26

Einige Wochen nach Abschluss der SOKO Spiegel, als ich mich noch immer mit dem Papierkram herumschlug und darauf wartete, dass irgendwer irgendwo eine Entscheidung traf, rief Frank an. »Ich hab Lexies Dad in der Leitung«, sagte er. »Er möchte mit dir sprechen.« Ein Klicken, dann war er weg, und das blinkende rote Lämpchen an meinem Apparat signalisierte, dass ich einen Anruf in der Warteschleife hatte.

Ich schob Schreibtischdienst im DHG. Es war Mittagspause, ein ruhiger Sommertag mit blauem Himmel. Alle anderen waren nach draußen gegangen und lagen sicherlich im Stephen’s Green auf dem Rasen, die Ärmel hochgekrempelt in der Hoffnung, etwas Bräune abzukriegen, aber ich ging Maher aus dem Weg, der andauernd mit seinem Stuhl näher rückte und mich verschwörerisch fragte, was das für ein Gefühl sei, einen Menschen zu erschießen, daher erfand ich an den meisten Tagen dringenden Papierkram und ging dann sehr spät in die Pause.

Am Ende war alles ganz einfach gewesen: Auf der anderen Seite des Globus war ein junger Cop namens Ray Hawkins eines Morgens zur Arbeit gefahren und hatte seine Hausschlüssel vergessen. Sein Dad hatte sie ihm aufs Revier gebracht. Der Vater war Detective im Ruhestand, und er hatte automatisch einen Blick auf das Anschlagbrett im Eingangsbereich geworfen – Warnhinweise, gestohlene Autos, Suchmeldungen –, während er Ray die Schlüssel übergab und ihn daran erinnerte, nach Dienstschluss Fisch fürs Abendessen zu besorgen. Und dann hatte er gesagt, Moment mal, die Frau da kenn ich irgendwoher. Danach hatten sie lediglich die Vermisstenakten der letzten Jahre durchgehen müssen, bis ihnen das Gesicht entgegensprang, ein letztes Mal.

Sie hieß Grace Audrey Corrigan, und sie war zwei Jahre jünger als ich gewesen. Ihr Vater hieß Albert. Er hatte eine kleine Rinderfarm namens Merrigullan, irgendwo in den riesigen namenlosen Weiten im Westen Australiens. Er hatte seine Tochter seit dreizehn Jahren nicht mehr gesehen.

Frank hatte ihm gesagt, ich sei die Kollegin, die mit dem Fall am meisten zu tun gehabt, ihn schließlich aufgeklärt hätte. Zuerst fiel es mir schwer, mich in seinen starken australischen Akzent einzuhören. Ich rechnete mit unzähligen Fragen, aber er fragte mich gar nichts, zunächst nicht. Stattdessen erzählte er mir Dinge, die ich ihn nie hätte fragen können. Seine Stimme – tief, ein wenig rau, die Stimme eines kräftigen Mannes – hatte einen langsamen Rhythmus, mit großen Pausen, als wäre er es nicht gewohnt zu reden, aber er redete lange. Er hatte dreizehn Jahre lang Worte aufgespart, während er darauf wartete, dass dieser Tag ihn heimsuchte.

Gracie sei ein wunderbares Kind gewesen, sagte er, als sie klein war. Ein messerscharfer Verstand, sie hätte mit Leichtigkeit ein Studium geschafft, aber sie sei nicht interessiert gewesen. Richtig häuslich sei sie gewesen, sagte Albert Corrigan. Mit acht Jahren habe sie ihm erklärt, sobald sie achtzehn wäre, würde sie einen von den Cowboys heiraten, damit sie beide die Farm übernehmen und sich um ihn und ihre Mum kümmern könnten, wenn sie alt wären. »Sie hatte alles bis ins Kleinste geplant«, sagte er. Trotz allem schwangen die Reste eines alten Lächelns in seiner Stimme mit. »Sie meinte, in ein paar Jahren sollte ich anfangen, das mit zu bedenken, wenn ich neue Leute einstellte – ich sollte nach jemandem Ausschau halten, den sie heiraten könnte. Sie hat gesagt, große Blonde würden ihr gefallen, und Männer dürften auch ruhig mal laut werden, aber sie könnte es nicht leiden, wenn sie sich betranken. Sie hat immer gewusst, was sie wollte, Gracie.«

Aber als sie neun war, hatte ihre Mutter bei der Geburt von Grace’ kleinem Bruder so starke Blutungen bekommen, dass sie starb, ehe ein Arzt eintraf. »Gracie war noch zu klein, um so etwas zu hören«, sagte er. So schlicht und schwer, wie sich seine Stimme senkte, wusste ich, dass er das zahllose Male gedacht hatte, dass es ihm eine tiefe Furche in die Seele gegraben hatte. »Ich wusste es gleich, als ich es ausgesprochen hatte. Der Ausdruck in ihren Augen: Sie war zu klein, um das zu hören. Es hat ihr einen Knacks verpasst. Wenn sie zwei, drei Jahre älter gewesen wäre, hätte sie sich vielleicht berappelt. Aber sie hat sich verändert, danach. Nichts, was man genau hätte benennen können. Sie war nach wie vor ein wunderbares, braves Kind, war fleißig in der Schule und so, gab keine Widerworte. Kümmerte sich um den Haushalt – so ein schmächtiges Mädchen, stand am Herd, der größer war als sie, und kochte Rindseintopf, genau wie ihre Mutter immer. Aber ich hab nie wieder erfahren, was in ihrem Kopf vor sich ging.«

In den Sprechpausen rauschten die statischen Störungen in meinem Ohr, ein unaufhörliches dumpfes Murmeln wie bei einer Muschel. Ich wünschte, ich hätte mehr über Australien gewusst. Ich dachte an rote Erde und Sonne, die einen traf wie ein Schrei, gekrümmte Pflanzen, so unverwüstlich, dass sie Leben aus dem Nichts saugten, unermessliche Weiten, die einen schwindelig machten, vollkommen verschluckten.

