11

Eines übersehen die Leute leicht bei Sam, dass er nämlich die höchste Aufklärungsquote im Morddezernat hat. Manchmal frage ich mich, ob das nicht einen ganz einfachen Grund hat: Er verschwendet keine Energie. Andere Detectives, mich eingeschlossen, nehmen es persönlich, wenn irgendetwas falschläuft, sie werden ungeduldig und frustriert und ärgern sich über sich selbst und die Spuren, die im Sande verlaufen, und überhaupt den ganzen verdammten Fall. Sam versucht sein Bestes, und dann sagt er mit einem Achselzucken »na ja«, und probiert etwas Neues.

Im Verlauf der Woche hatte er sehr oft »na ja«, gesagt, wenn ich ihn fragte, wie es so lief, aber nicht auf seine übliche vage, diffuse Art. Diesmal klang er angespannt und gequält, jeden Tag einen Tick nervöser. Er hatte fast überall in Glenskehy an Haustüren geklopft und die Leute nach Whitethorn House befragt, war aber gegen eine glatte, glitschige Wand aus Tee und Keksen und leeren Blicken gelaufen. Nette junge Leute da oben im Haus, bleiben viel für sich, benehmen sich anständig, da gibt’s doch keinen Ärger, wieso auch, Detective? Schrecklich, was der jungen Frau passiert ist, ich hab einen Rosenkranz für sie gebetet, war bestimmt irgend so ein Kerl, dem sie in Dublin begegnet ist … Ich kenne dieses Kleinstadtschweigen, ich hatte auch schon damit zu tun, unfassbar wie Rauch und undurchdringlich wie Stein. Wir haben es jahrhundertelang im Umgang mit den Briten verfeinert, und er ist tief verwurzelt, dieser Instinkt, dass sich alle verschließen, sobald die Polizei auftaucht. Manchmal ist es wirklich nur das, aber dieses Schweigen ist kraftvoll, dunkel und verschlagen und gesetzlos. Es verbirgt noch immer Knochen, die auf irgendwelchen Hügeln verscharrt wurden, Waffenlager versteckt in Schweineställen. Die Briten haben es unterschätzt, sind auf die dümmlichen Blicke hereingefallen, aber ich und Sam, wir wussten beide: Es ist gefährlich.

Erst Dienstagnacht nahm Sams Stimme wieder diesen konzentrierten Tonfall an. »Hätte ich mir auch gleich denken können«, sagte er munter. »Wenn die nicht mit den hiesigen Kollegen reden wollen, warum sollten sie es dann mit mir tun?« Er hatte die Taktik gewechselt, ein Taxi nach Rathowen genommen und einen Abend im Pub verbracht. »Byrne hatte gesagt, die Leute da halten nicht viel von den Glenskehy-Leuten, und ich hab mir gedacht, jeder lästert doch mal gern über seine Nachbarn, also … «

Und er hatte recht gehabt. Die Stammgäste im Pub in Rathowen waren ganz anders drauf als die Leute in Glenskehy: Binnen dreißig Sekunden erkannten sie ihn als Cop (»Na, junger Mann, Sie sind bestimmt wegen dem Messerüberfall auf die junge Frau hier, was?«), und den Rest des Abends hatte er umringt von faszinierten Farmern verbracht, die ihm ein Bier nach dem anderen spendierten und fröhlich versuchten, ihm irgendwelche vertraulichen Informationen über die Ermittlung zu entlocken.

»Byrne hatte recht: Die Leute da finden, Glenskehy ist eine Irrenanstalt. Das hat zum Teil mit der üblichen Rivalität zwischen kleinen Orten zu tun – Rathowen ist einen Tick größer, hat immerhin eine Schule und eine Polizeiwache und ein paar Geschäfte, und für die Einheimischen ist Glenskehy ein ödes Provinzkaff. Aber hier steckt mehr dahinter. Die glauben ernsthaft, dass die aus Glenskehy nicht alle Tassen im Schrank haben. Einer hat gesagt, er würde keinen Fuß ins Regan’s setzen, nicht für Geld und gute Worte.«

Ich saß auf einem Baum, trug meine Mikrosocke und rauchte eine. Seit ich von den Schmierereien gehört hatte, fühlte ich mich auf den nächtlichen Wegen unruhig, exponiert. Ich war nicht gern da unten, wenn ich telefonierte und meine Aufmerksamkeit abgelenkt war. Ich hatte mir einen Schlupfwinkel oben in einer großen Buche gesucht, gleich dort, wo die Zweige anfingen und der Stamm sich aufspaltete. Mein Hintern passte genau in die Gabel, ich hatte in beide Richtungen freie Sicht auf den Weg und auf das Cottage weiter unten am Hang, und wenn ich die Beine hochzog, verschwand ich zwischen dem Laub. »Haben sie was über Whitethorn House gesagt?«

Kurze Pause. »Ja«, sagte Sam. »Das Haus hat keinen guten Ruf, in Rathowen ebenso wenig wie in Glenskehy. Das hängt zum großen Teil mit Simon March zusammen – er war ein verrückter alter Sack, nach allem, was man so hört. Zwei von den Typen da haben gesagt, er hätte mal auf sie geschossen, als sie Kinder waren und sich aufs Whitethorn-Grundstück geschlichen hatten. Aber das ist nicht alles.«

»Das tote Baby«, sagte ich. Bei den Worten glitt etwas Kaltes und Glattes mitten durch mich hindurch. »Wussten sie irgendwas darüber?«

»Ein bisschen. Ich bin nicht sicher, ob sie alles bis ins Einzelne richtig wiedergegeben haben – du wirst gleich sehen, was ich meine –, aber wenn es auch nur ansatzweise stimmt, ist es keine schöne Geschichte. Nicht gut für die Whitethorn-House-Leute, meine ich.«

Er legte eine Pause ein. »Na und?«, sagte ich. »Die vier sind nicht meine Familie, Sam. Und falls die Geschichte nicht irgendwann in den letzten sechs Monaten passiert ist, wovon ich nicht ausgehe, da wir sonst schon davon gehört hätten, kann sie mit keinem von ihnen zu tun haben. Ich bin bestimmt nicht tief gekränkt, weil Daniels Urgroßvater vor hundert Jahren irgendwas angestellt hat. Ehrenwort.«

»Also gut«, sagte Sam. »Laut der Rathowen-Version – es gibt ein paar Abweichungen, aber das ist der Kern des Ganzen – hatte ein junger Kerl aus Whitethorn House vor vielen, vielen Jahren eine Affäre mit einem Mädchen aus Glenskehy, und sie wurde schwanger. So was kam natürlich ziemlich oft vor. Das Problem war nur, dass dieses Mädchen nicht bereit war, in ein Kloster zu verschwinden oder Hals über Kopf irgendeinen armen Tropf aus dem Dorf zu heiraten, ehe die Leute merkten, dass sie schwanger war.«

»Eine Frau ganz nach meinem Geschmack«, sagte ich. Diese Geschichte konnte unmöglich gut ausgegangen sein.

