5
Die Fahrt nach Glenskehy dauerte fast eine Stunde, obwohl kaum Verkehr war und Frank am Steuer saß, und eigentlich hätte sie unerträglich sein müssen. Sam saß wie ein Häufchen Elend auf der Rückbank, neben dem ganzen Technikkram. Um die Stimmung aufzuheitern, drehte Frank die Musik im Radio laut auf, pfiff und wippte mit dem Kopf und trommelte den Rhythmus auf dem Lenkrad mit. Ich nahm sie beide kaum wahr. Es war ein wunderschöner Nachmittag, sonnig und frisch, ich war nach einer vollen Woche das erste Mal wieder aus meiner Wohnung raus, und ich hatte das Fenster ganz runtergedreht und ließ mir den Wind durchs Haar pusten. Der harte schwarze Panikstein hatte sich in dem Moment aufgelöst, als Frank den Wagen anließ, und verwandelte sich in etwas Süßes und Zitronengelbes und wild Berauschendes.
»So«, sagte Frank, als wir nach Glenskehy kamen, »jetzt zeig uns mal, wie gut du in Erdkunde aufgepasst hast. Sag mir, wo’s langgeht.«
»Geradeaus durchs Dorf, vierte Straße rechts, eine ganz schmale, kein Wunder, dass die Autos von Daniel und Justin aussehen, als würden sie Dragsterrennen fahren, da ist mir das gute alte, dreckige Dublin tausendmal lieber«, sagte ich zu ihm, äffte seinen Akzent dabei nach. »Nach Hause, James.« Ich war aufgekratzt. Die Jacke hatte mich den ganzen Nachmittag verrückt gemacht – wegen des Maiglöckchengeruchs, so nah, dass ich mich andauernd umgesehen hatte, ob jemand hinter mir stand –, und die Tatsache, dass ich von einer Jacke Gänsehaut bekam, wie in einem Kinderbuch von Dr. Seuss, hatte mich in eine alberne Kicherstimmung versetzt. Selbst als wir die Abzweigung zu dem Cottage passierten, wo ich Frank und Sam am ersten Tag getroffen hatte, wurde ich nicht wieder ernst.
Die Straße war ein unbefestigter Weg voller Schlaglöcher. Bäume, so mit Efeu behangen, dass sie unförmig wirkten, Heckenzweige, die an den Seiten des Wagens entlangratschten und in mein Fenster griffen, und dann ein wuchtiges schmiedeeisernes Tor mit abblätterndem Rost und trunken in den Angeln hängend. Die Steinpfeiler waren halb in wild wucherndem Weißdorn versunken. »Hier rein«, sagte ich.
Frank nickte und bog durch das Tor, und wir blickten eine endlose, anmutig geschwungene Allee hinunter, gesäumt von Kirschbäumen in üppiger Blütenpracht. »Wow«, sagte ich. »Was hat mich eigentlich je an der Sache gestört? Kann ich Sam im Koffer mit reinschmuggeln, und dann leben wir hier bis ans Ende unserer Tage?«
»Komm wieder runter«, sagte Frank. »Wenn wir an der Tür sind, musst du völlig unbeeindruckt wirken. Außerdem ist das Haus noch immer ganz schön verwahrlost, du kannst dich also wieder abregen.«
»Du hast mir erzählt, sie hätten es renoviert. Ich erwarte Kaschmirvorhänge und weiße Rosen in meinem Ankleidezimmer, sonst rufe ich meinen Agenten an.«
»Ich hab gesagt, sie sind dabei, es zu renovieren. Ich hab nicht gesagt, dass sie zaubern können.«
Dann machte die Allee eine kleine Biegung und verbreiterte sich in eine große, halbrunde Zufahrt, die mit Unkraut und Gänseblümchen übersät war, und ich sah Whitethorn House zum ersten Mal. Die Fotos waren ihm nicht gerecht geworden. Dublin ist voll mit Häusern aus der Zeit der Jahrhundertwende, die größtenteils in Bürogebäude umgewandelt wurden und durch deren Fenster deprimierende Neonbeleuchtung zu sehen ist, aber das hier war etwas Besonderes. Sämtliche Proportionen waren so vollkommen aufeinander abgestimmt, dass das Haus aussah, als wäre es dort gewachsen, fest verwurzelt mit den Bergen dahinter und der satten, sanft abfallenden Landschaft davor, als schwebte es zwischen dem hellen Halbrund der Zufahrt und den verschwommenen, dunkelgrün geschwungenen Hügeln, wie ein Schatz, der einem mit offener Hand dargeboten wurde.
Ich hörte, wie Sam schnell und hart die Luft einsog. »Trautes Heim, Glück allein«, sagte Frank und stellte das Radio aus.
Sie warteten vor der Tür auf mich, oben an der Treppe. Im Geist sehe ich sie noch immer so, von der Abendsonne in Gold getaucht und strahlend wie eine Vision, jede Falte ihrer Kleidung und jede Rundung in ihren Gesichtern makellos und schmerzlich klar. Rafe lehnte an dem Geländer, die Hände in den Jeanstaschen; Abby in der Mitte, leicht schwankend auf den Zehenspitzen, einen Arm gehoben, um die Augen zu beschatten; Justin, die Füße akkurat nebeneinander und die Hände auf dem Rücken verschränkt, und hinter ihnen Daniel, umrahmt von den Säulen der Tür, sein erhobener Kopf und seine Brille, die Lichtblitze warf.
Keiner von ihnen bewegte sich, als Frank vorfuhr und bremste, mit hochspritzendem Kies. Sie sahen aus wie Figuren auf einem mittelalterlichen Fries, in sich geschlossen, geheimnisvoll, als stellten sie eine Botschaft in irgendeinem untergegangenen und obskuren Code dar. Nur Abbys Rock flatterte unbeständig in der Brise.
Frank warf mir einen Seitenblick zu. »Bereit?«
»Ja.«
»Braves Mädchen«, sagte er. »Viel Glück. Und los geht’s.« Er stieg aus dem Wagen und ging zum Kofferraum, um mein Gepäck herauszuholen.