Mit zehn war sie zum ersten Mal weggelaufen. Schon nach wenigen Stunden wurde sie gefunden, am Straßenrand, das Wasser war ihr ausgegangen, und sie weinte vor Wut, doch im nächsten Jahr und dem darauf probierte sie es erneut. Jedes Mal schaffte sie es ein kleines Stück weiter. In der Zeit dazwischen erwähnte sie ihre Ausreißversuche mit keinem Wort, starrte ihn bloß mit ausdrucksloser Miene an, wenn er sie darauf ansprach. Er wusste nie, wann er morgens aufwachen und feststellen würde, dass sie fort war. Er deckte sich im Sommer nachts warm zu und im Winter gar nicht, damit er einen leichteren Schlaf hatte und hoffentlich wach wurde, falls eine Tür klickte.

»Mit sechzehn hat sie es dann geschafft«, sagte er, und ich hörte ihn schlucken. »Hat dreihundert Dollar geklaut, die ich unter der Matratze liegen hatte, und einen Landrover von der Farm. An allen anderen Wagen hat sie die Luft aus den Reifen gelassen, damit wir nicht so schnell hinter ihr herkonnten. Sie ist in die Stadt gefahren, hat den Landrover an der Tankstelle stehen lassen und sich von einem Trucker, der in Richtung Osten fuhr, mitnehmen lassen. Die Polizei meinte, sie würden tun, was sie können, aber wenn sie nicht gefunden werden wollte … Australien ist groß.«

Er hatte vier Monate nichts von ihr gehört, sah sie in seinen Träumen irgendwo aus dem Auto geworfen im Straßengraben, von Dingos aufgefressen, unter einem riesigen roten Mond. Dann, am Tag vor seinem Geburtstag, bekam er eine Karte.

»Moment«, sagte er. Rascheln, ein dumpfes Geräusch, als wäre etwas heruntergefallen, Hundegebell, irgendwo weit weg. »Ich hab’s. Also: ›Lieber Dad, herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag. Mir geht’s gut. Ich habe einen Job, und ich habe gute Freunde. Ich komme nicht zurück, aber ich wollte mich mal melden. Alles Liebe, Grace. PS: Keine Bange, ich geh nicht auf den Strich.‹« Er lachte, wieder dieses raue kurze Atmen. »Ganz schöne Marke, was? Und sie hatte recht, wissen Sie, das hatte ich tatsächlich befürchtet – hübsches Mädchen ohne Ausbildung … Aber sie hätte das nicht extra geschrieben, wenn es nicht wahr gewesen wäre. Nicht Gracie.«

Die Karte war in Sydney abgestempelt. Er hatte alles stehen- und liegenlassen, war zum nächsten Flugplatz gefahren und mit der Postmaschine nach Sydney geflogen, wo er fotokopierte Handzettel an Laternenpfähle klebte, Wer hat dieses Mädchen gesehen? Niemand meldete sich. Die Karte im nächsten Jahr war aus Neuseeland gekommen: »Lieber Dad. Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag. Bitte hör auf, nach mir zu suchen. Ich musste wegziehen, weil ich ein Plakat von mir gesehen habe. Mir geht’s gut, also lass es bleiben. Alles Liebe, Grace. PS: Ich lebe nicht in Wellington, ich bin bloß hergefahren, um die Karte einzuwerfen, also spar dir die Mühe.«

Er hatte keinen Reisepass, wusste nicht mal, wo und wie man einen beantragte. Bis zu Grace’ achtzehntem Geburtstag waren es nur noch wenige Wochen, und die Polizei in Wellington wies ihn vernünftigerweise darauf hin, dass sie eine gesunde Erwachsene nicht daran hindern konnten, von zu Hause auszuziehen. Es waren noch zwei weitere Karten von dort gekommen – sie hatte sich einen Hund und eine Gitarre zugelegt – und dann, 1996, eine aus San Francisco. »Sie hat es also schließlich nach Amerika geschafft«, sagte er. »Weiß der Teufel, wie sie das angestellt hat. Ich schätze, Grace hat sich einfach von nichts und niemandem aufhalten lassen.« Es hatte ihr dort gefallen – sie fuhr mit der Straßenbahn zur Arbeit, und sie wohnte mit einer Bildhauerin zusammen, die ihr Töpfern beibrachte –, aber im Jahr darauf war sie in North Carolina, ohne Erklärung. Vier Karten von dort, eine aus Liverpool mit einem Foto von den Beatles drauf, dann die drei aus Dublin.

»Sie hatte Ihren Geburtstag in ihrem Terminkalender markiert«, sagte ich. »Ich weiß, sie hätte Ihnen auch dieses Jahr eine geschickt.«

»Ja«, sagte er. »Wahrscheinlich.« Irgendwo im Hintergrund stieß ein Vogel einen lauten, sinnlosen Schrei aus. Ich stellte mir vor, wie er auf einer verwitterten Holzveranda saß, umgeben von Tausenden von Meilen Wildnis mit ihren eigenen reinen und gnadenlosen Regeln.

Ein langes Schweigen folgte. Ich merkte, dass ich meine freie Hand dezent in den Ausschnitt meines Oberteils geschoben hatte, um Sams Verlobungsring zu berühren. Solange die SOKO Spiegel nicht offiziell abgeschlossen war und wir die Nachricht nicht verbreiten konnten, ohne den Kollegen vom DIA ein kollektives Aneurysma zu bescheren, trug ich ihn an einer dünnen Goldkette, die mal meiner Mutter gehört hatte. Der Ring hing zwischen meinen Brüsten, ungefähr an der Stelle, wo das Mikro gesteckt hatte. Selbst an kühlen Tagen fühlte er sich wärmer an als meine Haut.

