10

Wenn du einen Riss findest, drückst du darauf und stellst fest, ob er nachgibt. Ich hatte ungefähr anderthalb Stunden gebraucht, um mir zu überlegen, dass Justin mein bester Ansatzpunkt war, falls es etwas gab, was die vier mir nicht erzählten. Jeder Detective mit ein paar Jahren Berufserfahrung kann dir sagen, wer zuerst die Nerven verlieren wird. Ich hab mal erlebt, dass Costello, der seit den achtziger Jahren zum Morddezernat gehört wie das Mobiliar, bei einer Gruppe von Verdächtigen auf Anhieb den schwächsten herauspickte, nachdem er bloß bei ihrer erkennungsdienstlichen Behandlung zugesehen hatte. Das ist unsere Version von Erkennen Sie die Melodie.

Bei Daniel und Abby wäre es zwecklos: Sie waren beide zu beherrscht und zu konzentriert, fast unmöglich abzulenken oder auf dem falschen Fuß zu erwischen – ich hatte ein paarmal versucht, Abby zu entlocken, wen sie für den Kindsvater hielt, aber nur einen kühlen, ausdruckslosen Blick geerntet. Rafe war leichter zu beeinflussen, und ich wusste, dass ich notfalls etwas aus ihm herausholen könnte, aber es würde schwierig werden. Er war zu aufbrausend und widersprüchlich, möglich, dass er mir erzählen würde, was ich wissen wollte, aber er könnte auch ebenso gut wutentbrannt davonstürzen. Justin, der sanfte, phantasievolle, schnell beunruhigte Justin, der immer wollte, dass alle glücklich sind, war schon fast der Traumkandidat eines Vernehmers.

Nur dass ich nie allein mit ihm war. In der ersten Woche hatte ich das nicht registriert, aber jetzt, wo ich nach einer Gelegenheit suchte, fiel es mir rückblickend auf. Daniel und ich fuhren mehrmals pro Woche zusammen zur Uni, und ich war oft mit Abby zusammen – beim Frühstückmachen, nach dem Abendessen, wenn die Jungs abwuschen, manchmal klopfte sie noch spätabends an meine Tür, setzte sich mit einer Packung Kekse zu mir aufs Bett, und wir unterhielten uns, bis wir müde wurden. Aber wenn ich mal länger als fünf Minuten mit Rafe oder Justin allein war, kam unweigerlich einer von den anderen dazu oder rief uns, und sogleich wurden wir wieder mühelos, unmerklich von der Gruppe umfangen. Vielleicht war das ganz normal. Die fünf verbrachten nun mal furchtbar viel Zeit zusammen, und Gruppen unterteilen sich meist in feine Untergruppen, Zweierkonstellationen, die nie zu eng werden, weil sie nur als Teil des Ganzen harmonieren. Aber ich fragte mich doch, ob jemand, vermutlich Daniel, die vier mit dem taxierenden Blick eines Vernehmers eingeschätzt hatte und zu derselben Schlussfolgerung gelangt war wie ich.

Am Montagmorgen dann bekam ich meine Chance. Wir waren an der Uni. Daniel unterrichtete seinen Tutorenkurs, und Abby hatte einen Termin bei ihrem Doktorvater, daher waren Rafe, Justin und ich allein in unserer Ecke der Bibliothek. Als Rafe aufstand und irgendwo hinging, vermutlich zum Klo, zählte ich bis zwanzig und schob dann den Kopf über die Trennwand an Justins Arbeitsplatz.

»Hallo, du«, sagte er und blickte von einer säuberlich beschriebenen Seite auf. Auf jedem Quadratzentimeter seines Schreibtischs häuften sich Bücher und lose Blätter und Fotokopien mit markierten Passagen. Justin konnte nur arbeiten, wenn er alles in bequemer Reichweite hatte, was er möglicherweise brauchen würde.

»Mir ist langweilig, und die Sonne scheint«, sagte ich. »Lass uns Mittagspause machen.«

Er sah auf die Uhr. »Ist doch erst zwanzig vor eins.«

»Lebe wild und gefährlich«, sagte ich.

