenem Vergnügen zurückstellen. Durch langfristiges Planen beschwichtigen wir zumindest zeitweilig das Drängen unserer Emotionen. Dieses Innenleben ist der Grund dafür, dass jeder Mensch einzigartig und wertvoll ist. Bei seinem Tod erlischt eine ganze Bibliothek von Erfahrungen und Vorstellungen.

Wie viel aber löscht der Tod wirklich aus? Ich glaube, ich kann das ganz gut ermessen. Gelegentlich schließe ich die Augen und kehre in Gedanken zurück nach Mobile und an die nahe Golfküste im Alabama der 1940er Jahre. Wenn ich erst da bin, fahre ich wieder als kleiner Junge auf meinem Schwinn-Fahrrad mit Ballonreifen und ohne Gangschaltung von einem Ende des Landkreises zum anderen. Und rasch kommen mir Einzelheiten in den Sinn. Ich erinnere mich lebhaft an meine ausgedehnte Familie, jeder mit seiner persönlichen Clique, jeder mit Erinnerungen, die er oder sie zum Teil mit anderen teilt. Nach ihrem eigenen Empfinden lebten sie im Zentrum der Welt und im Zentrum der Zeit. Sie lebten, als würde das Mobile von damals sich nie großartig verändern. Auf alles kam es an, auf jedes Detail, zumindest eine Zeitlang. Irgendwie war in der einen oder anderen Form alles, woran sie sich kollektiv erinnerten, für irgendjemanden von Belang. Heute sind diese Menschen alle weg. Fast alles, was ihr umfangreiches kollektives Gedächtnis enthielt, ist vergessen. Ich weiß, dass bei meinem Tod meine Erinnerungen und mit ihnen diese frühere Welt und das umfassende Wissen, das sie enthielt, auch weg sein werden. Aber ich weiß auch, dass all diese Netzwerke und diese ganze Bibliothek der Erinnerungen, selbst wenn sie vergehen, doch für einen Teil der Menschheit lebensnotwendig waren. Um ihretwillen habe ich gelebt und gearbeitet.

Auch Tiere haben ein Langzeitgedächtnis, das ihnen zum Überleben sehr nützlich ist. Tauben können sich bis zu 1200 Bilder merken. Der Kiefernhäher, ein Vogel, der wie Eichhörnchen Samenvorräte anlegt, erinnerte sich in Laborstudien an bis zu 25 Verstecke in einem Raum mit 69 Verstecken, und das über ganze 285 Tage. Noch übertroffen werden diese beiden Vogelarten, wie nicht anders zu erwarten, von Pavianen. In Tests zeigte sich, dass diese sichtlich intelligenten Primaten mindestens 5000 Einheiten memorisieren können und diese mindestens drei Jahre lang behalten.[22] Das Langzeitgedächtnis des Menschen ist wiederum sehr viel größer als das jedes sonst bekannten Tieres. Meines Wissens wurde bisher keine Methode entwickelt, um seine Kapazität beim Individuum auch nur in gröbster Näherung zu messen.

Die großartige Gabe des bewussten menschlichen Gehirns ist die Fähigkeit – und damit der unwiderstehliche, angeborene Trieb – zum Entwerfen von Szenarien. Für jede Geschichte wiederum nutzt das Bewusstsein nur einen winzigen Bruchteil des Langzeitgedächtnisses. Wie das genau vor sich geht, bleibt umstritten. Für die einen Neurowissenschaftler werden Fragmente des Langzeitgedächtnisses aus dem Langzeitspeicher umgeformt und gerinnen im Arbeitsgedächtnis zu Szenarien. Nach Ansicht einer zweiten Schule, die mit denselben Messwerten arbeitet, beruht der Prozess lediglich auf dem Wiederabrufen von Langzeiterinnerungen – ohne Transfer von einem Gehirnsektor in einen anderen.