»Was ist aus ihr geworden?«, fragte er. »Wie war sie?«

Seine Stimme war leiser geworden, leicht heiser. Er wollte es unbedingt wissen. Ich dachte an May-Ruth, die den Eltern ihres Verlobten eine Grünpflanze mitbrachte, an Lexie, die Daniel kichernd mit Erdbeeren bewarf, an Lexie, wie sie die Zigarettendose tief in das hohe Gras schob, und ich hatte absolut keine Antwort für ihn.

»Sie war noch immer ein heller Kopf«, sagte ich. »Sie schrieb an ihrer Doktorarbeit in englischer Literatur. Sie ließ sich noch immer von nichts und niemandem aufhalten. Ihre Freunde liebten sie, und sie liebte ihre Freunde. Sie waren glücklich zusammen.« Trotz allem, was die fünf sich am Ende gegenseitig angetan hatten, glaubte ich das wirklich. Ich glaube es noch immer.

»Ganz mein Mädchen«, sagte er geistesabwesend. »Ganz mein Mädchen … «

Er dachte an Dinge, von denen ich nichts wissen konnte. Nach einer Weile holte er rasch Atem, tauchte aus seinen Gedanken auf. »Aber einer von ihnen hat sie getötet, nicht wahr?«

Er hatte lange gebraucht, um diese Frage zu stellen. »Ja«, sagte ich, »das stimmt. Wenn es überhaupt ein Trost ist, er hat es nicht mit Absicht getan. Es war nicht geplant, absolut nicht. Sie hatten einen Streit. Er hatte zufällig ein Messer in der Hand, weil er gerade den Abwasch machte, und er hat die Beherrschung verloren.«

»Hat sie leiden müssen?«

»Nein«, sagte ich. »Nein, Mr Corrigan. Der Pathologe sagt, ehe sie das Bewusstsein verlor, hat sie höchstens gemerkt, dass sie schlecht Luft bekam und ihr Herzschlag beschleunigt war, als wäre sie zu schnell gelaufen.« Sie ist friedlich eingeschlafen, hätte ich fast gesagt, wenn da nicht ihre Hände gewesen wären.

Er sagte so lange nichts, dass ich mich schon fragte, ob die Verbindung unterbrochen oder ob er weggegangen war, einfach den Hörer hingelegt und den Raum verlassen hatte, ob er irgendwo draußen an einem Geländer lehnte und tief die wilde, kühle Abendluft einatmete. Die ersten Kollegen kamen aus der Mittagspause zurück, Schritte stapften die Treppe hoch, auf dem Flur schimpfte irgendwer über Papierkram, Mahers dröhnendes aggressives Lachen. Beeilen Sie sich, wollte ich sagen, wir haben nicht viel Zeit.

Schließlich seufzte er, ein langgezogenes, langsames Hauchen. »Wissen Sie, woran ich immerzu denken muss?«, sagte er. »An den Abend, bevor sie weggelaufen ist, das letzte Mal. Wir saßen nach dem Essen auf der Veranda, Gracie nippte dann und wann an meinem Bier. Sie sah so wunderschön aus. Mehr wie ihre Mum als je zuvor: gelassen, ausnahmsweise mal. Sie hat mich angelächelt. Ich hab gedacht, das hieße … na ja, ich hab gedacht, sie wäre endlich zur Ruhe gekommen. Hätte sich vielleicht in einen von den Cowboys verknallt – so sah sie nämlich aus, wie ein junges Mädchen, das sich verliebt hat. Ich hab gedacht: Sieh dir unsere Kleine an, Rachel. Ist sie nicht hinreißend? Sie hat sich doch noch berappelt.«

Seltsame Dinge flatterten plötzlich in meinem Kopf, zart wie schwirrende Falter. Frank hatte ihm nichts erzählt: nicht von dem Undercovereinsatz, nicht von mir. »Das hat sie, Mr Corrigan«, sagte ich. »Auf ihre Art hat sie das.«

»Vielleicht«, sagte er. »Hört sich jedenfalls so an. Ich wünschte bloß … « Irgendwo kreischte wieder der Vogel, ein langer, trostloser Warnschrei, der in der Ferne verklang. »Was ich sagen will, ich schätze, Sie haben recht: Dieser Bursche wollte sie nicht töten. Ich schätze, es musste irgendwann passieren, auf die eine oder andere Art. Sie war nicht geschaffen für diese Welt. Sie war vor ihr davongelaufen, seit sie neun war.«

Maher kam ins Büro gepoltert, bellte mir irgendetwas zu, knallte ein großes Stück klebrig aussehenden Kuchen auf seinen Schreibtisch und fing an, es auszuweiden. Ich lauschte auf das statische Rauschen in meinem Ohr und dachte an die Pferdeherden, die in den wilden Weiten Amerikas oder Australiens frei herumlaufen, sich gegen Luchse oder Dingos wehren und von dem wenigen leben, was sie finden, eine goldene Masse unter der sengenden Sonne. Mein Jugendfreund Alan hatte mal einen Ferienjob auf einer Ranch in Wyoming gehabt. Er hatte zusehen können, wie die Wildpferde eingeritten wurden. Er hatte mir erzählt, dass immer mal wieder welche dabei waren, die sich partout nicht zähmen lassen wollten, die wild waren bis ins Mark. Diese Pferde wehrten sich gegen Zaumzeug und Zaun, bis sie irgendwann geschunden und blutüberströmt waren, bis sie sich die Beine zerschmetterten oder den Hals brachen, bis sie im Kampf um ihre Freiheit starben.