»Pass auf dich auf«, sagte Sam. Er sah mich nicht an. »Ich liebe dich.«
»Ich bin bald wieder zu Hause«, sagte ich. Unter all den starrenden Augen war es unmöglich, ihn auch nur am Arm zu berühren. »Ich versuch, dich morgen anzurufen.«
Er nickte. Frank knallte den Kofferraumdeckel zu – das Geräusch war unbändig, überlaut, prallte von der Hausfassade ab, scheuchte Krähen aus den Bäumen auf – und öffnete mir die Tür.
Ich stieg aus, fasste mir beim Aufrichten kurz an die Seite. »Danke, Detective«, sagte ich zu Frank. »Danke für alles.«
Wir schüttelten uns die Hand. »Gern geschehen«, sagte Frank. »Und keine Sorge, Miss Madison: Wir kriegen den Kerl.«
Er zog den Koffergriff mit einem scharfen Klack heraus und reichte ihn mir, und ich zog ihn über den Kies auf die Treppe und die anderen zu.
Noch immer rührte sich keiner. Als ich näher kam, änderte sich mein Blickwinkel, und ich registrierte schlagartig die geraden Rücken, die erhobenen Köpfe: Zwischen den vieren herrschte eine Spannung, so straff, dass sie in der Stille schrill summte. Die Rollen meines Koffers, die über den Kies knirschten, klangen wie lautes Maschinengewehrfeuer.
»Hi«, sagte ich am Fuß der Treppe und blickte zu ihnen hinauf.
Eine Sekunde lang dachte ich, sie würden nicht reagieren, sie hätten mich bereits durchschaut, und ich fragte mich hektisch, was ich jetzt bloß tun sollte. Dann trat Daniel einen Schritt vor, und das Bild flackerte und brach auseinander. Ein Lächeln machte sich auf Justins Gesicht breit, Rafe nahm Haltung an und winkte mit einer Hand, und Abby kam die Stufen heruntergerannt und umarmte mich fest.
»He, du«, sagte sie lachend, »willkommen zu Haus.« Ihr Haar roch nach Kamille. Ich ließ den Koffer los und erwiderte die Umarmung. Es war ein seltsames Gefühl, als würde ich jemanden aus einem alten Gemälde berühren, erstaunt, dass ihre Schulterblätter so warm und fest waren wie meine. Daniel nickte mir über ihren Kopf hinweg ernst zu und wuschelte mir durchs Haar, Rafe schnappte sich meinen Koffer und zog ihn holpernd die Stufen hoch zur Tür, Justin tätschelte mir wieder und wieder den Rücken, und auch ich lachte, und ich hörte nicht mal, dass Frank den Wagen anließ und davonfuhr.
Mein erster Gedanke, als ich Whitethorn House betrat, war: Hier bin ich schon mal gewesen. Er zischte glatt durch mich hindurch, riss meine Wirbelsäule gerade wie ein Beckenschlag. Eigentlich war es kein Wunder, dass mir alles so vertraut vorkam, schließlich hatte ich mir stundenlang Fotos und Videoclips angesehen, aber es war mehr als das. Es war der Geruch, altes Holz und Teeblätter und ein schwacher Hauch getrockneter Lavendel; es war das Licht, wie es über die verschrammten Dielenbretter fiel; es war der Hall unserer Schritte, der die Treppe hinaufflog und oben leise durch die Flure klang. Ich hatte ein Gefühl – und man könnte denken, es hätte mir gefallen, aber dem war nicht so, es blitzte mir warnschildrot durch den Kopf –, als würde ich nach Hause kommen.
Ab da ist fast der ganze Abend verschwommen wie ein Karussell, Farben und Bilder und Stimmen wirbelten zu einem wirren Bild ineinander, so intensiv, dass es beinahe weh tat. Eine Deckenrosette und eine gesprungene Porzellanvase, ein Klavierhocker und eine Schüssel mit Orangen, laufende Füße auf Treppen und ein anschwellendes Lachen. Abbys Finger klein und stark um mein Handgelenk, als sie mich auf die geflieste Terrasse hinter dem Haus führt, verschnörkelte Eisenstühle, eine alte Korbschaukel, die in der leichten würzigen Brise schwankt; eine weite Grasfläche, die sich bis zu hohen, in Bäumen und Efeu verborgenen Steinmauern erstreckt, ein Vogelschatten, der über die Pflastersteine huscht. Daniel, der mir eine Zigarette anzündet, eine Hand schützend um das Streichholz und sein gebeugter Kopf nur wenige Zentimeter von meinem. Der volle Klang ihrer Stimmen traf mich wie ein Schock, nachdem sie sich auf den Videoclips fast tonlos angehört hatten, und ihre Augen waren so klar, dass sie mir auf der Haut brannten. Noch immer habe ich manchmal beim Aufwachen eine ihrer Stimmen nah und deutlich im Ohr, direkt aus jenem Tag gefallen: Komm her, ruft Justin, komm raus, der Abend ist herrlich; oder Abby sagt, Wir müssen uns überlegen, was wir mit dem Kräutergarten machen, aber wir haben auf dich gewartet, was meinst du – und ich bin wach, und sie sind fort.
Ich muss auch geredet haben, irgendwo da mittendrin, aber ich kann mich kaum noch erinnern, was ich gesagt habe. Ich weiß nur noch, dass ich versucht habe, mein Gewicht vorn auf die Fußballen zu legen, wie Lexie das getan hat, höher zu sprechen, in ihrer Stimmlage, Augen und Schultern und Zigaretten im richtigen Winkel zu halten, bemüht, mich nicht zu viel umzusehen und mich nicht zu schnell zu bewegen, ohne vor Schmerz das Gesicht zu verziehen, und nichts Idiotisches zu sagen und nicht gegen die Möbel zu stoßen. Und Gott, wieder der Geschmack der Undercoverarbeit auf der Zunge, ihre Berührung, die mir über die Härchen auf den Armen strich. Ich hatte gedacht, ich würde mich daran erinnern, wie es war, an jede Einzelheit, aber ich hatte mich getäuscht: Erinnerungen sind nichts, sind weich wie Gaze auf der mitleidslosen Rasiermesserschärfe dieser Schneide, wunderschön und tödlich, ein winziger Ausrutscher, und sie schneidet bis auf den Knochen.