»Leider sah das der junge March anders. Er war wütend. Er sollte eine reiche Angloirin heiraten und sah seine Pläne in Gefahr. Er erklärte der jungen Frau also, er wollte nichts mehr mit ihr oder dem Kind zu tun haben. Sie war ohnehin schon ziemlich unbeliebt im Dorf: nicht bloß unverheiratet schwanger – obwohl das allein damals schon schlimm genug war –, sondern auch noch von einem March schwanger … Kurz darauf wurde sie tot aufgefunden. Sie hatte sich erhängt.«

Derlei Geschichten haben sich in der Vergangenheit überall in Irland abgespielt. Die meisten sind so tief und still vergraben wie das Laub vergangener Jahre, haben längst Eingang in alte Balladen und Geschichten gefunden, die an Winterabenden erzählt werden. Ich stellte mir vor, wie diese über ein Jahrhundert hinweg oder noch länger verborgen gelegen hatte, keimend und wachsend wie ein langsamer dunkler Samen, um endlich mit Glasscherben und Messern und giftigen Beeren aus Blut entlang den Weißdornhecken zu erblühen. Mein Rücken am Baumstamm kribbelte.

Ich drückte die Zigarette an meiner Schuhsohle aus und schob die Kippe zurück in die Packung. »Hast du irgendeinen eindeutigen Beleg dafür, dass die Sache tatsächlich passiert ist?«, fragte ich. »Und nicht bloß irgendeine Geschichte ist, die in Rathowen erzählt wird, als Abschreckung für die Kinder, damit sie sich von Whitethorn House fernhalten?«

Sam atmete tief aus. »Nichts. Ich hab die Akten von ein paar Sonderfahndern durchforsten lassen, aber sie haben nichts gefunden. Und die Chance, dass mir irgendwer in Glenskehy was erzählt, ist gleich null. Die würden die Sache lieber für alle Zeit unter den Teppich kehren.«

»Aber irgendeiner hat sie nicht vergessen«, sagte ich.

»In ein paar Tagen müsste ich in etwa wissen, wer das sein könnte – ich besorg mir sämtliche Informationen über die Leute in Glenskehy und gleiche sie mit deinem Profil ab. Aber ich wüsste gern genauer, was unser Freund für ein Problem hat, ehe ich ihn mir zur Brust nehme. Leider Gottes hab ich keine Ahnung, wo ich anfangen soll. Einer von den Typen in Rathowen hat gesagt, die Geschichte wäre zu Lebzeiten seiner Urgroßmutter passiert, was keine große Hilfe ist: Die Frau ist achtzig Jahre alt geworden. Ein anderer schwört, die Sache wäre schon im neunzehnten Jahrhundert gewesen, ›irgendwann nach der großen Hungersnot‹, aber ... ich weiß nicht. Ich glaub, der will sie einfach nur so weit in die Vergangenheit schieben wie möglich. Ich hab also einen Zeitraum von 1847 bis ungefähr 1950, und keiner will mir helfen, ihn einzugrenzen.«

»Weißt du was«, sagte ich, »vielleicht kann ich dir ja helfen.« Auf einmal kam ich mir gemein vor, wie eine Verräterin. »Lass mir ein paar Tage Zeit, und ich seh mal, ob ich Genaueres rausfinden kann.«

Eine kleine Pause, wie eine Frage, bis Sam einsah, dass ich nicht ins Detail gehen würde. »Das wäre super. Jede Kleinigkeit wäre hilfreich.« Dann, mit veränderter Stimme, fast schüchtern: »Hör mal, ich wollte dich schon länger was fragen, bevor das alles hier passiert ist. Ich hab mir gedacht … Ich bin noch nie in Urlaub gefahren, außer einmal nach Youghal, als kleiner Junge. Und du?«

»Frankreich, in den Sommerferien.«

»Ja, aber das waren eher Familienbesuche. Ich meinte eine richtige Urlaubsreise, wie im Fernsehen, mit Sandstrand und Schnorcheln und bunten Cocktails an einer Bar mit einer kitschigen Sängerin, die »I Will Survive« schmettert.«

Ich wusste, worauf er hinauswollte. »Was zum Teufel hast du dir in der Glotze angesehen?«

Sam lachte. »Ibiza Uncovered. Da siehst du mal, was mit meinem Geschmack passiert, wenn du nicht da bist.«

»Du wolltest dir nur halbnackte Frauen ansehen«, sagte ich. »Emma und Susanna und ich wollten schon seit der Schule immer mal zusammen verreisen, aber wir haben’s nie geschafft. Vielleicht diesen Sommer.«

»Aber jetzt haben beide ein Kind, nicht? Da wird’s schwierig werden, so eine Freundinnenreise zu machen. Ich hab mir gedacht … « Wieder dieser schüchterne Tonfall. »Ich hab mir im Reisebüro ein paar Kataloge besorgt. Italien hauptsächlich. Ich weiß ja, dass du dich für Archäologie interessierst. Meinst du, ich könnte dich zu einem Urlaub überreden, wenn das alles hier vorbei ist?«

Ich hatte keine Ahnung, was ich davon hielt, und keinen Raum, mir darüber Gedanken zu machen. »Das klingt herrlich«, sagte ich, »und es ist lieb von dir, daran zu denken. Können wir das entscheiden, wenn ich wieder zu Hause bin? Die Sache ist die, ich weiß nicht, wie lange das hier noch dauert.«

Eine ganz kurze Stille trat ein, und ich verzog das Gesicht. Ich hasse es, Sams Gefühle zu verletzen. Das ist, wie einen Hund treten, der zu sanftmütig ist, um zurückzubeißen.

»Es sind jetzt schon über zwei Wochen. Ich dachte, Mackey hätte von höchstens einem Monat gesprochen.«

Frank sagt alles, was ihm im gegebenen Moment nützlich erscheint. Undercover-Ermittlungen können Jahre dauern. In diesem Fall ging ich zwar nicht davon aus – langfristige Einsätze empfehlen sich bei anhaltenden kriminellen Aktivitäten, nicht bei einmaligen Straftaten –, aber ich war ziemlich sicher, dass er sich den Monat bloß aus den Fingern gesogen hatte, damit Sam Ruhe gab. Für einen kurzen Augenblick hoffte ich es fast. Der Gedanke, wenn die Sache hier beendet war, wieder zum DHG und dem hektischen Dublin und meiner adretten Berufskleidung zurückzukehren, war ungemein deprimierend.