Frank behielt recht: Am Ende ging alles für uns prima aus, zumindest wurde keiner gefeuert oder verhaftet, was vermutlich Franks Vorstellung von »prima« entspricht. Er bekam drei Urlaubstage gestrichen und kassierte einen Aktenvermerk, angeblich weil er die Kontrolle über seine Ermittlung verloren hatte – bei einem Fiasko dieser Größenordnung brauchte das DIA jemanden, der seinen Kopf hinhielt, und meinem Eindruck nach waren sie entzückt, dass es diesmal Franks Kopf war. Die Medien versuchten, das Thema Polizeibrutalität hochzujubeln, aber keiner wollte mit ihnen reden – ein Boulevardblatt schaffte es gerade mal, ein Foto von Rafe zu bringen, wie er einem Fotografen den Mittelfinger zeigte, der noch dazu moralisch korrekt grob gepixelt worden war, zum Schutz der Kinder. Ich absolvierte meine Pflichtsitzungen bei dem Psychologen, der selig war, mich wiederzusehen. Ich tischte ihm eine Reihe von harmlosen Traumasymptomen auf, ließ sie im Laufe einiger Wochen unter seiner kompetenten Lenkung wie durch Zauberhand verschwinden, wurde wieder diensttauglich geschrieben und verarbeitete die SOKO Spiegel auf meine Weise, für mich allein.

Sobald wir wussten, wo die Postkarten aufgegeben worden waren, ließ sich leicht nachvollziehen, wo sie überall gewesen war. Es wäre eigentlich nicht nötig gewesen – alles, was sie getan hatte, ehe sie in unsere Zuständigkeit fiel, weil sie sich hatte umbringen lassen, war nicht unser Problem –, aber Frank tat es trotzdem. Er schickte mir die Akte kommentarlos mit dem Stempelvermerk Geschlossen ins Büro.

In Sydney hatten sie sie nirgends orten können – sie machten lediglich einen Surfer ausfindig, der glaubte, sie am Manley Beach gesehen zu haben, als Eisverkäuferin, und er meinte, ihr Name sei Hazel gewesen, aber so unsicher und begriffsstutzig, wie er war, kam er als zuverlässiger Zeuge nicht in Frage –, doch in Neuseeland war sie Naomi Ballantine gewesen, die tüchtigste Empfangssekretärin, die ihre Zeitarbeitsfirma je vermittelt hatte, bis ein zufriedener Kunde sie bedrängte, fest bei ihm anzufangen. In San Francisco war sie ein Hippiemädchen namens Alanna Goldman, sie jobbte in einem Souvenirladen am Strand und saß häufig kiffend an irgendwelchen Lagerfeuern. Fotos von Freunden zeigten hüftlange Locken, die im Meerwind wehten, nackte Füße und Muschelhalsketten und braune Beine in abgeschnittenen Jeans. In Liverpool war sie Mags Mackenzie, eine hoffnungsvolle Hutdesignerin, die unter der Woche in einer hippen Cocktailbar kellnerte und am Wochenende ihre Hutkreationen auf einem Markt verkaufte. Auf dem Foto trug sie ein breitkrempiges Wirbelding aus rotem Samt mit einem Hauch alter Seide und Spitze über einem Ohr und lachte. Ihre Mitbewohnerinnen – eine Gruppe extrovertierter Partygirls, die alle in etwa das Gleiche machten, Mode, Backgroundgesang, irgendetwas, das sich »urbane Kunst« nannte – gaben an, sie habe zwei Wochen bevor sie sich abseilte einen Vertrag angeboten bekommen, für ein trendiges Modelabel eine Kollektion zu entwerfen. Sie hatten sich keine großen Sorgen gemacht, als sie eines Morgens verschwunden war. Mags würde schon klarkommen, meinten sie, das sei schon immer so gewesen.

Der Brief von Chad steckte mit einer Büroklammer an einem unscharfen Schnappschuss von den beiden vor einem See, an einem flirrend heißen Tag. Sie trug einen langen Zopf und ein viel zu großes T-Shirt und lächelte schüchtern, den Kopf leicht von der Kamera weggedreht. Chad war groß und braungebrannt und schlaksig, und sein volles hellbraunes Haar hing ihm bis in die Stirn. Er hatte einen Arm um sie gelegt, und er blickte zu ihr hinunter, als könnte er sein Glück nicht fassen. Ich wünschte nur, Du hättest mir eine Chance gegeben mitzukommen, stand in dem Brief, nur eine Chance, May. Ich wäre überallhin mitgegangen. Was immer Du auch gewollt hast, ich hoffe, Du hast es gefunden. Ich wünschte bloß, ich wüsste, was es war und warum ich es nicht war.



Ich fotokopierte die Fotos und Zeugenaussagen und schickte die Akte zurück an Frank mit einem Post-it, auf dem »Danke« stand. Am nächsten Nachmittag machte ich früh Feierabend und ging Abby besuchen.

Ihre neue Adresse stand in der Akte: Sie wohnte im Studentenviertel Ranelagh, in einem heruntergekommenen kleinen Haus mit Unkraut im Vorgarten und zu vielen Klingelknöpfen neben der Tür. Ich blieb auf dem Bürgersteig stehen, lehnte mich ans Geländer. Es war fünf Uhr, sie würde bald nach Hause kommen – der Mensch ist ein Gewohnheitstier –, und sie sollte mich schon von weitem sehen können, damit sie Zeit hatte, sich innerlich zu wappnen, ehe sie mich erreichte.

Etwa eine halbe Stunde später bog sie um die Ecke. Sie trug ihren langen grauen Mantel und hatte in jeder Hand eine Einkaufstüte. Auf die Entfernung konnte ich ihr Gesicht nicht sehen, aber der flotte, resolute Gang war mir nur allzu vertraut. Ich sah den Augenblick, als sie mich erkannte, das heftige Stocken, das Nachfassen der Tüten, die ihr fast aus den Händen rutschten, die lange Pause nach der Schrecksekunde, als sie mitten auf dem leeren Bürgersteig stand und überlegte, ob sie kehrtmachen und woanders hingehen sollte, irgendwohin, das Heben ihrer Schultern, als sie tief Luft holte und weiterging, auf mich zu. Ich musste an den ersten Morgen denken, am Küchentisch: wie ich gedacht hatte, dass wir unter anderen Umständen Freundinnen hätten sein können.