Er raubte mir den Atem, jener Abend. Wer schon mal im Traum in sein Lieblingsbuch oder seinen Lieblingsfilm oder seine Lieblingsfernsehserie hineinspaziert ist, kann sich vielleicht ungefähr vorstellen, was das für ein Gefühl war: wenn alles um dich herum lebendig wird, seltsam und neu und ungemein vertraut zugleich; dein stolpernder Herzschlag, wenn du dich durch die Räume bewegst, die in deinen Gedanken ein so plastisches, unberührbares Leben hatten, wenn deine Füße den Teppichboden tatsächlich berühren, wenn du diese Luft atmest. Das sonderbare, heimliche warme Gefühl, wenn diese Leute, die du so lange und aus so großer Ferne beobachtet hast, ihren Kreis öffnen und dich hereinziehen. Abby und ich ließen die Korbschaukel träge schwingen. Die Jungs machten Abendessen und kamen immer mal wieder durch die Terrassentür mit den kleinen Scheiben aus der Küche zu uns nach draußen – Bratkartoffelduft, brutzelndes Fleisch, auf einmal hatte ich einen Bärenhunger – oder riefen uns irgendetwas zu. Rafe kam heraus und stützte sich zwischen uns auf die Rückenlehne, um einen Zug von Abbys Zigarette zu nehmen. Der dunkelnde, rosig goldene Himmel und große duftige Wolken, langsam treibend wie der Rauch eines Lagerfeuers in der Ferne, kühle Luft, erfüllt mit Gras und Erde und wachsenden Dingen. »Essen kommen!«, rief Justin über das Klappern von Geschirr hinweg.
Der lange, reichgedeckte Tisch, makellos mit dem schweren roten Damasttuch, den schneeweißen Servietten; die Kerzenständer, umrankt mit Efeu, Flammen, die in Miniaturformat in den Wölbungen der Gläser schillerten, sich im Silber spiegelten, in den dunkler werdenden Fenstern wie Irrlichter winkten. Und die vier, wie sie hochlehnige Stühle heranzogen, die Haut glatt und die Augen in dem verwirrenden goldenen Licht umschattet: Daniel am Kopf- und Abby am Fußende, Rafe neben mir und Justin gegenüber. In natura war die feierliche Atmosphäre, die ich auf den Videos und in Franks Notizen wahrgenommen hatte, so stark wie Weihrauch. Es war, als würden wir uns zu einem Festbankett zusammensetzen, zu einem Kriegsrat, zu einer Partie russisches Roulette, hoch oben in einem einsamen Turm.
Sie waren so schön. Rafe war der Einzige, der als wirklich gutaussehend hätte bezeichnet werden können, aber dennoch, wenn ich an sie zurückdenke, muss ich immerzu an diese Schönheit denken.
Justin verteilte Steak Diane auf Teller und ließ sie herumreichen – »Extra für dich«, sagte er mit einem schwachen Lächeln zu mir. Rafe gab Röstkartoffeln auf jeden Teller, der bei ihm vorbeikam. Daniel schenkte Rotwein in nicht zueinander passende Weingläser.
Dieser Abend nahm jede Gehirnzelle, die ich hatte, in Anspruch. Ich durfte auf gar keinen Fall betrunken werden. »Ich soll keinen Alkohol trinken«, sagte ich. »Die Antibiotika.«
Das war das erste Mal, dass einer von uns den Messerangriff zur Sprache brachte, wenn auch nur indirekt. Für den Bruchteil einer Sekunde – oder vielleicht bildete ich es mir bloß ein – erstarb jede Bewegung im Raum, die Flasche verharrte halb geneigt, Hände stockten mitten in Gesten. Dann goss Daniel weiter ein, mit einer geschickten Drehung des Handgelenks, so dass knapp ein Fingerbreit ins Glas kam. »Da«, sagte er gelassen. »Ein Schlückchen wird dir schon nicht schaden. Nur zum Anstoßen.«
Er reichte mir mein Glas und füllte seins. »Auf deine Heimkehr«, sagte er.
In dem Augenblick, als das Glas von seiner Hand in meine wechselte, ließ irgendetwas einen hohen wilden Warnschrei in meinem Hinterkopf gellen. Persephones verhängnisvolle Granatapfelkerne, Nimm nie Essbares von Fremden an; alte Geschichten, in denen ein einziger Schluck oder Bissen die Zauberwand für immer verschließt, die Straße nach Hause in Nebel auflösen und vom Wind wegwehen lässt. Und dann, eindringlicher: Wenn sie es doch waren, und der Wein vergiftet ist; Mannomann, was für ein Abgang. Und dann begriff ich mit einem Schauer wie von einem Stromstoß, dass es ihnen durchaus zuzutrauen wäre. Das reglose Quartett, das an der Tür auf mich gewartet hatte, jeder mit stocksteifem Rücken und kühlen, wachsamen Augen: Sie waren absolut imstande, das Spiel den ganzen Abend durchzuhalten, um mit einwandfreier Selbstbeherrschung und ohne einen einzigen Fehler auf den richtigen Augenblick zu warten.
Aber sie lächelten mich alle an, die Gläser erhoben, und ich hatte keine andere Wahl. »Auf uns«, sagte ich und beugte mich über den Tisch, um zwischen Efeu und Kerzenflammen mit ihnen anzustoßen: Justin, Rafe, Abby, Daniel. Ich trank einen Schluck von dem Wein – er war warm und schwer und weich, Honig und Sommerbeeren, und ich spürte ihn bis in die Fingerspitzen –, und dann nahm ich mein Besteck und schnitt in mein Steak.