»Theoretisch, ja«, sagte ich, »aber bei so was kann man nie wissen. Es könnte auch schneller zu Ende sein – ich könnte praktisch täglich nach Hause kommen, wenn einer von uns etwas Handfestes findet. Aber falls ich auf eine gute Spur stoße und die weiterverfolgt werden muss, könnte es auch noch ein oder zwei Wochen länger dauern.«

Sam stieß einen zornigen, frustrierten Laut aus. »Sollte ich jemals davon anfangen, mich wieder auf eine gemeinsame Ermittlung einlassen zu wollen, dann sperr mich bitte irgendwo ein, bis ich wieder bei Verstand bin. Ich brauche endlich einen Schlusstermin. Ich hab alles Mögliche aufgeschoben – zum Beispiel von den drei Typen DNA-Proben zu nehmen, um sie mit dem Baby abzugleichen … Solange du nicht da raus bist, kann ich nicht mal erwähnen, dass wir in einem Mordfall ermitteln. Ein, zwei Wochen, das geht ja noch –«

Ich hörte ihm nicht mehr zu. Irgendwo, weiter unten auf dem Weg oder tief zwischen den Bäumen, war ein Geräusch. Keiner der üblichen Laute, Nachtvögel und Blätter und kleine Tiere auf Beutejagd, die kannte ich inzwischen. Irgendetwas anderes.

»Warte mal«, sagte ich leise mitten in Sams Satz hinein.

Ich nahm das Handy vom Ohr und lauschte, hielt den Atem an. Es kam ein Stück weiter unten vom Weg her, aus Richtung Straße, schwach, aber näher kommend: ein langsames, rhythmisches Knirschen. Schritte auf Kies.

»Ich muss Schluss machen« sagte ich beinahe flüsternd ins Handy. »Ich ruf wieder an, wenn ich kann.« Ich schaltete das Handy aus, stopfte es in die Tasche, zog die Beine hoch zwischen die Zweige und wartete.

Die Schritte waren regelmäßig und kamen näher. Sie klangen schwer, nach einer kräftigen Person. An diesem Weg lag nichts außer Whitethorn House. Ich zog meinen Pulloverkragen hoch, langsam, um die untere Hälfte meines Gesichts zu bedecken. Im Dunkeln verrät dich die helle Fläche.

Die Nacht verändert den Sinn für Entfernungen, lässt Dinge näher klingen, als sie sind, und es schien endlos zu dauern, bis jemand in Sicht kam: zuerst bloß die Andeutung einer Bewegung, ein fleckiger Schatten, der langsam unter den Blättern vorbeizog. Ein Aufleuchten von hellem Haar, gespenstisch silbern in dem fahlen Licht. Ich musste den Impuls unterdrücken, den Kopf abzuwenden. Es war ein übler Ort, um darauf zu warten, dass etwas aus der Dunkelheit trat. Um mich herum waren zu viele unbekannte Dinge, die sich auf verstecken Pfaden zielstrebig ihren eigenen geheimen Angelegenheiten widmeten, und manche waren gewiss von der Art, die wir nicht ungestraft sehen sollen.

Dann trat er in einen Flecken Mondlicht, und ich erkannte, dass es bloß ein Mann war, gebaut wie ein Rugbyspieler und in einer designermäßig aussehenden Lederjacke. Er bewegte sich, als wäre er unsicher, zögernd, blickte immer wieder zwischen die Bäume auf beiden Seiten. Als er nur wenige Meter entfernt war, wandte er den Kopf und schaute genau auf meinen Baum, und in dem Moment, bevor ich die Augen schloss – auch das kann einen verraten, dieses Glitzern, wir sind alle darauf programmiert, beobachtende Augen zu entdecken –, sah ich sein Gesicht. Er war in meinem Alter, vielleicht etwas jünger, gutaussehend auf eine wenig einprägsame glatte Art, mit einem unsicheren, verblüfften Stirnrunzeln, und er stand nicht auf der BK-Liste. Ich hatte ihn noch nie gesehen.

Er ging unter mir her, so nah, dass ich ihm ein Blatt auf den Kopf hätte werfen können, und verschwand den Weg hinunter. Ich blieb, wo ich war. Falls er jemanden besuchen wollte, würde ich lange hier oben ausharren müssen, aber das glaubte ich nicht. Das Zögern, die ratlosen Rundumblicke. Er suchte nicht nach dem Haus. Er suchte nach etwas anderem – jemand anderem.

Dreimal hatte Lexie sich in ihren letzten Wochen irgendwo mit N getroffen – oder zumindest geplant, sich mit N zu treffen. Und wenn die anderen vier die Wahrheit sagten, war sie in der Nacht, als sie starb, wie gewohnt zu ihrem Spaziergang aufgebrochen und ihrem Mörder begegnet.

Mein Adrenalinausstoß war heftig, und es juckte mich, dem Kerl zu folgen oder ihn wenigstens auf seinem Rückweg abzufangen, aber ich wusste, dass das eine schlechte Idee war. Ich hatte keine Angst – ich war schließlich bewaffnet und trotz seines wuchtigen Körperbaus sah er nicht besonders angsteinflößend aus –, aber ich hatte nur diese eine Chance, und ich konnte es mir nicht leisten, mein Pulver zu verschießen, im übertragenen Sinne, solange ich noch komplett im Dunkeln tappte. Da ich kaum eine Möglichkeit hatte herauszufinden, ob es eine Verbindung zu Lexie gab und wenn ja, welche, würde ich improvisieren müssen, aber es wäre auf jeden Fall besser, wenigstens seinen Namen zu kennen, ehe wir ins Gespräch kamen.

Ich glitt in Zeitlupe vom Baum herunter – an der Rinde rutschte mein Top hoch, und fast wäre das Mikro abgerissen, Frank musste glauben, ich würde von einem Panzer überrollt – und stellte mich hinter den Stamm, um zu warten. Es kam mir vor wie Stunden, ehe der Kerl zurückkehrte. Er rieb sich den Hinterkopf und sah noch immer verwundert aus. Was auch immer er suchte, er hatte es nicht gefunden. Als er an mir vorbei war, zählte ich dreißig Schritte ab und folgte ihm dann. Ich ging an dem grasigen Rand entlang, setzte behutsam die Füße auf, hielt mich hinter Baumstämmen.

Er hatte einen Angeberschlitten auf der Landstraße geparkt, einen bulligen schwarzen Geländewagen mit diesen unvermeidlichen getönten Scheiben. Der Wagen stand etwa fünfzig Meter von der Abzweigung entfernt, und die Straße war von weiten offenen Flächen gesäumt – hohes Gras, zottelige Brennnesseln, ein alter, leicht schiefer Meilenstein –, daher gab es keine Deckung. Es wäre zu riskant, so nahe ranzugehen, bis ich das Nummernschild lesen konnte. Mein großer Unbekannter tätschelte die Motorhaube liebevoll, stieg ein, knallte die Tür zu laut zu – jähe, eisige Stille in den Bäumen um mich herum – und blieb eine Weile einfach sitzen, dachte über Dinge nach, über die Typen wie er so nachdenken, wahrscheinlich seine Frisur. Dann ließ er den Motor aufheulen und donnerte die Straße hinunter Richtung Dublin.