Sie blieb reglos am Gartentor stehen, studierte mein Gesicht gründlich, bewusst und unnachgiebig. »Ich sollte dich windelweich prügeln«, sagte sie schließlich.

Sie sah nicht danach aus, als wäre sie dazu imstande. Sie hatte stark abgenommen und trug einen Haarknoten, der ihr Gesicht noch schmaler wirken ließ, aber das war es nicht allein. Etwas war aus ihrer Haut verschwunden: Strahlkraft, Energie. Zum ersten Mal bekam ich eine Ahnung davon, wie sie als alte Frau sein würde, aufrecht und scharfzüngig und drahtig, mit müden Augen.

»Du hättest alles Recht dazu«, sagte ich.

»Was willst du?«

»Fünf Minuten«, sagte ich. »Wir haben einiges über Lexie in Erfahrung gebracht. Ich dachte, du würdest es vielleicht gern wissen. Es könnte … ich weiß nicht. Es könnte eine Hilfe sein.«

Ein schmächtiger Teenager mit Docs und iPod fegte an uns vorbei, verschwand ins Haus und knallte die Tür hinter sich zu. »Darf ich reinkommen?«, fragte ich. »Aber wenn’s dir lieber ist, können wir auch hier draußen bleiben. Bloß fünf Minuten.«

»Wie heißt du noch mal? Sie haben es uns gesagt, aber ich hab’s vergessen.«

»Cassie Maddox.«

»Detective Cassie Maddox«, sagte Abby. Nach einem Moment schob sie den Griff einer Tüte hoch übers Handgelenk und holte ihre Schlüssel hervor. »Okay. Dann komm eben mit rein. Wenn ich sage, du sollst gehen, dann gehst du.« Ich nickte.

Ihre Wohnung bestand aus einem Zimmer, nach hinten raus im ersten Stock, war kleiner als meine und kahler: ein Bett, ein Sessel, ein mit Brettern vernagelter Kamin, ein Minikühlschrank, ein winziger Tisch und ein Stuhl vor dem Fenster, keine Tür, die in eine Küche oder ein Badezimmer führte, nichts an den Wänden, keine Nippsachen auf dem Kaminsims. Es war ein warmer Abend, aber die Luft in der Wohnung war kühl wie Wasser. An der Decke waren schwache Feuchtigkeitsflecken, aber ansonsten war jeder Quadratzentimeter blitzsauber, und ein großes Schiebefenster ging nach Westen, was den Raum in ein spätes, melancholisches Licht tauchte. Ich musste an ihr Zimmer in Whitethorn House denken, an das warme gemütliche Nest.

Abby stellte die Tüten auf den Boden, zog den Mantel aus und hängte ihn an die Rückseite der Tür. Die Tüten hatten rote Striemen an ihren Handgelenken hinterlassen, wie von Handschellen. »Die Wohnung ist nicht so mies, wie du denkst«, sagte sie trotzig, aber es lag ein müder Unterton in ihrer Stimme. »Ich hab ein eigenes Badezimmer. Draußen auf dem Flur, aber was will man machen.«

»Ich finde sie gar nicht mies«, sagte ich, was sogar in gewisser Weise stimmte, ich hatte schon schlechter gewohnt. »Ich hab bloß gedacht … ich dachte, ihr hättet Geld von der Versicherung bekommen oder so. Von dem Haus.«

Abbys Mund nahm einen harten Zug an. »Wir waren nicht versichert«, sagte sie. »Wir haben immer gedacht, das Haus hat so lange gestanden, da stecken wir das Geld besser in die Renovierung. Schön blöd.« Sie zog etwas auf, das aussah wie ein Kleiderschrank, und es kamen eine kleine Spüle, ein Zweiplattenherd und ein paar Hängeschränke zum Vorschein. »Also haben wir verkauft. An Ned. Wir hatten keine andere Wahl. Er hat gewonnen – oder vielleicht auch Lexie oder ihr oder der Typ, der unser Haus abgefackelt hat, ich weiß es nicht. Jedenfalls hat jemand anderes gewonnen.«

»Warum wohnst du dann hier«, fragte ich, »wenn es dir nicht gefällt?«

Abby zuckte die Achseln. Sie stand mit dem Rücken zu mir, räumte Sachen in die Hängeschränke – gebackene Bohnen, Dosentomaten, eine Packung No-Name-Cornflakes. Ihre Schulterblätter, spitz unter dem dünnen grauen Pullover, sahen aus wie die eines Kindes. »Es war die erste Wohnung, die ich mir angeschaut hab. Ich brauchte eine Unterkunft. Nachdem ihr uns habt gehen lassen, haben die von der Opferbetreuung uns in so einer scheußlichen Pension in Summerhill untergebracht. Wir hatten kein Geld, wir hatten das meiste Bargeld in der Spardose – wie du ja weißt, klar –, und das ist alles mit verbrannt. Wir mussten um zehn Uhr morgens aus dem Haus sein und durften erst abends wieder rein, also hab ich die Zeit tagsüber in der Bibliothek verbracht und vor mich hin geglotzt, und nachts hab ich allein in meinem Zimmer gehockt – richtig geredet haben wir drei eigentlich nicht mehr … deshalb bin ich, so schnell ich konnte, da weg. Jetzt, wo wir verkauft haben, könnte ich mit meinem Anteil eine Eigentumswohnung anzahlen, aber dann bräuchte ich einen Job, um den Kredit abzuzahlen, und solange ich die Diss nicht fertig habe … Das Ganze kommt mir einfach zu kompliziert vor. Ich tu mich sauschwer, Entscheidungen zu treffen, in letzter Zeit. Wenn ich lange genug warte, geht das ganze Geld für die Miete drauf, und dann hat sich die Entscheidung von selbst erledigt.«

»Bist du noch am Trinity?« Ich hätte am liebsten losgeschrien. Dieses verkrampfte, distanzierte Gespräch, wie auf dünnem Eis, wo ich doch mal zu ihrem Gesang getanzt hatte, wo wir auf meinem Bett gesessen und Schokolade gegessen und uns gegenseitig von unseren schlimmsten Kusserlebnissen erzählt hatten. Das hier war schon mehr, als ich hatte erwarten dürfen, und ich konnte es nicht durchstoßen, um zu ihr vorzudringen.