Vielleicht brauchte ich einfach nur etwas zu essen – das Steak war köstlich, und mein Appetit war mit einem Schlag wieder da, als wollte er verlorene Zeit aufholen, aber leider hatte keiner erwähnt, ob Lexie essen konnte wie ein Scheunendrescher, daher würde ich mir keinen Nachschlag geben lassen –, jedenfalls fing ich während dieses Dinners an, sie immer klarer zu sehen. Ab diesem Moment reihen sich die Erinnerungen aneinander, wie Glasperlen an einer Schnur, und der Abend verwandelt sich von einem blauen, verschwommenen Fleck in etwas Reales und Überschaubares. »Abby hat jetzt eine Puppe«, sagte Rafe, während er Kartoffeln auf seinen Teller schaufelte. »Wir wollten sie schon als Hexe verbrennen, aber dann haben wir beschlossen zu warten, bis du wieder da bist, um demokratisch abzustimmen.«
»Abby verbrennen oder die Puppe?«, fragte ich.
»Beide.«
»Es ist nicht irgendeine Puppe«, sagte Abby und schnippte Rafe gegen den Arm. »Es ist eine spätviktorianische Puppe, und Lexie wird sie gefallen, weil sie keine Banausin ist.«
»An deiner Stelle würde ich sie aus sicherer Entfernung bewundern«, sagte Justin zu mir. »Ich glaube, sie ist besessen. Ihre Augen verfolgen mich.«
»Leg sie doch hin. Dann gehen die Augen zu.«
»Ich rühr sie nicht an. Nachher beißt sie mich noch. Dann muss ich bis in alle Ewigkeit das Reich der Finsternis durchwandern, auf der Suche nach meiner Seele –«
»Gott, hast du mir gefehlt«, sagte Abby zu mir. »War gar nicht leicht für mich, nur diese drei Weicheier zum Quatschen zu haben. Es ist nur ein klitzekleines Püppchen, Justin.«
»Eine ausgewachsene Puppe«, sagte Rafe, Kartoffeln kauend. »Im Ernst. Sie ist aus einer geopferten Ziege gemacht.«
»Nicht mit vollem Mund«, sagte Abby zu ihm. Zu mir: »Sie ist aus Ziegenleder. Der Kopf ist aus Porzellan. Ich hab sie in einer Hutschachtel in dem Zimmer gegenüber von meinem gefunden. Die Kleidung ist hinüber, und ich bin mit der Fußbank fertig, da dachte ich, ich könnte eine neue Garderobe für sie machen. Ich hab einen ganzen Haufen alte Stoffreste gefunden –«
»Und erst ihre Haare«, sagte Justin und schob das Gemüse zu mir rüber. »Vergiss die Haare nicht. Die sind schrecklich.«
»Sie trägt die Haare einer Toten«, klärte Rafe mich auf. »Wenn du eine Nadel in sie reinsteckst, kannst du Schreie vom Friedhof hören. Versuch’s mal.«
»Verstehst du, was ich meine?«, sagte Abby, an mich gerichtet. »Weicheier. Sie hat echtes Haar. Wieso er glaubt, von einer Toten –«
»Weil deine Puppe ungefähr 1890 hergestellt wurde, und ich kann rechnen.«
»Und was für ein Friedhof? Hier gibt's keinen Friedhof.«
»Irgendwo gibt’s einen. Irgendwo da draußen, jedes Mal, wenn du die Puppe berührst, zuckt eine Tote in ihrem Grab zusammen.«
»Solange du nicht dieses Kopfdings verschwinden lässt«, sagte Abby würdevoll, »hast du keinen Grund, meine Puppe als gruselig abzutun.«
»Das kann man überhaupt nicht vergleichen. Das Kopfdings ist ein wertvolles wissenschaftliches Hilfsmittel.«
»Ich mag das Kopfdings«, sagte Daniel und blickte überrascht auf. »Was ist daran auszusetzen?«
»Es sieht aus wie etwas, an dem Aleister Crowley seine helle Freude hätte, das ist daran auszusetzen. Komm, Lex, sag, dass ich recht habe.«
Frank und Sam hatten mir das Wichtigste an diesen vier nicht erzählt, vielleicht weil sie es nicht richtig erkannt hatten, nämlich wie nah sie sich waren. Die Handyvideos hatten die Macht dessen nicht einfangen können, genauso wenig, wie sie dem Haus gerecht geworden waren. Es war wie ein Schimmer in der Luft zwischen ihnen, wie glänzende spinnwebfeine Fäden, die hin und her und raus und rein geworfen wurden, bis jede Bewegung oder jedes Wort durch die ganze Gruppe vibrierte: Rafe, der Abby ihre Zigaretten reichte, noch fast bevor sie danach suchte, Daniel, der sich mit ausgestreckten Händen umdrehte, um den Steakteller genau in der Sekunde entgegenzunehmen, wenn Justin damit durch die Tür hereinkam, Sätze, die sie sich gegenseitig zuwarfen wie Spielkarten ohne auch nur die geringste Verzögerung. Rob und ich waren so gewesen: nahtlos.
Mein Hauptgefühl war, dass ich geliefert war. Diese vier hatten so enge Harmonien wie der eingespielteste A-capella-Chor der Welt, und ich musste bei der Jamsession meinen Einsatz finden, ohne einen einzigen Takt zu verpassen. Ein wenig Spielraum verschafften mir mein geschwächter Zustand und die Medikamente und das Trauma überhaupt – im Augenblick waren sie einfach froh, dass ich zu Hause war und redete, was ich genau sagte, war nebensächlich –, aber das würde auf Dauer nicht reichen, und niemand hatte mir irgendwas von einem »Kopfdings« erzählt. So zuversichtlich Frank auch gewesen war, ich war mir ziemlich sicher, dass im SOKO-Raum eine Wette lief – hinter Sams Rücken, nicht unbedingt hinter Franks –, wie lange es dauern würde, bis ich in einem spektakulären Feuerball unterging, und dass die meisten auf unter drei Tage gesetzt hatten. Ich nahm es ihnen nicht übel. Ich hätte mitwetten sollen: einen Zehner auf vierundzwanzig Stunden.