Klar ist jedenfalls, dass innerhalb von relativ kurzen drei Millionen Jahren der Evolution die Gattung Homo etwas hervorbrachte, was keine andere Tierart je auch nur im Ansatz schaffte: einen Gedächtnisspeicher in einer überdimensionierten Hirnrinde aus über zehn Milliarden Neuronen, wobei jedes Neuron im Schnitt über 10.000 Verzweigungen mit anderen Nervenzellen verbunden ist. Diese Verdrahtungen, die Grundeinheiten des Hirngewebes, bilden komplizierte Wege aus Nervenbahnen und integrierenden Schaltstellen. Netzwerke aus Nervenbahnen und Schaltstellen, die sogenannten Module, organisieren sämtliche Instinkte und Erinnerungen des menschlichen Gehirns.[23]

Zunächst stellte die unglaubliche Komplexität der Gehirnarchitektur eine große Schwierigkeit dar, um die theoretischen Modelle der Genetik auf die Evolutionstheorie anzuwenden. Das menschliche Genom umfasst lediglich 20.000 Protein-codierende Gene. Von ihnen steuert nur ein Bruchteil unser Sinnes- und Nervensystem. Es ergibt sich also folgendes Problem: Wie kann eine derart komplizierte Zellarchitektur von so wenigen Genen überhaupt programmiert werden?

Das Dilemma der Genknappheit wurde durch ein Konzept aus der Entwicklungsgenetik gelöst.[24] Zahlreiche Module, so die Forschungsergebnisse, lassen sich über Anweisungen aufbauen, die zunächst nach einem einheitlichen Programm repliziert werden; danach greifen getrennte Programme (und getrennte Gene), unter deren Steuerung jedes Modulgewebe sich je nach Lage im Gehirn spezialisiert. Eine weitere Spezialisierung kann dann der Input erwirken, der aus der außergehirnlichen Umwelt eingeht. Um einen einfachen Vergleich zu nennen: Ein Tausendfüßer braucht nicht Tausende von Genen, um die biologische Entwicklung seiner sprichwörtlich tausend Beinpaare zu steuern. Dafür genügen schon ein paar wenige. Wir wissen noch längst nicht alles über die genetische Steuerung der Hirnentwicklung, aber zumindest theoretisch ist erwiesen, dass die menschlichen Gene dazu in der Lage sind.

Da das Rätsel um die genetische Codierung für die Entwicklung des menschlichen Gehirns grundsätzlich geklärt ist, können wir uns dem Aufkommen von Geist und Sprache zuwenden. Längst glauben Naturwissenschaftler nicht mehr an die Vorstellung vom Gehirn als leerem Blatt, auf dem die gesamte Kultur erst durch Lernen niedergeschrieben würde. Nach dieser archaischen Ansicht wäre die gesamte Leistung der Evolution lediglich eine außergewöhnliche Lernfähigkeit auf Grundlage der extrem ausgebildeten Kapazität des Langzeitgedächtnisses. Heute herrscht eine andere Ansicht vor: Das Gehirn verfügt über einen komplexen ererbten Aufbau. Auf diesem Fundament konnte als Produkt dieser Architektur das Bewusstsein entstehen, und zwar durch Gen-Kultur-Koevolution, ein kompliziertes Zusammenspiel genetischer und kultureller Evolution.

Gemeinsam mit Genetikern und Neurowissenschaftlern bemühen sich heute Archäologen darum, den evolutionären Ursprung von Sprache und Geist zu verstehen. Um die Schritte und zeitlichen Abläufe dieser schwer greifbaren Ereignisse nachzuzeichnen, begründeten sie eine neue Fachrichtung, die «kognitive Archäologie». Auf den ersten Blick mag eine derart hybride Disziplin wenig Erfolg versprechen. Schließlich sind außer ausgegrabenen Gebeinen die einzigen Fundstücke der ersten Menschen die Asche von Lagerfeuern, Bruchstücke von Werkzeugen, weggeworfene Überreste von Mahlzeiten und sonstiger Abfall. Trotzdem konnten die Forscher dank der neuen Analyse- und Versuchsmethoden immerhin so viel feststellen: Abstraktes Denken und syntaktischer Sprachgebrauch entstanden vor mindestens 70.000 Jahren. Entscheidend für diese Schlussfolgerung sind bestimmte Artefakte und die Deduktion der mentalen Prozesse, die zur Herstellung dieser Artefakte nötig sind. Besonderen Wert hat in dieser Argumentation die Befestigung von Steinspitzen an Speeren. Aufgekommen war dieses Praxis bereits vor 200.000 Jahren sowohl bei den europäischen Neandertalern als auch beim frühen afrikanischen Homo sapiens. Schon für sich genommen war dies eine bedeutende technologische Erfindung; über logisches Denken und Kommunikation sagt sie uns freilich wenig. Vor 70.000 Jahren aber machte der Homo sapiens einen bedeutenden Fortschritt, der nach neuesten Analysen Licht in die kognitive Evolution bringt. Die Befestigung, so die Ergebnisse der Studie, war sehr viel raffinierter geworden. Für die Herstellung der Speere wurden mehrere Arbeitsschritte durchlaufen, vom Erhitzen und Schärfen des abgeschlagenen Steins bis zur Verwendung von Akaziengummi, Bienenwachs und anderen Artefakten, um die Spitze zu befestigen. Was uns das über die Kognition sagen kann, fasste Thomas Wynn schön zusammen:

21.1 Dass die Kultur der Neandertaler im Lauf der Artgeschichte keine wesentlichen Fortschritte machte, liegt wahrscheinlich daran, dass die verschiedenen Gebiete der Intelligenz nicht vernetzt werden konnten, um neue abstrakte Muster zu schaffen und komplexe Szenarien zu erfinden.

«Um die Eigenschaften ihres Arbeitsmaterials zu begreifen (zum Beispiel die Kohäsionskraft), mussten die Handwerker in der Lage sein, die Auswirkungen der Temperatur einzuschätzen, in ihrer Aufmerksamkeit zwischen einzelnen, schnell veränderbaren Variablen hin und her zu schalten und außerdem so flexibel sein, dass sie sich der Variabilität natürlicher Materialien anpassen konnten.»[25]

Und die Sprache? Ein Bewusstsein, das Abstraktionen vornehmen und sie zu einem komplexen Szenario zusammenbauen kann, kann wohl auch eine syntaktische Sprache mit der Abfolge von Subjekt, Verb und Objekt generieren.

21.2 Möglicher Ablauf im Fortschritt der spätaltsteinzeitlichen Intelligenz und Kultur des Homo sapiens. Der bemerkenswerte Fortschritt der spätaltsteinzeitlichen Kultur des Menschen verdankte sich eindeutig der Fähigkeit, gespeicherte Erinnerungen in verschiedenen Hirnregionen zu verknüpfen und daraus neue Formen der Abstraktion und der Metapher zu bilden.

Auf der Suche nach den Ursprüngen einer Art wird üblicherweise die komparative Biologie bemüht, um zu erfahren, wie andere, eng verwandte Arten lebten und sich entwickelt haben könnten. Die Wissenschaftler, die das Entstehen des menschlichen Geistes erforschen, untersuchten daher auch sehr genau die Neandertaler (Homo neanderthalensis), über die wir inzwischen eine ganze Menge wissen. Die Schwesterart der modernen Menschheit lebte in Europa, als der Homo sapiens in Afrika gerade seine fortgeschrittenen kognitiven Fähigkeiten entwickelte. Über 200.000 Jahre blieben die Neandertaler dort. Der letzte Vertreter dieser Art, von dem wir Funde besitzen, starb vor etwa 30.000 Jahren in Südspanien. Es ist nahezu sicher, dass die Art durch den Homo sapiens ausgelöscht wurde, als diese anpassungsfähigere Art sich in Europa nach und nach Richtung Norden und Westen ausbreitete.

21.3 Die komplexen Wechselwirkungen verschiedener Funktionen im Gehirn des modernen Menschen lassen sich durch die Aktivität in verschiedenen Gehirnregionen illustrieren, wenn ein Erwachsener a) über Werkzeuggebrauch nachdenkt und b) dasselbe Werkzeug pantomimisch darstellt. Die Aktivitätskarten wurden über funktionale Magnetresonanztomographie (fMRT) erstellt.

Zunächst war es ein fairer Wettkampf. Die Neandertaler starteten Schulter an Schulter mit dem Gegner Homo sapiens, als der noch in Afrika lebte. Ihre Steinwerkzeuge waren anfangs genauso ausgefeilt wie die des Homo sapiens. Ihre Messer hatten gerade, scharfe Kanten und dienten wahrscheinlich zum Schaben. Andere hatten gezähnte Klingen – wahrscheinlich Sägen. Sehr spitze Abschläge waren einfach an Stöcken befestigt und dienten als Speere. Die Werkzeugpalette der Neandertaler scheint wie gemacht für das Leben der Art als Großwildjäger. Mit Sicherheit waren die Neandertaler viel unterwegs, wie es bei Fleischfressern zu erwarten ist. Sie kochten Fleisch, räucherten es vielleicht, trugen Kleidung und wärmten sich in bitterkalten Wintern in ihren dürftigen Lagern mit Hilfe des Feuers. Seit der kürzlich erfolgten Sequenzierung ihres Genoms, für sich schon eine außerordentliche wissenschaftliche Leistung, wissen wir, dass sie das FOXP2-Gen besaßen, das mit der Sprachfähigkeit assoziiert wird, und das in einer bestimmten Codierungssequenz, die sie nur mit dem Homo sapiens teilten. Es kann also gut sein, dass sie eine Sprache hatten. Bei erwachsenen Neandertalern war das Gehirn durchschnittlich etwas größer als beim Homo sapiens. Zudem wuchs das Gehirn ihrer Babys und Kinder schneller als beim Homo sapiens.[26]