Justin blickte unsicher. »Und Rafe?«

»Der ist groß und hässlich genug, um auf sich selbst aufzupassen. Er kann ja auf Abby und Daniel warten.« Für eine Entscheidung dieser Größenordnung sah Justin noch viel zu verunsichert aus, und ich schätzte, dass mir noch etwa eine Minute blieb, um ihn von hier wegzulocken, ehe Rafe zurückkam. »Och, Justin, nun komm schon. Sonst mach ich die ganze Zeit das hier.« Ich fing an, mit den Fingernägeln einen nervigen Rhythmus auf die Trennwand zu trommeln.

»Oh Gott«, sagte Justin und legte seinen Stift hin. »Die chinesische Geräuschfolter. Ich ergebe mich.«

Der nächstliegende Ort für ein Pausenpicknick war am Rand vom New Square, aber das war von der Bibliothek aus einsehbar, also schleifte ich Justin rüber zum Kricketfeld, wo Rafe uns nicht so schnell finden würde. Es war ein heller, kalter Tag, der Himmel hoch und blau und die Luft wie Eiswasser. Weiter unten vor dem Pavillon stellten einige Kricketspieler ernsthafte, streng stilisierte Sachen miteinander an, und in unserer Nähe spielten vier Jungs Frisbee, wobei sie geflissentlich den Eindruck zu erwecken versuchten, als wollten sie damit nicht den drei handelsüblich zurechtgemachten Mädchen auf einer Bank imponieren, die sich ihrerseits bemühten, so zu tun, als sähen sie nicht hin. Balzverhalten: Es war Frühling.

»Und?«, sagte Justin, nachdem wir uns im Gras niedergelassen hatten. »Wie kommst du mit dem Kapitel voran?«

»Gar nicht«, sagte ich und kramte in meiner Büchertasche nach einem Sandwich. »Ich hab noch kein einziges Wort geschrieben, seit ich zurück bin. Ich kann mich nicht konzentrieren.«

»Na ja«, sagte Justin nach einem Moment. »Das ist bestimmt ganz normal. In der ersten Zeit.«

Ich zuckte die Achseln, ohne ihn anzusehen.

»Das gibt sich wieder. Ganz bestimmt. Jetzt, wo du zu Hause bist und alles wieder normal läuft.«

»Ja. Kann sein.« Ich fand mein Sandwich, betrachtete es angewidert und warf es ins Gras: Nur wenige Dinge bekümmerten Justin so sehr, wie wenn Leute nicht aßen. »Es ist einfach ätzend, dass ich nicht weiß, was passiert ist. Es ist total ätzend. Es geht mir nicht aus dem Kopf … die Bullen haben so Andeutungen gemacht, sie hätten Spuren und so, aber sie haben mir nichts verraten. Verdammt nochmal, ich bin schließlich niedergestochen worden. Wenn einer das Recht hat, was zu erfahren, dann doch wohl ich.«

»Aber ich hab gedacht, du fühlst dich besser. Du hast gesagt, es geht dir gut.«

»Ja, hab ich. Ach, egal.«

»Wir haben gedacht … Ich meine, ich hätte nicht gedacht, dass du so verstört bist. Dass du ständig dran denkst. Das sieht dir gar nicht ähnlich.«

Ich schielte zu ihm rüber, aber er sah nicht misstrauisch aus, nur besorgt. »Tja«, sagte ich. »Ich bin vorher ja auch noch nie niedergestochen worden.«

»Nein«, sagte Justin. »Wohl wahr.« Er baute seinen Lunch im Gras auf: eine Flasche Orangensaft auf der einen Seite, eine Banane auf der anderen, ein Sandwich in der Mitte. Er kaute auf der Lippe.

»Weißt du, woran ich immer denken muss?«, sagte ich unvermittelt. »An meine Eltern.« Schon allein es auszusprechen löste ein kurzes, unvermutetes, kleines Prickeln aus.

Justins Kopf fuhr hoch, und er starrte mich an. »Was ist denn mit ihnen?«

»Vielleicht sollte ich mich bei ihnen melden. Ihnen erzählen, was passiert ist.«

»Keine Vergangenheit«, sagte Justin augenblicklich, wie eine Formel zum Schutz gegen Unglück. »Das haben wir abgemacht.«

Ich zuckte die Achseln. »Na und? Ihr habt gut reden.«

»So leicht ist das nun auch nicht.« Als ich nicht antwortete: »Lexie? Ist das dein Ernst?«