»Ich will hören, was es Neues gibt«, sagte ich. »Was war so los? Hat jemand nach mir gefragt? Habe ich Genesungskarten gekriegt?«
»Du hast scheußliche Blumen gekriegt«, sagte Rafe, »von den Anglisten. So riesige mutierte Gänseblümchen, schaurig künstliche Farben. Sie sind verwelkt, Gott sei Dank.«
»Vier-Titten-Brenda hat versucht, Rafe zu trösten«, sagte Abby mit einem schiefen Grinsen. »In seiner Stunde der Not.«
»Oh Gott«, sagte Rafe entsetzt, ließ sein Besteck fallen und schlug die Hände vors Gesicht. Justin kicherte. »Hat sie wirklich. Sie und ihr Atombusen haben mich im Kopierraum abgefangen und mich gefragt, wie ich mich fühle.«
Das musste Brenda Grealey sein. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie Rafes Typ war. Auch ich lachte – sie gaben sich alle Mühe, für gute Stimmung zu sorgen, und Brenda schien ohnehin eine ziemliche Tussi zu sein. »Ich glaube, er hat es genossen, tief im Innern«, sagte Justin sachlich. »Als er wieder rauskam, hat er nach billigem Parfüm gerochen.«
»Ich wär fast erstickt. Sie hat mich gegen den Kopierer gedrückt –«
»Irgendwelche Fummelmusik im Hintergrund?«, fragte ich. Es war schwach, aber ich tat, was ich konnte, und ich nahm Abbys rasches, schiefes Lächeln wahr, den erleichterten Ausdruck, der über Justins Gesicht huschte.
»Was zum Teufel hast du dir bloß im Krankenhaus in der Glotze angeguckt?«, wollte Daniel wissen.
»– und sie hat auf mich draufgeatmet«, sagte Rafe. »Feucht. Ich hatte das Gefühl, ein Walross, das in Lufterfrischer gebadet hat, will mir an die Wäsche.«
»Das Innere deines Kopfes ist ein schrecklicher Ort«, sagte Justin.
»Sie wollte mich zum Bier einladen, um mal über alles zu reden. Sie meinte, ich müsste mich öffnen. Was heißt das überhaupt?«
»Hört sich an, als wäre sie es, die sich mal öffnen wollte«, sagte Abby. »Sozusagen.« Rafe gab ein Würgegeräusch von sich.
»Du bist auch zum Kotzen«, sagte Justin.
»Gott sei Dank habt ihr ja mich«, sagte ich. Ich fühlte mich wie auf Glatteis, wenn ich etwas sagte. »Ich bin hier die Kultivierte.«
»Na«, sagte Justin mit einem kleinen verhaltenen Lächeln zu mir. »Träum weiter. Aber wir lieben dich trotzdem. Nimm noch was von dem Steak. Du isst wie ein Vögelchen. Schmeckt's dir nicht?«
Halleluja: Anscheinend hatten Lexie und ich den gleichen Stoffwechsel, wie wir uns auch sonst in allem ähnlich waren. »Quatsch, es schmeckt super«, sagte ich. »Aber ich hab noch nicht wieder so richtig Appetit.«
»Ja, dann.« Justin beugte sich über den Tisch und legte mir noch ein Steak auf den Teller. »Du musst was tun, um wieder zu Kräften zu kommen.«
»Justin«, sagte ich, »du bist und bleibst mir der Liebste.«
Er wurde rot bis zum Haaransatz, und ehe er sich hinter seinem Glas verstecken konnte, sah ich etwas Gequältes – was, konnte ich nicht sagen – über sein Gesicht zucken. »Sei nicht albern«, sagte er. »Du hast uns gefehlt.«
»Ihr mir auch«, sagte ich und grinste ihn keck an. »Vor allem, wenn das Krankenhausessen kam.«
»Typisch«, sagte Rafe.
Einen Moment lang war ich sicher, dass Justin noch etwas sagen wollte, aber dann griff Daniel nach der Flasche, um nachzuschenken, und Justin blinzelte, die Röte verschwand aus seinem Gesicht, und er nahm wieder sein Besteck. Eine zufriedene, tiefe Stille trat ein, wie häufig bei gutem Essen. Irgendetwas ging um den Tisch: ein Lockern, eine Beruhigung, ein langes Seufzen, zu leise, um es hören zu können. Un ange passe, hätte mein französischer Großvater gesagt: Ein Engel geht vorbei. Irgendwo oben im Haus hörte ich den schwachen, verträumten Klang einer schlagenden Uhr.
Daniel warf Abby einen Seitenblick zu, so unauffällig, dass ich es fast übersehen hätte. Er hatte bisher am wenigsten gesagt, den ganzen Abend. Er war auch auf den Handyvideos meist still gewesen, aber das hier hatte irgendwie einen anderen Beigeschmack, eine konzentrierte Intensität, und ich war nicht sicher, ob sich die einfach nicht so gut auf eine Kamera übertrug oder ob sie neu war. »Also«, sagte Abby. »Wie fühlst du dich, Lex?«
Sie hatten alle aufgehört zu essen. »Ganz gut«, sagte ich. »Ich soll ein paar Wochen lang nichts Schweres heben.«
»Hast du Schmerzen?«, fragte Daniel.
Ich zuckte die Achseln. »Sie haben mir hammerharte Schmerzmittel gegeben, aber die brauche ich meist nicht. Ich hab nicht mal eine fette Narbe. Innen mussten sie mir alles zusammennähen, aber außen hab ich nur sechs Stiche.«
»Lass mal sehen«, sagte Rafe.
»Himmel«, sagte Justin und legte seine Gabel hin. Er sah aus, als wollte er jeden Moment vom Tisch aufstehen. »Du bist ja pervers. Ich hab keinerlei Bedarf, die Narbe zu sehen, vielen herzlichen Dank.«
»Ich will sie ganz bestimmt nicht beim Essen sehen«, sagte Abby. »Nichts für ungut.«
»Die kriegt keiner nirgendwo zu sehen«, sagte ich und blickte Rafe mit zusammengekniffenen Augen an – darauf war ich vorbereitet. »Die haben die ganze Woche an mir rumgefummelt und getastet, und wer meiner Narbe noch mal zu nahe kommt, dem beiß ich die Finger ab.«
Daniel musterte mich noch immer nachdenklich. »Jawohl, zeig’s ihnen«, sagte Abby.