»Ich hab die Sache angefangen. Da kann ich sie auch zu Ende bringen.«

»Was ist mit Rafe und Justin?«

Abby knallte die Schranktüren zu und fuhr sich mit den Händen durchs Haar, die Geste, die ich tausendmal gesehen hatte. »Ich weiß nicht, was ich mit dir machen soll«, sagte sie plötzlich. »Du fragst so was, und ein Teil von mir möchte dir alles haarklein erzählen, und ein Teil von mir möchte dich anschreien, weil du uns das alles angetan hast, wo wir doch eigentlich deine besten Freunde waren, und ein Teil von mir möchte dir sagen, das geht dich nichts an, Bulle, untersteh dich, auch nur ihre Namen in den Mund zu nehmen. Ich kann nicht … Ich weiß nicht, wie ich mit dir reden soll. Ich weiß nicht mal, wie ich dich ansehen soll. Was willst du?«

Sie war ganz kurz davor, mich rauszuschmeißen. »Ich hab dir was mitgebracht«, sagte ich schnell und holte den Stoß Fotokopien aus meiner Umhängetasche. »Du weißt, dass Lexie nicht ihr richtiger Name war, nicht?«

Abby verschränkte die Arme und beobachtete mich, argwöhnisch und ausdruckslos. »Einer von deinen Freunden hat es uns erzählt. Der Typ, der uns von Anfang an auf dem Kieker hatte. Stämmig, blonde Haare?«

»Sam O’Neill«, sagte ich. Ich trug den Ring inzwischen am Finger – das Geläster in allen Facetten von liebevoll bis gehässig hatte sich mehr oder weniger gelegt. Die Kollegen vom Morddezernat hatten uns sogar ein rätselhaftes Geschirrteil aus Silber geschenkt, zur Verlobung –, aber diese Verbindung konnte Abby unmöglich herstellen.

»Genau der. Ich glaube, er hat gedacht, er könnte uns damit schocken und wir würden ihm unser Herz ausschütten. Also?«

»Wir haben herausgefunden, wer sie war«, sagte ich und hielt ihr die Kopien hin.

Abby nahm sie und blätterte die Seiten rasch mit dem Daumen durch. Ich musste daran denken, wie geschickt und leichthändig sie immer die Karten gemischt hatte. »Was ist das?«

»Wo sie überall gelebt hat. Andere Identitäten, die sie benutzt hat. Zeugenaussagen.« Sie sah mich noch immer mit diesem Ausdruck an, leer und endgültig wie ein Schlag ins Gesicht. »Ich dachte, du solltest wenigstens die Möglichkeit haben, sie dir anzusehen, wenn du willst.«

Abby warf die Blätter auf den Tisch und ging zurück zu den Einkaufstüten, räumte Sachen in den kleinen Kühlschrank: ein halber Liter Milch, ein kleiner Plastikbecher Schokomousse. »Will ich nicht. Ich weiß bereits alles, was ich über Lexie wissen muss.«

»Ich dachte, es könnte vielleicht einiges erklären. Warum sie getan hat, was sie getan hat. Vielleicht möchtest du es ja lieber nicht wissen, aber –«

Sie richtete sich blitzschnell auf, so dass die Kühlschranktür heftig in den Angeln schwang. »Was weißt du denn schon? Du hast Lexie ja nicht mal gekannt. Es interessiert mich einen Scheißdreck, ob sie unter einem falschen Namen gelebt hat, ob sie ein Dutzend verschiedene Personen war, Gott weiß, wo alles. Das ist mir völlig egal. Ich hab sie gekannt. Ich hab mit ihr unter einem Dach gelebt. Das war echt. Du bist wie Rafes Vater, der ganze Schwachsinn von der realen Welt. Das, was wir hatten, war die reale Welt. Es war wesentlich realer als das hier.« Sie deutete mit einer ruckartigen Kinnbewegung auf den Raum um uns herum.

»Das meine ich nicht«, sagte ich. »Ich glaube bloß, dass sie euch nicht weh tun wollte, keinem von euch. So war das nicht.«

Nach einem Augenblick sackten ihre Schultern herab. »Das hast du schon mal gesagt, an dem Tag. Dass du – dass sie einfach Panik gekriegt hat. Wegen des Babys.«

»Davon war ich überzeugt«, sagte ich. »Bin es noch.«

»Ja«, sagte Abby. »Ich auch. Das ist der einzige Grund, warum ich dich reingelassen hab.« Sie schob etwas mit mehr Druck in den Kühlschrank, schloss die Tür.

»Rafe und Justin«, sagte ich. »Würden sie die Kopien sehen wollen?«

Abby knüllte die Plastiktüten zusammen und stopfte sie in eine andere Tüte, die an dem Stuhl hing. »Rafe ist in London«, sagte sie. »Er ist gleich abgehauen, als ihr gesagt habt, wir dürften das Land verlassen. Sein Vater hat ihm eine Stelle verschafft – keine Ahnung, was genau, irgendwas mit Finanzen. Er ist dafür völlig unqualifiziert und wahrscheinlich eine Niete, aber solange Daddy seine schützende Hand über ihn hält, wird er wohl nicht gefeuert.«