Ich zuckte gereizt mit den Schultern. »Ich weiß es nicht.«

»Aber ich dachte, du kannst sie nicht ausstehen. Du hast gesagt, du wolltest nie wieder ein Wort mit ihnen reden.«

»Darum geht’s nicht.« Ich wickelte mir den Riemen meiner Büchertasche um den Finger und zog ihn zu einer langen Spirale auseinander. »Mir geht bloß dauernd durch den Kopf … Ich hätte hier sterben können. Könnte jetzt tot sein. Und meine Eltern hätten es nicht mal erfahren.«

»Wenn mir was passiert«, sagte Justin, »will ich nicht, dass meine Eltern verständigt werden. Ich will sie nicht dahaben. Ich will nicht, dass sie es erfahren.«

»Warum nicht?« Er fummelte am Verschluss seiner Saftflasche herum, den Kopf gesenkt. »Justin?«

»Ach, egal. Ich wollte jetzt nicht von mir anfangen.«

»Nein. Erzähl’s mir, Justin. Warum nicht?«

Nach einem Moment sagte Justin: »In unserem ersten Jahr als Doktoranden bin ich über Weihnachten nach Hause gefahren, nach Belfast. Das war kurz nachdem wir uns kennengelernt hatten. Weißt du noch?«

»Ja«, sagte ich. Er sah mich nicht an. Er starrte blinzelnd zu den Kricketspielern hinüber, die sich weiß und feierlich wie Gespenster gegen das Grün abhoben. Das Knallen des Schlägers trieb verspätet und fast verträumt zu uns herüber.

»Ich hab meinem Vater und meiner Stiefmutter gesagt, dass ich schwul bin. An Heiligabend.« Ein kleines, humorlos schnaubendes Lachen. »Gott steh mir bei, ich glaube, ich hab gedacht, die Weihnachtsstimmung – Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen … Und ihr vier hattet es so völlig locker aufgenommen. Weißt du, wie Daniel reagiert hat, als ich es ihm erzählte? Er hat ein paar Minuten überlegt und dann erklärt, homo und hetero seien Konstruktionen der Moderne und die Haltung zur Sexualität sei bis in die Renaissance hinein sehr viel fließender gewesen. Und Abby hat die Augen verdreht und mich gefragt, ob sie jetzt überrascht tun soll. Bei Rafe war ich am unsichersten – wieso, weiß ich auch nicht –, aber er hat bloß gegrinst und gesagt: ›Weniger Konkurrenz für mich.‹ Was wirklich nett von ihm war. Schließlich war ich nie eine echte Konkurrenz für ihn … Das war für mich alles eine große Erleichterung, verstehst du? Und wahrscheinlich hat mich das auf die Idee gebracht, dass es vielleicht doch nicht so schlimm wäre, es meiner Familie zu sagen.«

»Mir war nicht klar, dass du es ihnen gesagt hast«, warf ich ein. »Hast du nie erzählt.«

»Na ja«, sagte Justin. Er zupfte behutsam die Frischhaltefolie von seinem Sandwich, um keinen Senf auf die Finger zu bekommen. »Meine Stiefmutter ist eine furchtbare Frau, weißt du. Wirklich furchtbar. Ihr Vater ist Zimmermann, aber sie erzählt allen, er wäre Kunsthandwerker, was auch immer sie sich darunter vorstellen mag, und sie lädt ihn nie zu irgendwelchen Festen ein. Alles an ihr ist durch und durch Mittelschicht – wie sie spricht, die Klamotten, die Frisur, das Porzellandekor, als hätte sie sich selbst im Katalog bestellt –, aber man merkt ihr förmlich an, was sie das alles für eine Riesenanstrengung kostet. Ihren Boss zu heiraten muss für sie so ähnlich gewesen sein, wie den Heiligen Gral zu finden. Ich will nicht behaupten, dass mein Vater mein Schwulsein akzeptiert hätte, wenn sie nicht gewesen wäre – er sah aus, als würde ihm gleich schlecht –, aber sie hat alles noch viel, viel schlimmer gemacht. Sie war regelrecht hysterisch. Sie hat zu meinem Vater gesagt, sie will mich aus dem Haus haben, auf der Stelle. Und zwar für immer.«