»Tut dir wirklich nichts mehr weh?« Justin hatte einen verkniffenen, weißen Zug um Mund und Nase, als wäre schon der Gedanke für ihn unerträglich. »Das muss doch total weh getan haben, am Anfang. War’s schlimm?«
»Ihr geht’s gut«, sagte Abby. »Hat sie doch eben gesagt.«
»Ich frag ja nur. Die Polizei hat immer gesagt –«
»Nun lass gut sein.«
»Was?«, fragte ich. »Was hat die Polizei immer gesagt?«
»Ich finde«, sagte Daniel ruhig, aber abschließend, und drehte sich auf seinem Stuhl zu Justin um, »wir sollten es gut sein lassen.«
Wieder Stille, diesmal weniger entspannt. Rafes Messer quietschte auf seinem Teller; Justin verzog das Gesicht; Abby griff nach dem Pfefferstreuer, klopfte einmal fest damit auf den Tisch und schüttelte ihn forsch.
»Die wollten wissen«, sagte Daniel plötzlich und sah mich über sein Glas hinweg an, »ob du ein Tagebuch oder einen Terminkalender hast, irgendwas in der Art. Ich hielt es für das Beste, dass wir nein sagen.«
Also doch ein Tagebuch?
»Gut so«, sagte ich. »Ich will nicht, dass die in meinen Sachen rumwühlen.«
»Haben sie schon«, sagte Abby. »Tut mir leid. Sie haben dein Zimmer durchsucht.«
»Ach Scheiße«, sagte ich empört. »Wieso habt ihr sie nicht dran gehindert?«
»Wir hatten nicht den Eindruck, dass wir eine Wahl haben«, sagte Rafe trocken.
»Und wenn ich Liebesbriefe hätte oder – oder harte Pornos oder was Privates?«
»Wahrscheinlich haben sie genau danach gesucht.«
»Eigentlich waren sie ganz faszinierend«, sagte Daniel. »Die von der Polizei. Die meisten von ihnen wirkten total desinteressiert: reine Routine. Ich hätte ihnen gern bei der Durchsuchung zugesehen, aber ich glaube, es wäre keine gute Idee gewesen, sie drum zu bitten.«
»Jedenfalls haben sie nicht gefunden, was sie gesucht haben«, sagte ich zufrieden. »Wo ist es, Daniel?«
»Keine Ahnung«, sagte Daniel leicht überrascht. »Da, wo du es hingetan hast, nehme ich an«, und damit widmete er sich wieder seinem Steak.
Die Jungs räumten die Teller ab. Abby und ich blieben am Tisch sitzen und rauchten in einer Stille, die mir allmählich gesellig vorkam. Ich hörte jemanden im Wohnzimmer hantieren, verborgen hinter einer breiten Schiebedoppeltür, und der Geruch von Holzrauch drang nach draußen zu uns. »Machen wir heute’nen ruhigen?«, fragte Abby und sah mich über ihre Zigarette hinweg an. »Nur lesen?«
Nach dem Essen war für alle Freizeit: Kartenspielen, Musik, Lesen, Reden, das Haus weiter auf Vordermann bringen. Lesen schien mir die weitaus einfachste Möglichkeit zu sein. »Perfekt«, sagte ich. »Ich muss ganz schön was aufholen für meine Diss.«
»Mach mal halblang«, sagte Abby – wieder mit dem kleinen, schiefen Lächeln. »Du bist doch gerade erst wieder zu Haus. Du hast alle Zeit der Welt.« Sie drückte die Zigarette aus und öffnete mit Schwung die Schiebetüren.
Das Wohnzimmer war riesengroß und überraschenderweise wunderbar. Die Fotos hatten nur die Schäbigkeit eingefangen und nichts von der Atmosphäre. Hohe Decke mit Stuckverzierungen an den Rändern, breite Dielen, unlackiert und uneben, scheußliche Blümchentapete, die sich stellenweise löste und die alten Schichten darunter sehen ließ – zartrote und goldene Streifen, ein matter cremefarbener Schimmer wie Seide. Die Möbel waren bunt gemischt und alt: ein verkratzter Kartentisch mit Rosenholzintarsien, verblichene Brokatsessel, ein langes, unbequem aussehendes Sofa, Bücherregale voll mit zerfledderten Lederausgaben und bunten Taschenbüchern. Es gab kein Deckenlicht, nur Stehlampen und ein Feuer, das in einem wuchtigen schmiedeeisernen Kamin knisterte und wilde Schatten warf, die zwischen den Spinnweben hoch oben in den Ecken herumjagten. Der Raum war chaotisch, und ich verliebte mich in ihn, noch ehe ich ganz durch die Tür war.
Die Sessel sahen gemütlich aus, und ich wollte schon auf einen von ihnen zusteuern, als mein Verstand voll in die Bremsen stieg. Ich konnte mein Herz hören. Ich hatte keine Ahnung, wo mein üblicher Platz war. Mein Kopf war leer. Das Essen, die Frotzeleien, die behagliche Stille mit Abby: Ich hatte mich entspannt.
»Bin gleich wieder da«, sagte ich und verkroch mich im Bad, damit die anderen inzwischen hoffentlich die Auswahl begrenzten, indem sie sich auf ihre Plätze setzten, und damit meine zitternden Beine sich beruhigten. Als ich wieder normal atmen konnte, war mein Verstand wieder angesprungen, und ich wusste, wo mein Platz war: ein niedriger, viktorianischer Stillsessel auf einer Seite des Kamins. Frank hatte mir haufenweise Fotos gezeigt. Eigentlich wusste ich das.
Es wäre so einfach gewesen: im falschen Sessel Platz nehmen. Gerade mal vier Stunden.