Als ich sicher war, dass er nicht zurückkam, kletterte ich wieder auf meinen Baum und ließ mir die Sache durch den Kopf gehen. Natürlich bestand die Möglichkeit, dass dieser Kerl mich schon eine Weile beobachtet hatte, dass das elektrisierte Gefühl in meinem Nacken von ihm kam, aber das bezweifelte ich. Was immer er gesucht hatte, er war nicht besonders verstohlen unterwegs gewesen, und ich hatte nicht den Eindruck gehabt, dass es zu seinen Fähigkeiten gehörte, lautlos durch die freie Natur zu pirschen. Was da auch immer knapp außerhalb meines Gesichtsfeldes lauerte, würde sich nicht so leicht zu erkennen geben.

In einem war ich mir sicher: Weder Sam noch Frank mussten vorläufig von meinem Protzkarrenbesitzer erfahren, solange ich nichts Konkreteres vorzuweisen hatte. Sam würde einen Anfall kriegen, wenn er herausfand, dass ich mich auf derselben nächtlichen Route vor fremden Männern versteckte, auf der es Lexie nicht gelungen war, sich vor ihrem Mörder zu verstecken. Frank würde das überhaupt keine Kopfschmerzen bereiten – er war schon immer davon ausgegangen, dass ich sehr gut auf mich allein aufpassen kann –, aber wenn ich es ihm sagte, würde er die Sache in die Hand nehmen, er würde diesen Kerl aufspüren und ihn einkassieren und ihn knallhart verhören, und das wollte ich nicht. Etwas in mir sagte, dass das der falsche Weg war. Und noch etwas anderes, tiefer in mir, sagte, dass es Frank eigentlich nichts anging. Er war per Zufall in den Fall hineingestolpert. Das hier war eine Sache zwischen Lexie und mir.

Ich rief ihn trotzdem an. Wir hatten an dem Abend schon miteinander gesprochen, und es war spät, aber er meldete sich auf Anhieb. »Ja? Alles in Ordnung?«

»Mir geht’s gut«, sagte ich. »Entschuldige, ich wollte dir keinen Schrecken einjagen. Ich wollte dich bloß was fragen, ehe ich es wieder vergesse. Seid ihr bei den Ermittlungen auf einen Typen gestoßen, eins achtzig, kräftig, Ende zwanzig, gutaussehend, helles Haar, modische Frisur, braune Edellederjacke?«

Frank gähnte, was mir ein schlechtes Gewissen machte, aber mich auch ein wenig erleichterte: Gut zu wissen, dass er tatsächlich ab und an mal schlief. »Wieso?«

»Vor ein paar Tagen hat mich an der Uni ein Typ angelächelt und genickt, als würde er mich kennen. Er ist nicht auf der BK-Liste. Ist eigentlich nicht wichtig – schließlich hat er sich nicht so verhalten, als wären wir Busenfreunde oder so –, aber ich dachte, ich frag mal nach. Ich will nicht dumm dastehen, wenn wir uns noch mal über den Weg laufen.« Das stimmte übrigens, nur dass der fragliche Typ klein und mager und rothaarig gewesen war. Ich hatte mir zehn Minuten lang den Kopf zerbrochen, bis mir klar wurde, woher er mich kannte. Er saß immer in unserer Ecke der Bibliothek.

Frank dachte nach. Ich hörte Bettwäsche rascheln, als er sich umdrehte. »Da klingelt nichts bei mir«, sagte er. »Der Einzige, der mir einfällt, wäre der doofe Eddie – Daniels Cousin. Er ist neunundzwanzig und trägt eine braune Lederjacke, und ich schätze, er könnte als gutaussehend durchgehen, wenn man auf groß und blöd steht.«

»Nicht dein Typ?« Noch immer kein N. Warum zum Teufel sollte der doofe Eddie um Mitternacht in der Gegend von Glenskehy herumschleichen?

»Ich steh auf etwas mehr Oberweite. Eddie sagt jedenfalls, er ist Lexie nie begegnet. Und ich wüsste auch nicht, wo und wie. Er und Daniel verstehen sich nämlich nicht. Höchst unwahrscheinlich, dass Eddie auf ein Tässchen Tee im Haus vorbeischauen oder mit der Truppe einen trinken gehen würde. Und er wohnt in Bray, arbeitet in Killiney. Ich wüsste keinen Grund, warum er an der Uni gewesen sein soll.«

»Alles klar«, sagte ich. »Wahrscheinlich bloß irgendein Kommilitone. Schlaf weiter. Tut mir leid, dass ich dich geweckt hab.«

»Macht nichts«, sagte Frank und gähnte erneut. »Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste. Sprich einen Bericht auf Band, mit der genauen Beschreibung – und wenn du ihn noch mal siehst, sag Bescheid.« Er schlief schon halb.

»Mach ich. Nacht.«

Ich blieb noch ein paar Minuten ruhig in meinem Baum sitzen und lauschte auf irgendwelche ungewöhnlichen Geräusche. Nichts. Bloß die Büsche unter mir, die wie ein Ozean im Wind wogten, und dieses Prickeln, schwach und unmöglich zu ignorieren, oben an meiner Wirbelsäule. Ich sagte mir, wenn irgendetwas meine Phantasie überhitzen würde, dann wahrscheinlich die Geschichte, die Sam mir erzählt hatte: die junge Frau, die ihren Geliebten, ihre Familie, ihre Zukunft verloren hatte und die aus Verzweiflung, weil ihr und ihrem Baby nichts mehr geblieben war, einen Strick an einen dieser dunklen Äste geknotet hatte. Ich rief Sam an, ehe ich allzu lange darüber nachdenken konnte.

Er war noch immer hellwach. »Was war denn los? Alles in Ordnung mit dir?«

»Alles bestens«, sagte ich. »Tut mir echt leid. Ich dachte, ich hätte jemand kommen gehört. Ich hab mir schon Franks geheimnisvollen Stalker vorgestellt, mit Hockeymaske und Kettensäge, aber leider nein.« Auch das stimmte natürlich, aber für Sam die Fakten zu verdrehen war etwas anderes, als sie für Frank zu verdrehen, und mir zog sich der Magen zusammen.

Eine Sekunde Stille. »Ich hab Angst um dich«, sagte Sam leise.