»Mein Gott, Justin.«

»Sie guckt dauernd diese Trashserien im Fernsehen«, sagte Justin. »Da werden alle naslang irgendwelche sündigen Söhne davongejagt. Sie hat rumgekreischt, richtig rumgekreischt: ›Denk doch an die Jungs!‹ – sie meinte meine Halbbrüder. Ich weiß nicht, ob sie Angst hatte, ich würde sie ans andere Ufer locken oder mich an ihnen vergehen oder was, aber ich hab gesagt – und das war ziemlich gemein, aber du kannst dir vorstellen, wie aufgebracht ich war –, ich hab gesagt, sie bräuchte sich keine Sorgen zu machen, weil nämlich kein Schwuler, der was auf sich hält, diese hässlichen kleinen Monster auch nur mit der Kneifzange anfassen würde. Und dann ist die Situation eskaliert. Sie hat mit Sachen geschmissen, ich hab rumgeschimpft, die Monster haben sogar ihre PlayStation mal für einen Moment verlassen, um nachzusehen, was los war. Sie wollte sie aus dem Zimmer zerren – wahrscheinlich, damit ich nicht gleich an Ort und Stelle über sie herfiel –, und prompt fingen sie auch noch an zu kreischen … Schließlich hat mein Vater gesagt, es wäre besser, ich würde gehen und ›vorläufig‹ nicht wiederkommen, aber wir wussten beide, was er meinte. Er hat mich zum Bahnhof gefahren und mir hundert Euro in die Hand gedrückt. Zu Weihnachten.« Er zog die Frischhaltefolie glatt und legte sie aufs Gras, das Sandwich genau in die Mitte.

»Was hast du dann gemacht?«, fragte ich leise.

»Über Weihnachten? Bin überwiegend in meiner Wohnung geblieben. Hab mir eine richtig teure Flasche Whiskey gekauft. Mich in Selbstmitleid gesuhlt.« Er lächelte mich matt an. »Ich weiß: Ich hätte euch sagen sollen, dass ich wieder zurück war. Aber … tja, Stolz, denke ich. Es war eine der demütigendsten Erfahrungen meines Lebens. Ich weiß, keiner von euch hätte Fragen gestellt, aber ihr hättet euch doch gewundert, und ihr seid nun mal alle cleverer, als die Polizei erlaubt. Einer von euch wäre draufgekommen.«

So wie er dasaß – die Knie angezogen, die Füße akkurat nebeneinander –, waren seine Hosenbeine hochgerutscht. Er trug graue Socken, die vom vielen Waschen dünn geworden waren, und seine Knöchel waren zart und mager wie die eines kleinen Jungen. Ich streckte den Arm aus und legte meine Hand auf einen Knöchel. Er war warm und fest, und meine Finger hätten mühelos fast ganz drum herumgreifen können.

»Nein, ist schon gut«, sagte Justin, und als ich aufblickte, sah ich, dass er mich anlächelte, diesmal richtig. »Ganz ehrlich, ist es wirklich. Zuerst hat es mich ziemlich fertiggemacht. Ich hab mich verwaist gefühlt, heimatlos – ich schwöre, wenn du mitbekommen hättest, was ich mir für einen melodramatischen Quatsch zurechtgedacht habe … Aber jetzt denke ich nicht mehr dran, seit dem Haus nicht mehr. Ich weiß nicht mal, warum ich davon angefangen hab.«

»Meine Schuld«, sagte ich. »Tut mir leid.«

»Muss es nicht.« Er strich leicht mit der Fingerspitze über meine Hand. »Wenn du wirklich Kontakt zu deinen Eltern aufnehmen willst, dann … tja, das geht mich nichts an, oder? Ich meine bloß, vergiss nicht: Wir haben alle unsere Gründe, warum wir beschlossen haben, keine Vergangenheit. Das gilt nicht nur für mich. Rafe … tja, du hast ja seinen Vater gehört.«

Ich nickte. »Was für ein Kotzbrocken.«

»Solange ich Rafe kenne, kriegt er immer wieder genau den gleichen Anruf: Du bist jämmerlich, du bist ein Versager, ich schäme mich, dich meinen Freunden gegenüber zu erwähnen. Ich bin ziemlich sicher, dass seine ganze Kindheit so war. Sein Vater hat ihn vom Tag seiner Geburt an abgelehnt – so was kommt vor, weißt du. Er wollte einen richtigen Macho von Sohn, einen, der Rugby spielt und seine Sekretärin angrapscht und sich draußen vor Striplokalen die Seele aus dem Leib kotzt, und stattdessen hat er Rafe gekriegt. Er hat ihm das Leben zur Hölle gemacht. Du hast Rafe nicht erlebt, als wir hier an der Uni anfingen: dieser dürre, bissige Kerl, so aggressiv, dass er dir schon bei der kleinsten Frotzelei an den Kragen wollte. Am Anfang wusste ich nicht mal so genau, ob ich ihn überhaupt leiden konnte. Ich hab mich bloß mit ihm abgefunden, weil ich Abby und Daniel mochte und die beiden ihn offenbar in Ordnung fanden.«