Justin blickte mit einer leichten Sorgenfalte zwischen den Augenbrauen hoch, als ich ins Wohnzimmer kam, aber niemand sagte etwas. Meine Bücher lagen verteilt auf einem niedrigen Tisch neben meinem Sessel: dicke historische Nachschlagewerke, eine eselsohrige Ausgabe von Jane Eyre, aufgeklappt und mit den Seiten nach unten auf einem linierten Notizblock, ein vergilbter Thriller mit dem Titel Mord im Cocktailkleid von Rip Corelli – vermutlich nicht promotionsbezogen, aber vielleicht ja doch –, das Cover zeigte eine vollbusige Frau in einem geschlitzten Kleid und mit einer Pistole im Strumpfband (»Sie lockte die Männer an wie Honig die Bienen … und dann schlug sie zu!«). Mein Stift – ein blauer Kuli, das Ende sichtlich angenagt – lag noch da, wo ich ihn mitten im Satz hingelegt hatte, an diesem Mittwochabend.
Ich beobachtete die anderen über mein Buch hinweg, suchte nach irgendwelchen Anzeichen für Nervosität, aber sie hatten sich alle mit augenblicklicher, geschulter Konzentration in ihre jeweilige Lektüre vertieft. Abby in einem Sessel, die Füße auf einer kleinen bestickten Fußbank – ihr Restaurationsprojekt vermutlich. Sie blätterte zügig Seiten um und zwirbelte sich eine Haarlocke um den Finger. Rafe saß mir am Kamin gegenüber in dem anderen Sessel. Hin und wieder legte er sein Buch hin und beugte sich vor, um im Feuer zu stochern oder ein Holzscheit nachzulegen. Justin lag auf dem Sofa, seinen Notizblock auf der Brust abgestützt, kritzelte, murmelte dann und wann etwas vor sich hin oder schnaubte oder schnalzte missbilligend mit der Zunge. Hinter ihm an der Wand hing ein ausgefranster Bildteppich mit einer Jagdszene. Er hätte eigentlich unpassend dazu aussehen müssen, mit der Cordhose und der kleinen randlosen Brille, aber irgendwie tat er das nicht, überhaupt nicht. Daniel saß am Kartentisch, den dunklen Kopf im Licht einer hohen Lampe gebeugt, und bewegte sich nur, um bedächtig in aller Ruhe eine Seite umzublättern. Die schweren grünen Samtvorhänge waren geöffnet, und ich stellte mir vor, wie wir wohl aussehen würden für jemanden, der vom dunklen Garten aus hereinschaute, so sicher eingehüllt in unseren Feuerschein und voller Konzentration, so hell und friedlich, wie etwas aus einem Traum. Eine jähe schwindelerregende Sekunde lang beneidete ich Lexie Madison.
Daniel spürte, dass ich ihn beobachtete: Er hob den Kopf und lächelte mich über den Tisch hinweg an. Es war das erste Mal, dass ich ihn lächeln sah, und es lag eine ungeheure, ernste Sanftheit darin. Dann beugte er den Kopf wieder über sein Buch.
Ich ging früh zu Bett, gegen zehn, teils um meiner Rolle gerecht zu werden und teils weil Frank recht behalten hatte, ich war völlig erledigt. Mein Gehirn fühlte sich an, als hätte es einen Triathlon hinter sich. Ich schloss die Tür von Lexies Zimmer (Maiglöckchengeruch, ein feiner leichter Hauch wirbelte an meiner Schulter hoch und rund um den Ausschnitt meines T-Shirts, neugierig und wachsam) und lehnte mich mit dem Rücken dagegen. Eine Sekunde lang dachte ich, ich würde es nicht bis zum Bett schaffen, würde einfach an der Tür runterrutschen und schon einschlafen, ehe ich auf dem Teppichboden landete. Der Job war anstrengender, als ich in Erinnerung hatte, und ganz bestimmt nicht, weil ich alt wurde oder mein Fingerspitzengefühl verlor oder irgendeine von den anderen reizvollen Möglichkeiten, die O'Kelly gemutmaßt hätte. Beim letzten Mal hatte ich das Heft in der Hand, konnte selbst entscheiden, mit wem ich Kontakt haben sollte, für wie lange, wie eng der Kontakt zu sein hatte. Diesmal hatte Lexie sie alle für mich herbestellt, und mir blieb keine Wahl: Ich musste haargenau nach ihren Regeln spielen, aufmerksam und unentwegt lauschen, als würde sie über einen schwachen, knisternden Ohrhörer zu mir sprechen, und mich von ihr lenken lassen.
Ich hatte dieses Gefühl schon öfters gehabt, bei meinen unerfreulichsten Ermittlungen: Jemand anderer diktiert, wo’s langgeht. Die meisten davon waren nicht gut ausgegangen. Aber da war der andere immer der Mörder gewesen, der uns stets drei hochnäsige Schritte voraus war. Ich hatte noch nie einen Fall gehabt, wo dieser andere das Opfer war.
Eines war allerdings einfacher. Bei meinem letzten Undercovereinsatz am UCD hatte jedes Wort aus meinem Munde einen fiesen Nachgeschmack, schmeckte irgendwie verdorben und falsch, wie verschimmeltes Brot. Ich sagte ja schon, dass ich nicht gern lüge. Diesmal jedoch hinterließ alles, was ich gesagt hatte, lediglich den blitzsauberen Geschmack von Wahrheit. Als mögliche Erklärung fiel mir dazu nur ein, dass ich mir selbst im großen Stil etwas vormachte – Rationalisieren gehört zum Undercoverhandwerk – oder dass ich irgendwie auf eine schräge Art, die tiefer und sicherer war als harte Fakten, gar nicht log. Solange ich die Sache hier richtig machte, war fast alles, was ich sagte, die Wahrheit, nur eben Lexies, nicht meine. Ich befand, dass es wahrscheinlich ein kluger Schritt wäre, mich von der Tür loszueisen und ins Bett zu gehen, ehe ich anfing, über eine der beiden Möglichkeiten allzu lange nachzudenken.