»Ich weiß, Sam«, sagte ich. »Ich weiß. Mir geht’s ehrlich gut. Ich bin bald wieder zu Hause.«

Ich meinte, ihn seufzen zu hören, ein kurzes resigniertes Atmen, zu leise, um mir ganz sicher sein zu können. »Ja«, sagte er. »Dann können wir ja auch über den Urlaub sprechen.«

Auf dem Nachhauseweg dachte ich über Sams Vandalen nach, über dieses Prickeln im Nacken und über den doofen Eddie. Über ihn wusste ich lediglich, dass er in einer Immobilienagentur arbeitete, er und Daniel nicht miteinander konnten, Frank ihn nicht gerade für einen hellen Kopf hielt und er seinen Großvater für verrückt erklärt hatte, weil er sich Whitethorn House unbedingt selbst unter den Nagel hatte reißen wollen. Ich spielte ein paar Szenarien durch – ein blutrünstiger irrer Eddie, der die Bewohner von Whitethorn House nacheinander niedermeuchelt, Eddie, der Casanova, der eine gefährliche Liebschaft mit Lexie hat und ausflippt, als er von dem Baby erfährt –, aber alle schienen ziemlich weithergeholt, und überhaupt, ich hoffte doch, dass Lexie nicht so geschmacklos war, es mit irgendeinem blöden Yuppie auf der Rückbank eines Geländewagens zu treiben.

Falls er nicht gefunden hatte, was er suchte, bestand die Aussicht, dass er zurückkommen würde – es sei denn, er hatte sich bloß ein letztes Mal das Haus, das er geliebt und verloren hatte, und die Umgebung anschauen wollen, und so sentimental kam er mir eigentlich nicht vor. Ich sortierte ihn unter »Dinge, über die ich ein anderes Mal nachdenke« ein. Im Augenblick belegte er auf meiner Liste keinen Spitzenplatz. Es gab etwas, was ich Sam nicht erzählte, etwas neues Dunkles, das allmählich irgendwo in meinem Hinterkopf flatternd Gestalt annahm: Irgendjemand hegte einen erbitterten Groll gegen Whitethorn House; irgendjemand hatte sich auf diesen Feldwegen mit Lexie getroffen, jemand Gesichtsloses, der mit einem N anfing; und irgendjemand hatte mit ihr dieses Baby gemacht. Wenn diese drei ein und dieselbe Person waren … Sams Vandale hatte wahrscheinlich nicht alle Tassen im Schrank, aber er könnte durchaus clever genug sein – zumindest in nüchternem Zustand –, das zu verbergen. Er könnte attraktiv sein, charmant, alle möglichen anziehenden Eigenschaften haben, und wir wussten ja schon, dass Lexies Entscheidungsfindungsprozess anders ablief als bei den meisten Menschen. Vielleicht hatte sie eher auf düstere Typen gestanden. Ich dachte an eine zufällige Begegnung auf irgendeinem Feldweg, an lange Spaziergänge zu zweit unter einem hohen Wintermond und an filigran vereiste Zweige. An das Lächeln, das unter ihren Wimpern aufschien, an das verfallene Cottage und Schutz hinter dem Vorhang aus Brombeerranken.

Wenn der Mann, den ich mir vorstellte, die Chance gesehen hatte, ein Whitethorn-House-Mädchen zu schwängern, musste ihm das wie ein Gottesgeschenk erschienen sein, eine vollkommene blinde Symmetrie: ein goldener Ball, den Engel ihm zuspielten und der nicht verweigert werden durfte. Und er hätte sie getötet.



Am nächsten Morgen spuckte jemand auf unser Auto. Wir waren auf dem Weg zur Uni, Justin und Abby saßen vorne, Rafe und ich hinten – Daniel war schon früher gefahren, ohne Erklärung, als wir Übrigen noch beim Frühstück saßen. Es war ein kühler grauer Morgen, dämmrige Stille lag in der Luft, und feiner Nieselregen ließ die Fenster beschlagen; Abby blätterte irgendwelche Notizen durch, summte zu einer Mahler-CD und legte gelegentlich dramatische Oktavsprünge ein. Rafe hatte einen Schuh ausgezogen und versuchte, den chaotisch verknoteten Schnürsenkel zu entwirren. Als wir durch Glenskehy kamen, bremste Justin vor dem Zeitschriftenladen, um jemanden über die Straße zu lassen: einen alten Mann, gebeugt und drahtig, in einem bäuerlichen, abgetragenen Tweedanzug, eine Schirmmütze auf dem Kopf. Er hob seinen Gehstock wie zum Gruß, als er vorbeischlurfte, und Justin winkte zurück.

Dann fing der Mann Justins Blick auf. Er blieb mitten auf der Straße stehen und starrte uns durch die Windschutzscheibe an. Für den Bruchteil einer Sekunde verzog sich sein Gesicht zu einer Fratze der Wut und Verachtung. Dann schlug er mit seinem Stock auf die Motorhaube, und der dumpfe Knall riss den Morgen in Stücke. Wir fuhren alle hoch, aber ehe einer von uns etwas Vernünftiges tun konnte, räusperte sich der Alte, spuckte auf die Scheibe – genau vor Justins Gesicht – und humpelte in dem gleichen bedächtigen Tempo weiter über die Straße.

»Was –«, sagte Justin tonlos. »Was sollte denn der Scheiß? Was war das?«

»Die mögen uns nicht«, sagte Abby ruhig und griff rüber, um die Scheibenwischer anzumachen. Die Straße war lang und verlassen, kleine pastellfarbene Häuser im Regen dicht zusammengedrängt, dahinter dunkle Hügelschatten. Nirgendwo rührte sich etwas, nur das langsame mechanische Schlurfen des Alten und etwas weiter die Straße runter das Beben einer Gardine. »Fahr weiter, Justin.«

»So ein Arschloch«, sagte Rafe. Er hielt seinen Schuh wie eine Waffe umklammert, die Knöchel weiß. »Du hättest ihn über den Haufen fahren sollen, Justin. Du hättest sein Zwergenhirn auf der Straße verteilen sollen.« Er fing an, sein Fenster runterzukurbeln.