»Er ist immer noch dürr«, sagte ich. »Und bissig ist er auch. Er kann ein kleines Arschloch sein, wenn er will.«

Justin schüttelte den Kopf. »Er hat sich schon tausendfach gebessert. Und allein deshalb, weil er sich keine Gedanken mehr über seine grässlichen Eltern machen muss. Und Daniel … Hast du je mitbekommen, dass er auch nur ein einziges Wort über seine Kindheit verloren hat?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Ich auch nicht. Ich weiß, dass seine Eltern gestorben sind, aber ich weiß nicht, wann oder wie oder was danach mit ihm passiert ist – wo er gelebt hat, mit wem, nichts. Abby und ich waren mal einen Abend heillos betrunken und haben angefangen, rumzualbern und uns Kindheiten für Daniel auszudenken: Er wurde als Kind ausgesetzt und von Hamstern großgezogen, er wuchs in einem Bordell in Istanbul auf, seine Eltern waren Schläfer der CIA, die vom KGB ausgeschaltet wurden, und er hat überlebt, weil er sich in der Waschmaschine versteckt hat … Wir fanden das lustig, aber Tatsache ist, seine Kindheit kann nicht besonders angenehm gewesen sein, wenn er so ein Geheimnis draus macht, oder? Du bist ja schon extrem … « Justin warf mir einen raschen Blick zu. »Aber ich weiß immerhin, dass du Windpocken hattest und reiten kannst. Von Daniel weiß ich nichts. Gar nichts.«

Ich hoffte inständig, dass sich ja keine Situation ergeben würde, in der ich meine reiterlichen Fähigkeiten unter Beweis stellen musste. »Und dann Abby«, fuhr Justin fort. »Hat Abby dir je was über ihre Mutter erzählt?«

»Dies und das«, sagte ich. »Ich kann mir einigermaßen ein Bild machen.«

»Es ist schlimmer, als sie es darstellt. Ich hab die Frau nämlich mal kennengelernt – da warst du noch nicht hier, damals im dritten Jahr. Eines Abends waren wir alle bei Abby zu Hause, und plötzlich tauchte ihre Mutter auf, hämmerte regelrecht gegen die Tür. Sie war … Gott. Wie sie angezogen war – ich weiß nicht, ob sie wirklich eine Prostituierte war oder bloß … egal. Und sie war offensichtlich total neben der Spur. Sie hat Abby die ganze Zeit angebrüllt, aber ich hab kaum ein Wort verstanden. Abby hat ihr irgendwas in die Hand gedrückt – bestimmt Geld, und du weißt ja, wie pleite Abby immer war –, und dann hat sie sie förmlich rausgeschmissen. Sie war weiß wie ein Gespenst, Abby, mein ich. Ich dachte, sie würde jede Sekunde umkippen.« Justin sah mich ängstlich an und schob seine Brille höher auf die Nase. »Sag ihr nicht, dass ich dir das erzählt hab.«

»Versprochen.«

»Sie hat die Sache danach nie wieder erwähnt, und ich glaub nicht, dass sie inzwischen drüber reden will. Ist jedenfalls mein Eindruck. Du hast mit Sicherheit auch deine Gründe, warum du die Keine-Vergangenheit-Absprache für eine gute Idee gehalten hast. Vielleicht siehst du das ja mittlerweile anders, nach dem, was dir passiert ist, keine Ahnung, aber … vergiss nicht, du bist im Augenblick noch geschwächt. Lass dir noch ein bisschen Zeit, ehe du irgendwas Unwiderrufliches tust. Und falls du dann beschließt, dich bei deinen Eltern zu melden, wäre es vielleicht besser, den anderen nichts davon zu erzählen. Das würde … Na ja. Das würde ihnen weh tun.«