Ihr Zimmer lag im obersten Stock, nach hinten raus, gegenüber von Daniels und über Justins. Es war mittelgroß, hatte eine niedrige Decke, schlichte weiße Vorhänge und ein wackeliges schmiedeeisernes Einzelbett, das wie eine alte Wäschemangel quietschte, als ich mich draufsetzte – wenn Lexie es geschafft hatte, in dem Ding schwanger zu werden, alle Achtung. Der Bettbezug war blau und frisch gebügelt. Jemand hatte mein Bett frisch bezogen. Viele Möbel hatte sie nicht: ein Bücherregal, einen schmalen Holzschrank mit praktischen Streifen aus Silberfolie auf den Regalbrettern, wo draufstand, was wo hinkam (MÜTZEN, STRÜMPFE), eine abscheuliche Plastiklampe auf einem abscheulichen Nachttisch und eine Frisierkommode mit verstaubten Schneckenverzierungen und einem dreiteiligen Spiegel, der mein Gesicht in verwirrenden Winkeln reflektierte und mir einen eiskalten Schauder über den Rücken jagte. Ich erwog, ihn mit einem Laken oder so zu verhängen, aber das hätte ich erklären müssen, und außerdem wurde ich das Gefühl nicht los, dass mein Spiegelbild dann trotzdem dahinter weiter sein Spiel treiben würde.
Ich schloss meinen Koffer auf, horchte mit gespitzten Ohren auf irgendwelche Geräusche auf der Treppe und holte dann meinen neuen Revolver und die Rolle Pflaster für meine Verbände hervor. Selbst zu Hause schlafe ich nicht, ohne meine Pistole griffbereit zu haben – eine alte Gewohnheit, mit der ich nicht gerade jetzt brechen wollte. Ich klebte die Waffe hinten an den Nachttisch, außer Sicht, aber in Reichweite. Keine Spinnweben, nicht einmal ein Staubfilm auf der Rückwand des Nachttisches: Die Spurensicherung war vor mir da gewesen.
Bevor ich mir Lexies blauen Pyjama anzog, riss ich den falschen Verband ab, löste das Mikro und verstaute den ganzen Kram unten in meinem Koffer. Irgendwo bekam Frank deswegen einen ausgewachsenen Wutanfall, aber das war mir egal; ich hatte meine Gründe.
Am ersten Abend eines Undercovereinsatzes schlafen zu gehen ist etwas, das du niemals vergisst. Den ganzen Tag über warst du pure, konzentrierte Kontrolle, hast dich selbst genauso scharf und schonungslos beobachtet, wie alles und jeden um dich herum, aber sobald du am Abend allein auf einer fremden Matratze in einem Zimmer liegst, dessen Luft anders riecht, bleibt dir nichts anderes übrig, als die Hände zu öffnen und loszulassen, dich in den Schlaf und in das Leben eines anderen Menschen fallen zu lassen wie ein Kieselstein, der durch kühles, grünes Wasser sinkt. Selbst beim ersten Mal weißt du, dass genau in dieser Sekunde etwas Unwiderrufliches einsetzt, dass du am nächsten Morgen verändert aufwachen wirst. Ich musste nackt in diese Veränderung hineingehen, mit nichts aus meinem eigenen Leben am Körper, so wie die Kinder von Holzfällern in Märchen nur schutzlos das Zauberschloss betreten können, so wie die Geweihten in alten Religionen nackt in ihre Initiationsriten gingen.
Ich fand eine schöne, illustrierte, mürbe alte Ausgabe von Grimms Märchen im Bücherregal und nahm sie mit ins Bett. Die anderen hatten sie Lexie letztes Jahr zum Geburtstag geschenkt: auf dem Vorsatzblatt stand mit Tinte in schräger, fließender Schrift – Justins, wie ich mir fast sicher war – »1 / 3/04. Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Du junges Mädchen (wann wirst Du endlich erwachsen??). Alles Liebe«, und die vier Namen.
Ich setzte mich ins Bett, das Buch auf den Knien, aber ich konnte nicht lesen. Ab und an drangen die schnellen, gedämpften Gesprächsrhythmen aus dem Wohnzimmer nach oben, und draußen vor meinem Fenster war der Garten lebendig: Wind in den Blättern, ein bellender Fuchs und eine Eule auf der Jagd, überall Geraschel und Rufe und Gewühle. Ich saß da, blickte mich in Lexies fremdem Zimmer um und lauschte.
Kurz vor Mitternacht knarrte die Treppe, und es klopfte leise an meiner Tür. Ich sprang fast an die Decke, griff nach meinem Koffer, um mich zu vergewissern, dass der Reißverschluss ganz zu war, und rief: »Herein.«
»Ich bin’s«, sagte Daniel oder Rafe oder Justin, dicht hinter der Tür, so leise, dass ich nicht sagen konnte, wer von den dreien. »Wollte nur gute Nacht sagen. Wir gehen jetzt schlafen.«
Mein Herz hämmerte. »Nacht«, rief ich. »Schlaft gut.«
Stimmen flogen die langen Treppen rauf und runter, ohne Herkunft, und verschwammen wie ein Zikadenchor, sanft wie Finger in meinem Haar. Nacht, sagten sie, gute Nacht, schlaf gut. Willkommen zu Haus, Lexie. Ja, willkommen zu Haus. Gute Nacht. Träum was Schönes.
Ich habe einen leichten Schlaf, und ich habe gute Ohren. Irgendwann in der Nacht wurde ich wach, schlagartig und vollständig. Auf der anderen Seite des Flurs, in Daniels Zimmer, flüsterte jemand.
Ich hielt den Atem an, aber die Türen waren dick, und das Einzige, was ich ausmachen konnte, war Gezischel im Dunkeln. Keine Worte, keine Stimmen. Ich schob den Arm unter der Bettdecke hervor, ganz vorsichtig, und tastete nach Lexies Handy auf dem Nachtisch: 3.17 Uhr.
Lange Zeit folgte ich der schwachen doppelten Flüsterspur, die sich zwischen den schrillen Fledermausrufen und dem Rauschen des Windes hindurchwand. Es war zehn Minuten vor vier, als ich das langsame Knarzen eines Türknaufs hörte, der gedreht wurde, und dann das leise Klicken, als Daniels Tür sich schloss. Der Hauch eines Geräusches auf dem Flur, kaum wahrnehmbar, wie ein Schatten, der sich im Dunkeln bewegt, dann nichts.