»Rafe«, sagte Abby schneidend. »Mach das wieder zu. Los.«

»Warum? Warum sollen wir uns das gefallen lassen?«

»Weil«, sagte ich mit dünner Stimme, »ich heute Abend meinen Spaziergang machen will.«

Augenblicklich erstarrte Rafe, genau wie ich es erwartet hatte. Er sah mich an, eine Hand noch immer an der Fensterkurbel. Justin würgte den Motor mit einem grässlichen mahlenden Geräusch ab, ließ ihn hektisch wieder an und gab Vollgas. »Charmant«, sagte er. Seine Stimme klang gepresst: Gemeinheiten in jeder Form brachten ihn unweigerlich aus der Fassung. »Das war echt charmant. Ich meine, mir ist klar, dass sie uns nicht mögen, aber das war ja wohl absolut überflüssig. Ich hab dem Mann doch nichts getan. Ich hab angehalten, um ihn rüberzulassen. Wieso hat er das gemacht?«

Ich war ziemlich sicher, die Antwort zu kennen. Sam hatte Glenskehy in den letzten Tagen unsicher gemacht. Da kommt ein Detective in seinem feschen Anzug aus Dublin angegondelt, spaziert in ihre Wohnzimmer und stellt Fragen, buddelt geduldig ihre begrabenen Geschichten wieder aus, und das alles, bloß weil ein Mädchen aus dem Herrenhaus ein Messer in den Bauch gekriegt hat. Sam war bei seiner Arbeit bestimmt freundlich und geschickt vorgegangen, wie immer. Ihr Zorn würde sich nicht gegen ihn richten.

»Nur so«, sagte Rafe. Er und ich hatten uns auf der Rückbank umgedreht und beobachteten den Alten, der vor dem Zeitschriftenladen auf dem Bürgersteig stand und hinter uns herstarrte. »Er hat es getan, weil er ein schwachsinniger Arsch ist und jeden hasst, der nicht gerade seine Frau oder seine Schwester oder beides ist. Das ist hier die reinste Inzesthölle.«

»Weißt du was?«, sagt Abby kalt, ohne sich umzudrehen. »Deine Kolonialherrenattitüde geht mir echt auf den Geist. Bloß weil er nicht auf irgendein englisches Edelinternat gegangen ist, ist er noch lange nicht weniger wert als du. Und wenn Glenskehy dir nicht fein genug ist, dann musst du dir eben was Besseres suchen.«

Rafe öffnete den Mund, zuckte dann angewidert die Achseln und klappte ihn wieder zu. Er zog mit einem heftigen Ruck an seinem Schnürsenkel, der prompt riss. Rafe stieß einen leisen Fluch aus.

Wäre der Mann dreißig oder vierzig Jahre jünger gewesen, hätte ich seine Beschreibung an Sam weitergegeben. Die Tatsache, dass er als Verdächtiger ausgeschlossen war – er hätte unmöglich schneller laufen können als fünf fuchsteufelswilde Studenten –, löste ein unangenehmes kurzes Frösteln zwischen meinen Schulterblättern aus. Abby drehte die Musik lauter. Rafe schmiss seinen Schuh auf den Boden und hielt den Mittelfinger an die Heckscheibe. Das, dachte ich, gibt noch Ärger.



»Okay«, sagte Frank am selben Abend. »Ich hab meinen FBI-Freund überredet, seine Jungs noch ein bisschen rumschnüffeln zu lassen. Ich hab ihm gesagt, wir hätten Grund zu der Annahme, dass unsere Kleine abgehauen ist, weil sie einen Nervenzusammenbruch hatte, und dass wir deshalb nach Anzeichen und möglichen Gründen dafür suchen. Nur rein interessehalber, vermuten wir das wirklich?«

»Ich hab keine Ahnung, was du vermutest, Frankie-Boy. Dein Verstand ist für mich ein schwarzes Loch.« Ich saß auf meinem Baum. Ich drückte den Rücken gegen einen Ast der Gabelung und stemmte einen Fuß gegen den anderen, so dass ich mein Notizbuch auf den Oberschenkel legen konnte. Das Mondlicht, das durch die Zweige drang, reichte gerade aus, um die Seite zu erkennen. »Momentchen.« Ich klemmte das Telefon unters Kinn und kramte nach meinem Stift.

»Du klingst gutgelaunt«, sagte Frank argwöhnisch.

»Ich hatte gerade ein köstliches Abendessen und viel Spaß. Da bin ich natürlich gutgelaunt.« Ich schaffte es, den Stift aus der Jackentasche zu fischen, ohne aus dem Baum zu fallen. »Okay, schieß los.«

Frank stieß einen gereizten Ton aus. »Schön für dich. Werde nur nicht zu kumpelhaft. Könnte ja sein, dass du einen von deinen prima Freunden irgendwann verhaften musst.«

»Ich dachte, du hast mich auf den geheimnisvollen Fremden mit dem schwarzen Umhang angesetzt.«

»Ich bleib nur für alles aufgeschlossen. Und der Umhang ist nicht zwingend erforderlich. Okay, Folgendes haben wir bis jetzt – denk dran, du hast gesagt, du wolltest ganz alltäglichen Kram, also beschwer dich nicht. Am sechzehnten August 2000 hat Lexie-May-Ruth ihren Telefonanbieter gewechselt, um billigere Ortsgespräche führen zu können. Am zweiundzwanzigsten hat sie im Diner eine Lohnerhöhung bekommen, fünfundsiebzig Cent mehr pro Stunde. Am achtundzwanzigsten hat Chad ihr einen Heiratsantrag gemacht, und sie hat ja gesagt. Am ersten Wochenende im September sind die zwei nach Virginia gefahren, damit sie Chads Eltern kennenlernt, die sie als sehr liebes Ding beschrieben, und haben ihnen eine Topfpflanze mitgebracht.«

»Der Verlobungsring«, sagte ich bemüht ruhig. In meinem Kopf prasselten die Ideen los wie Popcorn, aber ich wollte nicht, dass Frank das merkte. »Hat sie den mitgenommen, als sie verschwunden ist?«

»Nein. Die Cops haben Chad damals danach gefragt. Sie hat ihn auf dem Nachttisch liegen lassen, aber das war normal. Sie hat ihn immer da hingelegt, wenn sie zur Arbeit ging, damit sie ihn nicht verliert oder aus Versehen in die Friteuse fallen lässt oder so. Das Ding war kein Riesenklunker. Chad ist Bassist in einer Grunge-Band, die sich Man From Nantucket nennt. Die Jungs warten noch auf ihren großen Durchbruch, und bis dahin arbeitet er als Zimmermann. Er ist ziemlich blank.«

Aufgrund des schlechten Lichts und meiner nicht ganz bequemen Sitzposition gerieten meine Notizen kritzelig und total schief, aber ich konnte sie einigermaßen lesen. »Wie geht’s weiter?«

»Am zwölften September haben sie und Chad auf einen gemeinsamen Kredit eine PlayStation gekauft. Ich vermute, das ist heutzutage auch schon so was wie ein Eheversprechen. Am achtzehnten hat sie ihr Auto verkauft, einen 86er Ford, für sechshundert Dollar – sie hat Chad erzählt, sie würde ja jetzt mehr Geld verdienen und wollte sich einen Wagen kaufen, der nicht ganz so schrottreif ist. Am siebenundzwanzigsten ist sie wegen einer Ohrenentzündung zum Arzt, hat sie sich wahrscheinlich beim Schwimmen zugezogen. Er hat ihr Antibiotika gegeben, die auch geholfen haben. Und am zehnten Oktober ist sie weg. Wolltest du so was haben?«