Ich sah ihn verwundert an. »Im Ernst?«

»Ja klar. Wir sind … « Er fummelte noch immer an der Klarsichtfolie rum. Ein schwacher rosa Hauch stieg in seine Wangen. »Wir lieben dich, weißt du. Was uns betrifft, wir sind jetzt deine Familie. Sind für einander die einzige Familie, die wir haben – ich meine, das stimmt natürlich nicht ganz, aber du weißt, was ich meine … «

Ich beugte mich vor und küsste ihn rasch auf die Wange. »Klar weiß ich das«, sagte ich. »Ich weiß genau, was du meinst.«

Justins Handy piepste. »Das ist bestimmt Rafe«, sagte er und fischte es aus der Tasche. »Ja. Er will wissen, wo wir sind.«

Er fing an, Rafe eine Antwort zu simsen, wobei er kurzsichtig auf die Handytasten spähte, und hob den Arm, um mit der freien Hand meine Schulter zu drücken. »Denk einfach noch mal drüber nach«, sagte er. »Und iss dein Sandwich.«



»Wie ich sehe, spielst du Wer-ist-der-Daddy«, sagte Frank am selben Abend. Er aß irgendwas – vielleicht einen Hamburger, ich hörte Papier rascheln. »Und Justin ist ja wohl eindeutig aus dem Rennen. Es werden noch Wetten angenommen: Danny-Boy oder Pretty-Boy?«

»Oder keiner von beiden«, sagte ich. Ich war unterwegs zu meinem Lauerposten. In letzter Zeit rief ich Frank immer schon an, sobald ich durch das hintere Tor war, anstatt auch nur ein paar Minuten abzuwarten, weil ich darauf brannte zu hören, ob er irgendetwas Neues über Lexie erfahren hatte. »Vergiss nicht, unser Mörder hat sie gekannt, und wir wissen nicht, wie gut. Und außerdem war das nicht die Frage, um die es mir ging. Ich wollte dieser Keine-Vergangenheit-Sache auf den Grund gehen, um rauszufinden, was die vier verschweigen.«

»Und herausgekommen ist dabei nur eine Sammlung von tränenrührigen Geschichten. Zugegeben, dieses Getue von wegen keine Vergangenheit ist ziemlich bescheuert, aber wir wussten ja sowieso schon, dass sie ein Haufen Spinner sind. Keine neue Erkenntnis.«

»Mmm«, sagte ich. Ich war weniger überzeugt, dass der Nachmittag nichts erbracht hatte, obwohl ich noch nicht wusste, wie ich ihn einordnen sollte. »Ich werde weiter herumbohren.«

»Der ganz Tag war schon so frustig«, sagte Frank mit vollem Mund. »Ich hab Lexies Spur zurückverfolgt, ohne Ergebnis. Wahrscheinlich ist dir auch schon aufgefallen, dass es in ihrer Geschichte eine Lücke von anderthalb Jahren gibt. Sie legt die May-Ruth-Identität Ende 2000 ab, taucht aber Anfang 2002 als Lexie wieder auf. Ich will rausfinden, wo und wer sie in der Zwischenzeit war. Dass sie nach Hause zurückgekehrt ist, wo auch immer das sein mag, kann ich mir zwar nicht vorstellen, ist aber immerhin möglich. Und selbst wenn nicht, hat sie uns vielleicht trotzdem unterwegs den ein oder anderen Hinweis hinterlassen.«

»Ich würde mich auf europäische Länder konzentrieren«, sagte ich. »Nach dem 11. September sind die Sicherheitsmaßnahmen an Flughäfen wesentlich verschärft worden, da wäre sie mit einem falschen Pass nicht mehr aus den USA raus- und nach Irland reingekommen. Sie muss also vorher schon auf dieser Seite des Atlantiks gewesen sein.«

»Klar, aber ich weiß nicht, nach welchem Namen ich suchen soll. Es gibt keinen Beleg, dass May-Ruth Thibodeaux je einen Pass beantragt hat. Ich vermute, sie hat ihre eigene Identität wieder angenommen oder sich in New York eine neue gekauft, ist damit von JFK abgeflogen, hat dann die Identität erneut gewechselt, sobald sie dort angekommen war, wo sie hinwollte –«