21.4 Die schier grenzenlose Komplexität des menschlichen Gehirns wird vorstellbar bei diesem Modell der 100.000 Neurone in einem Schnitt (0,5 mm × 2 mm) eines zwei Wochen alten Nagetier-Gehirns. Solche Einheiten wiederholen sich im menschlichen Gehirn mehrere Millionen Mal.

Die Neandertaler faszinieren in jeder Hinsicht als weitere menschliche Art parallel zum Homo sapiens – ein Experiment der Evolution, mit dem wir unsere eigene Evolution vergleichen können. Das Interessanteste an ihnen ist aber vielleicht nicht, was sie waren, sondern was sie nicht geworden sind. In ihrer Technologie und Kultur gab es in den 200.000 Jahren ihrer Existenz im Grunde keinen Fortschritt. Keine Tüftelei bei der Werkzeugherstellung, keine Kunst, keinen persönlichen Schmuck – zumindest findet sich nichts davon in den bisher bekannten archäologischen Funden.[27]

Tabelle 21.1 Die Kulturen verschiedener wild lebender Schimpansengruppen in Afrika definieren sich über die Kombination ihres sozial erlernten Verhaltens.

21.5 Die Mammutsteppe, Schauplatz der kreativen Kulturexplosion, existiert noch in den Wiesentälern und Bergwäldern wie diesen Landschaften im heutigen Arctic National Wildlife Refuge. In der Eiszeit wanderte der frühe Homo sapiens durch Eurasien, immer südlich des Kontinentalgletschers, jagte große Tiere und ersetzte seine Schwesterart Homo neanderthalensis.

Unterdessen preschte der Homo sapiens vorwärts, und etwa zu der Zeit, als die Neandertaler von der Bühne gingen, blühten die kognitiven Leistungen des Homo sapiens geradezu auf. Die erste Population drang vor etwa 40.000 Jahren an der Donau entlang nördlich ins europäische Binnenland vor. 10.000 Jahre später gab es schon die ersten Innovationen, die die Spätaltsteinzeit prägten: elegante darstellende Höhlenmalerei; Bildhauerei, darunter ein Löwenkopf auf einem menschlichen Körper; Knochenflöten; kontrollierte Waldbrände mit Pferchen, um Wild zu lenken und zu fangen; verkleidete Schamanen.

Was katapultierte den Homo sapiens auf dieses Niveau? Die Fachleute sind sich einig, dass ein verbessertes Langzeitgedächtnis, insbesondere im Arbeitsgedächtnis, und damit die Fähigkeit, Szenarien zu entwerfen und in kurzen Zeiträumen Strategien zu planen, dafür ausschlaggebend waren, und das in Europa und anderswo und sowohl vor als auch nach der Auswanderung aus Afrika. Welche Triebkraft führte zur Schwelle der komplexen Kultur? Offensichtlich war es die Gruppenselektion. Eine Gruppe, deren Mitglieder Absichten verstehen und miteinander kooperieren konnten und außerdem in der Lage waren, die Handlungen der konkurrierenden Gruppen abzusehen, hätte einen außerordentlichen Vorsprung vor Gruppen gehabt, die darin weniger begabt waren. Zweifellos bestand Wettbewerb zwischen den Gruppenmitgliedern und führte zur natürlichen Selektion von Merkmalen, die einem Individuum einen Vorteil über ein anderes gab. Wichtiger für eine Art, die unter sich verändernden Umweltbedingungen mit mächtigen Rivalen konkurrierte, waren aber Zusammenhalt und Kooperation innerhalb der Gruppe. Moralität, Konformität, Religiosität und Kampffähigkeit in Kombination mit Vorstellungskraft und Gedächtnis kürten schließlich den Sieger.[28]

Die soziale Eroberung der Erde: Eine biologische Geschichte des Menschen
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