»Oh Gott«, sagte ich unwillkürlich. »Er muss todunglücklich sein.«

Sie zuckte die Achseln und warf mir einen raschen, unergründlichen Blick zu. »Wir haben nicht viel Kontakt. Ich hab ihn ein paarmal angerufen, es ging um den Hausverkauf – es interessiert ihn alles nicht, er sagt immer nur, ich soll entscheiden und ihm die Unterlagen zum Unterschreiben schicken, aber ich muss ihn ja informieren. Ich hab ihn immer abends angerufen, und meistens klang es so, als wäre er in irgendeinem Pub oder Club – laute Musik, grölende Leute. Sie nennen ihn ›Raffy‹. Er war jedes Mal ganz schön angetrunken, was dich ja bestimmt nicht überrascht, aber nein, unglücklich hat er sich nicht angehört. Falls du dich dadurch besser fühlst.«

Rafe im Mondschein, lächelnd, wie er mir schräge Seitenblicke zuwarf, seine Finger warm an meiner Wange. Rafe mit Lexie, irgendwo – vielleicht die Nische unter dem Efeu. »Und Justin?«

»Der ist zurück in den Norden. Er hat noch eine Weile versucht, es am Trinity auszuhalten, aber er hat es nicht ertragen – nicht bloß die Blicke und das Getuschel, obwohl das schon schlimm war, sondern … dass nichts mehr so war wie vorher. Ich hab öfter gehört, wie er geweint hat, an seinem Leseplatz. Eines Tages war er auf dem Weg in die Bibliothek und hat es einfach nicht geschafft, er hatte eine Panikattacke, im Philosophicum, vor aller Augen. Sie mussten ihn im Krankenwagen wegbringen. Er ist nicht zurückgekommen.«

Sie nahm eine Münze von einem ordentlichen Stapel auf dem Kühlschrank und steckte sie in den Stromzähler, drehte den Knopf. »Wir telefonieren ab und an. Er unterrichtet Englisch an einer Jungenschule, als Vertretung für eine Frau in Elternzeit. Er sagt, die Kinder sind verwöhnte kleine Monster, und sie schreiben dauernd ›Mr Mannering ist eine Schwuchtel‹ an die Tafel, aber es ist wenigstens friedlich – irgendwo draußen auf dem Land –, und die anderen Lehrer lassen ihn in Ruhe. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er oder Rafe das Zeug da haben wollen.« Sie nickte Richtung Tisch. »Und ich werde sie nicht fragen. Wenn du mit ihnen reden willst, von mir aus. Aber ich muss dich warnen, ich glaube nicht, dass sie vor Freude Luftsprünge machen, wenn sie von dir hören.«

»Kann ich ihnen nicht verdenken«, sagte ich. Ich ging zu dem Tisch, nahm die Papiere und schob sie zurecht. Der Garten unter dem Fenster war verwildert, übersät mit grellbunten Chipstüten und leeren Flaschen.

Hinter mir sagte Abby ohne die geringste Modulation in der Stimme: »Wir werden dich immer hassen.«

Ich drehte mich nicht um. Ob es mir gefiel oder nicht, in diesem kleinen Raum war mein Gesicht noch immer eine Waffe, eine blanke Klinge, die zwischen ihr und mir lag. Für sie war es leichter zu reden, wenn sie es nicht sehen konnte. »Ich weiß«, sagte ich.

»Wenn du dir so was wie Absolution erhofft hast, bist du bei mir falsch.«

»Hab ich nicht«, sagte ich. »Die Informationen hier sind das Einzige, was ich dir anbieten kann, daher dachte ich, ich muss es versuchen. Das bin ich dir schuldig.«

Nach einer Sekunde hörte ich sie seufzen. »Wir glauben ja nicht, das alles nur deine Schuld ist. Wir sind nicht blöd. Schon ehe du zu uns kamst … « Eine Bewegung: Vielleicht hatte sie das Gewicht verlagert, sich das Haar nach hinten gestrichen, irgendetwas. »Daniel hat gelaubt, noch bis ganz zum Schluss, wir könnten alles wieder hinbiegen, es käme alles wieder in Ordnung. Ich hab das nicht geglaubt. Selbst wenn Lexie überlebt hätte … ich glaube, als deine Kumpel bei uns vor der Tür standen, da war es schon zu spät. Es hatte sich zu viel verändert.«

»Du und Daniel«, sagte ich. »Rafe und Justin.«

Wieder eine kurze Pause. »Ich schätze, es war offensichtlich. In jener Nacht, der Nacht, als Lexie starb … wir hätten es sonst nicht durchstehen können. Es hätte auch kein großes Drama sein müssen. Es waren schon vorher diverse Sachen passiert, immer mal wieder, und das hat nie einem groß was ausgemacht. Aber in jener Nacht … «

Ich hörte sie schlucken. »Davor hatten wir ein Gleichgewicht, weißt du? Alle wussten, dass Justin in Rafe verliebt war, aber es war einfach da, im Hintergrund. Mir war nicht mal klar gewesen, dass ich … Halt mich ruhig für blöd, aber es war mir echt nicht klar. Ich hab nur gedacht, Daniel wäre der beste Freund, den ich mir wünschen könnte. Ich glaube, wir hätten alle so weitermachen können, vielleicht für immer – oder vielleicht nicht. Aber in der Nacht war es anders. In dem Moment, als Daniel sagte: ›Sie ist tot‹, veränderte sich die Situation. Alles wurde klarer, unerträglich klar, als ob irgendeine superhelle Lampe angeschaltet worden wäre und man nie wieder die Augen schließen könnte, nicht mal für eine Sekunde. Weißt du, was ich meine?«

»Ja«, sagte ich. »Ich weiß.«

»Danach, selbst wenn Lexie doch noch nach Hause gekommen wäre, ich weiß nicht, ob wir … «

Ihre Stimme verklang. Ich drehte mich um und sah, dass sie mich betrachtete, eindringlicher, als ich erwartet hatte. »Du klingst nicht wie sie«, sagte sie. »Du bewegst dich nicht mal wie sie. Bist du ihr überhaupt irgendwie ähnlich?«