JFK – Frank redete weiter, aber ich war wie angewurzelt mitten auf dem Weg stehen geblieben, hatte einfach vergessen weiterzugehen, weil diese rätselhafte Seite in Lexies Terminkalender mit einem blitzartigen Schlag in meinem Kopf aufstrahlte wie eine Silvesterrakete. CDG 59 … Ich war zigmal am Flughafen Charles de Gaulle gelandet, um den Sommer bei meinen französischen Cousins zu verbringen, und 59 Euro wäre so ungefähr der Preis für ein Hinflugticket. AMS: nicht Abigail Marie Stone, sondern Amsterdam. LHR: London Heathrow. Die anderen hatte ich nicht mehr im Kopf, aber ich wusste so sicher wie das Amen in der Kirche, dass es sich auch bei ihnen um Flughafenabkürzungen handelte. Lexie hatte Flugpreise notiert.

Wenn sie bloß hätte abtreiben wollen, wäre sie nach England geflogen und hätte sich nicht um Amsterdam oder Paris gekümmert. Und es waren alles die Preise für Hinflugtickets, ohne Rückflug. Sie hatte Vorbereitungen getroffen, erneut zu verschwinden, wieder eine Reise ins Ungewisse zu wagen.

Warum?

In ihren letzten paar Wochen hatten sich drei Dinge verändert: Sie hatte herausgefunden, dass sie schwanger war, N war aufgetaucht, und sie hatte angefangen, ihren Absprung zu planen. Ich glaube nicht an Zufälle. Es war unmöglich zu sagen, in welcher Reihenfolge diese drei Dinge geschehen waren, aber ich war sicher, dass eines davon auf welch verschlungenen Wegen auch immer zu den beiden anderen geführt hatte. Irgendwo war da ein Muster: quälend nah, tauchte kurz auf und war gleich wieder weg, wie eins von diesen Bildern, für die man schielen muss, um sie erkennen zu können, plötzlich da, aber zu rasch wieder verschwunden, um es fassen zu können.

Bis zu diesem Abend hatte ich nicht viel von Franks geheimnisvollem Stalker gehalten. Nur ganz wenige Menschen sind bereit, ihr ganzes Leben aufzugeben, um eine Frau über Jahre rund um den Globus zu verfolgen, weil sie sauer auf sie sind. Frank neigt dazu, einer wahrscheinlichen Theorie weniger abzugewinnen als einer interessanten, und in diesem Fall hatte ich Letztere irgendwo zwischen Außenseiterchance und reinem Hollywoodmelodram eingestuft. Aber nun war mindestens schon zum dritten Mal irgendetwas seitlich in ihr Leben gekracht, hatte einen Totalschaden verursacht, irreparabel. Es gab mir einen Stich ins Herz.

»Hallo? Bodenkontrolle an Cassie?«

»Ja«, sagte ich. »Frank, kannst du was für mich tun? Ich möchte wissen, ob in ihrem May-Ruth-Leben während des letzten Monats vor ihrem Verschwinden irgendetwas Außergewöhnliches passiert ist – lieber noch während der letzten zwei Monate, nur um sicherzugehen.«

Auf der Flucht vor N? Auf der Flucht mit N, um irgendwo ein ganz neues Leben anzufangen, er und sie und ihr gemeinsames Baby?

»Du unterschätzt mich, Kleines. Schon geschehen. Keine ungewöhnlichen Besucher oder Anrufe, kein Streit mit niemandem, kein unerklärliches Verhalten, nichts.«

»So was hab ich nicht gemeint. Ich will alles wissen, wirklich alles: Ob sie den Job gewechselt hat oder den Freund, ob sie umgezogen ist, krank war, irgendeinen Kurs belegt hat. Nichts Bedrohliches, bloß alltäglicher Kram.«

Frank überlegte eine Weile, mampfte dabei seinen Burger oder was immer. »Warum?«, fragte er schließlich. »Wenn ich meinen FBI-Freund um noch einen Gefallen bitte, muss ich ihm einen Grund liefern.«

»Denk dir was aus. Ich hab keinen besonderen Grund. Intuition, weißt du, was das ist?«

»Okay«, sagte Frank. Er klang besorgniserregend so, als würde er sich zwischen den Zähnen herumpulen. »Ich mach’s. Wenn du im Gegenzug auch was für mich tust.«

Ich hatte mich wieder in Bewegung gesetzt, automatisch, Richtung Cottage. »Schieß los.«

