PROLOG

Kein Geheimnis des geistigen Lebens ist schwerer zu fassen und heißer begehrt als der Schlüssel zum Verständnis der menschlichen Natur. Seit Urzeiten erforscht, wer danach sucht, das Labyrinth der Mythen: im Religiösen die Schöpfungsmythen und die Träume der Propheten; in der Philosophie die Erkenntnisse der Introspektion und das darauf beruhende Denken; in der Kunst Aussagen, die auf einem Drama der Sinne beruhen.

Besonders die große bildende Kunst ist Ausdruck vom Unterwegssein eines Menschen, Anspielung auf Gefühlsregungen, die sich nicht in Worte fassen lassen. Vielleicht liegt ja in dem, was bis heute verborgen bleibt, eine tiefere, wesentlichere Bedeutung. Paul Gauguin, der Geheimnisjäger und berühmte Mythenschöpfer (Maker of Myth lautete kürzlich der Titel einer Londoner Ausstellung[1]), war auf der Suche danach. Seine Geschichte ist eine würdige Kulisse für die moderne Antwort, die in dieser Arbeit vorgestellt werden soll.

Gegen Ende 1897 machte sich Gauguin in Punaauia, drei Meilen von der Hafenstadt Papeete auf Tahiti, an die Arbeit an seinem größten und bedeutendsten Gemälde. Er war von der Syphilis geschwächt und litt infolge mehrerer Herzinfarkte an Lähmungen. Sein Geld war beinahe aufgebraucht, und dazu kam noch eine Depression, weil kurz zuvor seine Tochter Aline in Dänemark einer Lungenentzündung erlegen war.

Gauguin wusste, dass seine Tage gezählt waren. Er schuf dieses Gemälde in dem Bewusstsein, dass es sein letztes sein würde. Und als er fertig war, stieg er in die Berge hinter Papeete und wollte sich das Leben nehmen. Er hatte ein Fläschchen Arsen bei sich; vielleicht wusste er nicht, wie grausam dieser Gifttod verläuft. Er wollte sich verstecken, um es einzunehmen, damit sein Leichnam nicht gleich gefunden und lieber von den Ameisen gefressen würde.

Dann aber wich seine Entschlossenheit, und er kehrte nach Punaauia zurück. Obwohl sein Leben im Grunde zerstört war, hatte er beschlossen, weiter seinen Mann zu stehen. Um sich über Wasser zu halten, nahm er in Papeete eine Stelle beim Bauamt an, wo er am Tag sechs Francs verdiente. 1901 zog er sich noch weiter zurück und siedelte sich auf der kleinen, abgelegenen Marquesas-Insel Hiva Oa an. Zwei Jahre später – er war inzwischen tief in Konflikte mit der Obrigkeit verstrickt – starb Gauguin infolge seiner Syphilis an Herzversagen. Er wurde auf dem katholischen Friedhof von Hiva Oa begraben.

«Ich bin ein Wilder», schrieb er wenige Tage vor seinem Ende an einen Verwaltungsbeamten. «Und die zivilisierten Menschen spüren das: Denn in meinem Werk ist nichts, was verwundert, verwirrt, höchstens dieses ‹unfreiwillige Wildsein›.»[2]

Gauguin war nach Französisch-Polynesien gekommen, an dieses fast unmögliche Ende der Welt (nur die Pitcairn- und die Osterinsel sind noch abgelegener), weil er dort sowohl Frieden zu finden hoffte als auch ein neues Grenzland für seine künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten. Das Grenzland fand er, den Frieden nicht.

Gauguins körperliche und geistige Reise war unter den großen Künstlern seiner Zeit eine Ausnahme. Er war 1848 in Paris geboren und von seiner halbperuanischen Mutter in Lima, später in Orléans erzogen worden. Dieser ethnische Mix war ein Omen für seine Zukunft. Als junger Mann trat Gauguin in die französische Handelsmarine ein und reiste sechs Jahre lang um die Welt. Dabei wurde er 1870 und 1871 auf dem Mittelmeer und auf der Nordsee Zeuge von Kampfhandlungen im Französisch-Russischen Krieg. Zurück in Paris, hatte er zunächst kaum Gedanken für die Kunst, sondern wurde unter der Federführung seines wohlhabenden Vormunds Gustave Arosa Börsenmakler. Arosa, ein bedeutender Sammler französischer Kunst, auch der ganz neuen impressionistischen Werke, entfachte und förderte Gauguins Interesse an der Kunst. Nach einem Börsenkrach im Januar 1882 und der Pleite seiner Bank wandte sich Gauguin ganz der Malerei zu und begann sein beträchtliches Talent zu entfalten. Er war begeistert von den besten Impressionisten – Pissarro, Cézanne, van Gogh, Manet, Seurat, Degas – und bemühte sich um die Aufnahme in ihre Kreise. Auf vielen Reisen, von Pontoise nach Rouen, von Pont-Aven nach Paris, schuf er Porträts, Stillleben, Landschaften, und die zunehmend phantastische Prägung seiner Werke deutet auf den Gauguin voraus, der sich erst noch entwickeln sollte.