»Wir hatten einiges gemeinsam«, sagte ich. »Nicht alles.«

Abby nickte. Nach einem Augenblick sagte sie: »Ich möchte, dass du jetzt gehst.«

Ich hatte die Hand schon an der Türklinke, als sie unvermittelt und fast widerwillig sagte: »Willst du was Seltsames hören?«

Es wurde allmählich dunkel, ihr Gesicht sah aus, als würde es sich in den dämmrigen Raum hinein verlieren. »Einmal, als ich Rafe angerufen hab, da war er nicht unterwegs, er war zu Hause, auf dem Balkon seiner Wohnung. Es war spät. Wir haben uns eine Weile unterhalten. Ich hab irgendwas über Lexie gesagt – dass sie mir immer noch fehlt, obwohl … trotz allem. Rafe hat irgendeine flapsige Bemerkung gemacht, von wegen, er würde sich viel zu sehr amüsieren, um jemanden zu vermissen, aber bevor er das sagte, bevor er antwortete, da war so eine kleine Pause. Ein verwirrtes Zögern. Als hätte er nicht gleich gewusst, wen ich meinte. Ich kenne Rafe, und ich schwöre, er hätte fast gesagt: ›Wer?‹«

Eine Etage höher plärrte nur halb durch die Decke gedämpft ein Telefon los, mit »Baby Got Back« als Klingelton, und jemand polterte über den Fußboden, um dranzugehen. »Er war ziemlich betrunken«, sagte Abby. »Wie immer. Trotzdem … seitdem frage ich mich immer wieder, ob wir einander vergessen. Ob wir in ein oder zwei Jahren aus dem Kopf der jeweils anderen gelöscht sein werden, verschwunden, als hätten wir uns nie gekannt. Ob wir auf der Straße aneinander vorbeigehen könnten, ganz dicht, ohne mit der Wimper zu zucken.«

»Keine Vergangenheit«, sagte ich.

»Keine Vergangenheit. Manchmal« – ein kurzer Atemzug – »kann ich ihre Gesichter nicht mehr sehen. Rafe und Justin, bei denen geht’s noch. Aber Lexie. Und Daniel.«

Ich sah, wie sie den Kopf drehte, ihr Profil vor dem Fenster: die Stupsnase, eine Haarsträhne, die sich gelöst hatte. »Ich hab ihn geliebt, weißt du«, sagte sie. »Ich hätte ihn so sehr geliebt, wie er mich gelassen hätte, bis ans Ende meines Lebens.«

»Ich weiß«, sagte ich. Ich wollte ihr sagen, dass es auch eine Gabe ist, geliebt zu werden, dass es ebenso viel Mut und Arbeit verlangt wie lieben, dass manche Menschen es nie lernen, aus welchem Grund auch immer. Stattdessen holte ich die Fotokopien wieder aus meiner Tasche und blätterte sie durch – ich musste sie mir förmlich vor die Nase halten, um etwas sehen zu können –, bis ich die streifige Farbkopie von dem Schnappschuss fand: sie alle fünf, lächelnd, eingehüllt in fallendem Schnee und Stille, draußen vor Whitethorn House. »Da«, sagte ich und hielt sie Abby hin.

Ihre Hand, blass in der Beinahe-Dunkelheit, griff danach. Sie trat ans Fenster, hielt das Blatt ins letzte Licht.

»Danke«, sagte sie nach einem Augenblick. »Das werde ich behalten.« Sie stand noch immer da und betrachtete es, als ich die Tür schloss.



Danach hoffte ich, dass ich von Lexie träumen würde, nur ab und zu mal. In der Erinnerung der anderen verblasst sie von Tag zu Tag mehr. Bald wird sie endgültig verschwunden sein, sie wird nur noch Glockenblumen und ein Weißdornbusch sein, in einem verfallenen Cottage, in das sich niemand verirrt. Ich fand, dass ich ihr meine Träume schuldig war. Aber sie kam nie. Was immer sie auch von mir wollte, ich hatte es ihr wohl gegeben, irgendwo unterwegs. Das Einzige, wovon ich träume, ist das Haus, leer, offen für Sonne, Staub und Efeu; Schlurfen und Flüstern, immer gerade um die nächste Ecke, und eine von uns, sie oder ich, im Spiegel, lachend.

Eines hoffe ich: dass sie nie stehen geblieben ist. Ich hoffe, als ihr Körper nicht mehr weiterlaufen konnte, hat sie ihn zurückgelassen, wie alles andere, was je versucht hat, sie festzuhalten, ich hoffe, dass sie das Pedal bis zum Anschlag durchgetreten hat und wie der Wind davongefegt ist, durch die Nacht die Highways hinunter, beide Hände vom Lenkrad gehoben und den Kopf im Nacken, dass sie hinauf in den Himmel geschrien hat wie ein Luchs, weiße Linien und grüne Lichter, die in die Dunkelheit hinein davonjagen, ihre Reifen nur Millimeter über dem Boden und das Gefühl von Freiheit, das ihr den Rücken hochzischt. Ich hoffe, jede Sekunde, die sie hätte haben können, ist wie ein Sturmwind durch das Cottage gerauscht: Schleifen und salzige Gischt, ein Ehering und Chads Mutter, die vor Rührung weint, Sonnenfältchen und Galoppaden durch wildes rotes Buschwerk, der erste Zahn eines Babys und seine Schulterblätter wie winzige Flügel in Amsterdam Toronto Dubai; Weißdornblüten, die durch Sommerluft wirbeln, Daniels Haar, das grau wird unter hohen Decken und Kerzenflammen, und die zauberhaften Klänge von Abbys Gesang. Die Zeit tut so viel für uns, hat Daniel einmal zu mir gesagt. Ich hoffe, diese letzten paar Minuten haben alles für sie getan. Ich hoffe, in jener halben Stunde hat sie all ihre unzähligen Leben gelebt.