»Ja«, sagte ich. »Das ist genau der Kram, der mir vorgeschwebt hat. Danke, Frank. Du bist ein Juwel.«

»Ich hab so das Gefühl«, sagte er, »dass zwischen dem zwölften und achtzehnten September irgendwas passiert ist. Bis zum zwölften deutet alles darauf hin, dass sie bleiben will, wo sie ist: Sie verlobt sich, sie lernt die Schwiegereltern kennen, sie und Chad machen Einkäufe für eine gemeinsame Zukunft. Aber am achtzehnten verkauft sie ihr Auto, was für mich heißt, dass sie sich Geld beschafft, um zu verschwinden. Denkst du das auch?«

»Klingt logisch«, sagte ich, aber ich wusste, dass Frank falschlag. Das undeutliche Muster hatte sich mit einem leisen endgültigen Klicken scharfgestellt, und ich wusste, warum Lexie aus North Carolina geflüchtet war. Wusste es so klar, als ob sie schwerelos auf einem Ast neben mir säße, die Beine im Mondlicht baumeln ließ und mir ins Ohr flüsterte. Und ich wusste auch, warum sie kurz davor gewesen war, aus Whitethorn House zu flüchten. Jemand hatte versucht, sie festzuhalten.

»Ich will versuchen, mehr über diese Woche rauszufinden. Vielleicht kann ja einer den guten alten Chad noch mal vernehmen. Wenn wir rauskriegen, warum sie ihre Pläne geändert hat, müssten wir unserem geheimnisvollen Fremden ein Stück näher kommen.«

»Klingt gut. Danke, Frank. Sag mir Bescheid, wie du vorankommst.«

»Tu nichts, was ich nicht auch tun würde«, sagte er und legte auf.

Ich hielt das Handydisplay so über die Seite, dass ich meine Notizen lesen konnte. Die PlayStation war bedeutungslos. Es ist leicht, irgendwas auf Kredit zu kaufen, wenn du nicht vorhast, ihn abzuzahlen, nicht vorhast, noch irgendwo greifbar zu sein. Der Wechsel des Telefonanbieters im August war das letzte verlässliche Indiz dafür, dass sie eigentlich bleiben wollte, wo sie war. Billigere Tarife sind nur dann attraktiv, wenn du auch die Absicht hast, sie zu nutzen. Am 16. August steckte sie noch mitten in ihrem May-Ruth-Leben, ohne irgendwelche Aufbruchsgedanken.

Und dann, kaum zwei Wochen später, hatte der arme Grunge-Chad ihr einen Heiratsantrag gemacht. Danach sprach nichts mehr dafür, dass Lexie bleiben wollte. Sie hatte ja gesagt, gelächelt und abgewartet, bis sie das Geld zusammenhatte, und dann war sie so weit und so schnell weggelaufen, wie sie konnte, ohne sich noch ein einziges Mal umzudrehen. Es war nicht Franks geheimnisvoller Stalker gewesen, es war nicht irgendeine unheimliche Bedrohung gewesen, die mit glitzernder Klinge aus dem Schatten heranschlich. Es war einfach nur ein kleiner, billiger Ring gewesen.

Und diesmal war es das Baby gewesen: eine lebenslange Bindung an irgendeinen Mann, irgendwo. Sie hätte es abtreiben können, genau wie sie Chads Antrag hätte ablehnen können, aber das war nicht das Entscheidende. Schon allein bei dem Gedanken an diese Bindung war sie so panisch geworden wie ein gefangener Vogel.

Der fehlende Kringel in ihrem Terminkalender, weil ihre Periode ausgeblieben war, und die Flugpreise. Und irgendwo dazwischen N. N war entweder die Falle, die sie hier festhalten wollte, oder aber, auf irgendeine Weise, die ich herausfinden musste, ihr Ausweg.



Die anderen lagen im Wohnzimmer ausgestreckt vor dem Kamin auf dem Boden, wie Kinder, und stöberten in einem vergammelten Reisekoffer, den Justin irgendwo gefunden hatte. Rafe hatte die Beine vertraulich über Abbys gelegt – offenbar hatten sie sich wieder vertragen. Auf dem Teppich verteilt standen Tassen und ein Teller Ingwerplätzchen, inmitten eines Sammelsuriums von kleinen ramponierten Dingen: pockennarbige Murmeln, Bleisoldaten, eine halbe Tonpfeife. »Super«, sagte ich, warf meine Jacke aufs Sofa und ließ mich mit einem Plumps zwischen Daniel und Justin nieder. »Was haben wir denn da?«

»Merkwürdige Merkwürdigkeiten«, sagte Rafe. »Hier. Für dich.« Er zog eine mottenzerfressene Spielzeugmaus auf und ließ sie über den Boden auf mich zuschnurren. Auf halber Strecke blieb sie mit einem deprimierend schrammenden Geräusch liegen.

»Nimm lieber hiervon«, sagte Justin, reckte sich und zog die Keksschale näher ran. »Die schmecken besser.«

Ich nahm mir mit einer Hand einen Keks, griff mit der anderen in den Koffer und ertastete etwas Hartes und Schweres. Es war ein ramponiertes Holzkistchen. Auf dem Deckel hatte vor langer Zeit mal als Perlmuttintarsie »EM« gestanden, jetzt waren nur noch ein paar Bruchstücke davon übrig. »Sehr schön«, sagte ich und klappte den Deckel auf. »Das ist wie ein Glückstopfspiel, nur noch viel besser.«

Es war eine Spieldose, angelaufene Zylinder und aufgeschlitztes blaues Seidenfutter, und nach sekundenlangem Surren begann sie, eine Melodie zu zupfen: »Greensleeves«, verrostet und zauberhaft. Rafe legte eine Hand über das Uhrwerk, das noch immer halbherzig vor sich hin summte. Es wurde ganz still, nur das Knistern des Feuers, während wir lauschten.