Doch aus Enttäuschung über das Erreichte blieb Gauguin nur kurz im Kreis seiner schillernden Zeitgenossen. Er war aus eigener Anstrengung nicht reich und berühmt geworden, obwohl er, wie er später erklärte, sehr wohl wusste, dass er ein großer Künstler war. Er sehnte sich nach einem schlichteren, einfacheren Leben, um seiner Bestimmung nachzukommen. Paris, so schrieb er 1886, sei für Mittellose geradezu eine Wüste, «und so gehe ich nach Panama, um dort wie ein Eingeborener zu leben. (…) Ich nehme meine Farben und meine Pinsel mit, und fern von allen Menschen werde ich mich dort erholen.»[3]

Es war nicht die Armut allein, die Gauguin von der Zivilisation entfremdete. Er war eine zutiefst rastlose Seele, ein Abenteurer, immer getrieben von der Suche nach dem, was hinter dem Hier und Jetzt lag. Künstlerisch arbeitete er dementsprechend experimentell. Auf seinen Wanderungen fühlte er sich zum Exotismus nichtwestlicher Kulturen hingezogen und wollte selbst darin eintauchen, weil er neue Möglichkeiten visuellen Ausdrucks suchte. Er lebte in Panama, dann auf Martinique. Wieder zu Hause, bewarb er sich auf eine Stelle in der unter französischer Herrschaft stehenden Provinz Tonkin (heute Nordvietnam). Als er abgelehnt wurde, kehrte er schließlich nach Französisch-Polynesien zurück, in das letzte Paradies.

Am 9. Juni 1891 erreichte Gauguin Papeete und tauchte in die dortige Kultur ein. Mehr und mehr machte er sich für die Rechte der Einheimischen stark und wurde damit in den Augen der Kolonialmacht zum Störenfried. Zugleich (und ungleich wichtiger) machte er sich zum Pionier des neuen Stils namens Primitivismus: flächig, bukolisch, häufig grell farbig, einfach und direkt und authentisch.

Dennoch müssen wir zu dem Schluss kommen, dass Gauguin nach mehr suchte als nur nach diesem neuen Stil. Er interessierte sich auch zutiefst für die Natur des Menschen – worin besteht sie wirklich, und wie lässt sie sich darstellen? Die Öffentlichkeit im französischen Mutterland, insbesondere in Paris, war das Terrain von tausend Stimmen, die sich im Kampf um Aufmerksamkeit heiser schrien, und das intellektuelle und künstlerische Leben stand unter der Kuratel anerkannter Autoritäten, die jeweils in ihrem eigenen kleinen Stückchen Expertentum Wurzeln geschlagen hatten. Keiner, so spürte er, konnte aus dieser Kakophonie heraus eine neue Einheit schaffen.

Vielleicht aber war das in der sehr viel einfacheren und doch voll funktionstüchtigen Welt von Tahiti möglich. Dort konnte man womöglich bis ans Urgestein der menschlichen Natur vordringen. In dieser Hinsicht war sich Gauguin mit Henry David Thoreau einig, der sich einige Jahrzehnte zuvor in seine winzige Hütte am Walden-See zurückgezogen hatte, «weil ich den Wunsch hatte, (…) dem eigentlichen, wirklichen Leben näherzutreten, zu sehen, ob ich nicht lernen konnte, was es zu lehren hätte. (…) Ich wollte einen breiten Schwaden dicht am Boden mähen, das Leben in die Enge treiben und auf seine einfachste Formel reduzieren.»[4]

Diese Auffassung bringt Gauguin am besten auf seinem 3,75 Meter breiten Meisterwerk zum Ausdruck. Betrachten wir es einmal im Detail. Es zeigt eine Anordnung von Gestalten vor einer erfundenen Kulisse von Landschaften Tahitis aus Bergen und Meer. Die meisten Figuren sind weiblich (das ist der tahitische Gauguin). Abwechselnd realistisch und surreal, stehen sie für den menschlichen Lebenskreis. Die Blickrichtung geht von rechts nach links. Ein Säugling ganz rechts stellt die Geburt dar. Die Gestalt in der Mitte ist erwachsen, ihr Geschlecht nicht eindeutig; die erhobenen Arme sind ein Symbol der individuellen Selbsterkenntnis. Links davon pflückt und isst ein junges Paar Äpfel: der Archetypus Adam und Eva in ihrem Streben nach Erkenntnis. Ganz links hockt als Darstellung des Todes eine alte Frau in Qual und Verzweiflung am Boden (womöglich inspiriert von Albrecht Dürers Stich Melancholie von 1514).

Ein bläulich getöntes Idol starrt uns aus dem linken Hintergrund entgegen, die Arme sind rituell erhoben, vielleicht ist es wohlmeinend, vielleicht feindselig. Gauguin selbst beschrieb seine Bedeutung in vielsagender poetischer Mehrdeutigkeit.

Das Idol steht hier nicht als literarische Erklärung, sondern als Standbild, allerdings vielleicht weniger Standbild als die Tierfiguren; auch kein Tier, in meinem Traum wird es eins mit der ganzen Natur, herrscht in unserer primitiven Seele, erdachter Trost für unsere Leiden und ihren Anteil an Verschwommenem, Unfassbarem vor dem Mysterium unserer Herkunft und unserer Zukunft.[5]

In der linken oberen Ecke der Leinwand schrieb er den berühmten Titel: D’où Venons Nous/Que Sommes Nous/Où Allons Nous. Das Gemälde ist keine Antwort. Es ist eine Frage.

Die soziale Eroberung der Erde: Eine biologische Geschichte des Menschen
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