»Wunderschön«, sagte Daniel und schloss die Spieldose, als die Melodie endete. »Wirklich wunderschön. Nächstes Weihnachten … «

»Darf ich die mit auf mein Zimmer nehmen, zum Einschlafen?«, fragte ich. »Bis Weihnachten?«

»Brauchst du jetzt schon Schlafliedchen?«, fragte Abby, aber sie grinste mich an. »Klar darfst du.«

»Ich bin froh, dass wir sie nicht früher gefunden haben«, sagte Justin. »Sie ist bestimmt wertvoll. Wahrscheinlich wären wir gezwungen worden, sie zu verkaufen, für die Steuern.«

»Nicht besonders wertvoll«, sagte Rafe, nahm mir die Spieldose aus der Hand und begutachtete sie. »Für einfache Exemplare wie das hier werden rund hundert Euro bezahlt – in diesem Zustand deutlich weniger. Meine Großmutter hat so welche gesammelt. Zig Stück davon, überall wo ein Plätzchen frei war, und wenn man bloß mal zu fest auftrat, fiel eins runter und ging kaputt, und sie bekam einen Anfall.«

»Hör auf«, sagte Abby und trat ihm leicht gegen den Knöchel – keine Vergangenheit –, aber sie klang nicht ernsthaft verärgert. Irgendwie, vielleicht durch die seltsame Alchemie, die unter Freunden herrscht, schien die ganze Spannung der letzten Tage verflogen. Wir waren wieder glücklich miteinander, unsere Schultern berührten sich, Justin zog Abbys Pullover runter, der ihr hinten hochgerutscht war. »Aber früher oder später könnten wir in dem Chaos hier tatsächlich mal auf was Wertvolles stoßen.«

»Was würdet ihr mit dem Geld machen?«, fragte Rafe und nahm sich einen Keks. »Sagen wir, ein paar tausend.« In dem Moment hörte ich Sams Stimme nah an meinem Ohr: Das Haus ist voll mit altem Zeug, wenn da irgendwas Wertvolles dabei wäre …

»Einen AGA-Herd kaufen«, sagte Abby sofort. »Das ist ein anständiger Ofen zum Heizen und ein Herd, der nicht gleich vor Rost zerbröselt, wenn du ihn nur mal scharf anguckst. Zwei Fliegen mit einer Klappe.«

»Welch wilde Phantasien«, sagte Justin. »Wie wär’s mit Designerkleidern und Wochenendtrips nach Monte Carlo?«

»Ich bin schon zufrieden, wenn ich mir nicht mehr die Zehen abfrier.«

Vielleicht sollte sie ihm irgendwas geben, hatte ich gesagt, und das ist dann schiefgelaufen: Sie hat es sich anders überlegt … Ich merkte, dass ich die Spieldose wieder an mich genommen hatte und so festhielt, als versuchte jemand, sie mir wegzunehmen.

»Ich glaube, ich würde das Dach neu decken lassen, ehe es einstürzt«, sagte Daniel. »Es hält bestimmt auch so noch ein paar Jährchen, aber es wäre doch schön, es nicht drauf ankommen lassen zu müssen.«

»Du?«, fragte Rafe, der schmunzelnd zu ihm rüberschielte, während er meine Hand lockerte und die Spieldose wieder aufzog. »Ich hätte gedacht, du würdest nie was aus dem Haus verkaufen, egal was. Du würdest es lieber einrahmen und an die Wand hängen. Familienhistorie statt schnöder Mammon.«

Daniel schüttelte den Kopf und streckte mir die Hand hin, damit ich ihm seine Kaffeetasse gab – ich hatte meinen Keks reingetunkt. »Was zählt, ist das Haus«, sagte er, trank einen Schluck und reichte mir die Tasse zurück. »All die anderen Sachen sind eigentlich bloß Zugabe. Ich mag sie, aber ich würde sie, ohne mit der Wimper zu zucken, verkaufen, wenn wir das Geld für das Dach oder andere Instandsetzungen bräuchten. Das Haus an sich hat schon genug Geschichte, und außerdem schreiben wir ja unsere eigene, jeden Tag.«

»Was würdest du damit machen, Lexie?«, fragte Abby.

Das war natürlich die Eine-Million-Frage, die mir wie ein kleiner gemeiner Hammer im Kopf dröhnte. Sam und Frank waren der Idee mit dem gescheiterten Antiquitätenverkauf nicht weiter nachgegangen, weil im Grunde nichts darauf hindeutete. Für die Erbschaftssteuer waren alle Sachen von Wert draufgegangen, Lexie hatte keine Kontakte zu Antiquitätenhändlern oder Hehlern gehabt, und es hatte keinerlei Anhaltspunkte dafür gegeben, dass sie Geld brauchte. Bis jetzt.

Es ist erstaunlich, wie preiswert man sein Leben ablegen und ein neues beginnen kann, wenn man keine hohen Ansprüche hat und bereit ist, jede Arbeit zu machen, die sich anbietet. Nach dem Knocknaree-Fall hatte ich viel schlaflose Zeit im Internet verbracht, mir die Preise für Unterkünfte und Stellenanzeigen in verschiedenen Sprachen angesehen und Berechnungen angestellt. Es gibt viele Städte, in denen man eine schäbige Wohnung für umgerechnet dreihundert Euro im Monat findet oder ein Bett für einen Zehner pro Nacht. Rechnet man den Flug hinzu und genug Bargeld, um sich ein paar Wochen über Wasser zu halten, während man sich einen Job in einer Kneipe oder einem Fastfoodrestaurant oder beim Touribüro sucht, und ein nagelneues Leben ist schon zum Preis eines Gebrauchtwagens zu haben. Ich hatte zweitausend gespart – mehr als genug.

Und Lexie wusste das alles besser als ich. Sie hatte es schon gemacht. Sie hätte keinen verschollenen Rembrandt hinten in ihrem Schrank finden müssen. Sie hätte lediglich irgendetwas gebraucht, was sich einigermaßen lukrativ verscherbeln ließ – ein schönes Schmuckstück, ein seltenes Porzellanteil, ich hab gehört, auch Teddybären können mehrere hundert bringen –, sowie den passenden Käufer. Und natürlich die Bereitschaft, Kleinigkeiten aus diesem Haus hinter dem Rücken der anderen zu verhökern.

Sie war in Chads Auto abgehauen, aber ich hätte bedenkenlos auf alles geschworen, dass das etwas anderes gewesen war. Hier hatte sie ein Zuhause gehabt.

»Ich würde uns allen neue Betten kaufen«, sagte ich. »In meinem spür ich die Sprungfedern schon durch die Matratze, wie die Prinzessin auf der Erbse, und ich höre jedes Mal, wenn Justin sich umdreht.« Damit klappte ich die Spieldose wieder auf, um das Gespräch zu beenden.

Abby sang leise mit, während sie die Tonpfeife in den Händen drehte. »Greensleeves is all my joy, Greensleeves is my delight … « Rafe hantierte mit dem Uhrwerk und fing an, den Antrieb zu untersuchen. Justin schnippte eine von den Murmeln gekonnt gegen eine andere, die über den Boden kullerte und gegen Daniels Tasse klickte. Er blickte von einem Bleisoldaten auf, lächelnd, das Haar tief in der Stirn. Ich betrachtete die anderen und strich mit den Fingern über die alte Seide und hoffte inbrünstig, dass ich die Wahrheit gesagt hatte.