»Werd nicht zu locker. Du hörst dich für meinen Geschmack schon viel zu sehr danach an, als würdest du dich bei denen sauwohl fühlen.«

Ich seufzte. »Ich Frau, Frank. Frauen Multitasker, will heißen, wir können mehrere Dinge gleichzeitig. Ich kann meine Arbeit machen und dabei Spaß haben.«

»Schön für dich. Ich weiß nur eins, Undercoverarbeit plus Entspannung gleich Riesenproblem. Irgendwo da draußen ist ein Mörder, wahrscheinlich keine Meile von deiner jetzigen Position entfernt. Du sollst ihn aufspüren und nicht mit den Fantastischen Vier glückliche Familie spielen.«

Glückliche Familie. Ich war davon ausgegangen, dass sie ihr Notizbuch versteckt hatte, damit keiner von ihren Verabredungen mit diesem ominösen N erfuhr. Aber jetzt: Sie hatte ein ganz anderes Geheimnis zu schützen. Wenn die anderen herausgefunden hätten, dass Lexie kurz davor war, sich aus ihrer eng verflochtenen Welt herauszuschneiden, sie abzustreifen, wie eine Libelle aus ihrer Larve schlüpft und bloß die vollkommene Form ihrer Abwesenheit zurücklässt, wären sie am Boden zerstört gewesen. Auf einmal war ich fast trunken vor Erleichterung, dass ich Frank nichts von dem Terminkalender erzählt hatte.

»Ich bin ganz bei der Sache, Frank«, sagte ich.

»Gut. Bleib das auch.« Papier wurde zusammengeknüllt – er hatte seinen Hamburger auf –, dann ein Klicken, als er auflegte.

Ich war fast an meinem Beobachtungsposten. Abschnitte von Hecke und Gras und Erde erwachten im blassen Kreis des Taschenlampenstrahls zum Leben und waren im nächsten Moment verschwunden. Ich dachte an sie, wie sie wild denselben Weg entlanggelaufen war, wie derselbe schwache Lichtkreis heftig auf und ab wippte, die solide Tür zur Geborgenheit für immer in der Dunkelheit hinter ihr verloren und nichts vor ihr außer diesem kalten Cottage. Diese Farbstriche an der Wand in ihrem Zimmer: Sie hatte hier eine Zukunft geplant, in diesem Haus, mit diesen Menschen, genau bis zu dem Moment, als die Bombe platzte. Wir sind jetzt deine Familie, hatte Justin gesagt, sind füreinander die einzige Familie, die wir haben, und ich war lange genug in Whitethorn House gewesen, um eine Ahnung davon zu bekommen, wie ehrlich er das meinte und wie viel das bedeutete. Was zum Teufel, dachte ich, was zum Teufel konnte stark genug gewesen sein, das alles einfach hinwegzufegen?



Jetzt, wo ich darauf achtete, zeigten sich immer mehr Risse. Ich hätte nicht sagen können, ob sie schon die ganze Zeit da gewesen waren oder ob sie sich vor meinen Augen auftaten. In derselben Nacht las ich noch im Bett, als ich draußen unter meinem Fenster Stimmen hörte.

Rafe war schon vor mir ins Bett gegangen, und ich konnte hören, dass Justin sich unten fertig machte, um schlafen zu gehen – Summen, Rumhantieren, dann und wann ein unerklärliches Rumpeln. Blieben also noch Daniel und Abby. Ich ging am Fenster auf die Knie, hielt den Atem an und lauschte, aber sie waren drei Stockwerke tiefer, und über Justins gutgelaunten Oberton hinweg konnte ich nur leises, rasches Gemurmel hören.

»Nein«, sagte Abby, lauter und frustriert. »Daniel, darum geht es doch gar nicht … « Ihre Stimme wurde wieder unhörbar. »Moooon river«, sang Justin vor sich hin und baute noch einen fröhlichen Schlenker mit ein.

Ich tat, was neugierige Kinder seit Anbeginn der Zeit tun: Ich beschloss, mir ganz leise einen Schluck Wasser zu holen. Justin hörte nicht auf zu summen, als ich an seiner Tür vorbeischlich. Im Erdgeschoss war kein Licht mehr unter Rafes Tür. Ich tastete mich an den Wänden entlang und schlüpfte in die Küche. Die Terrassentür stand offen, nur eine Handbreit. Ich ging zur Spüle – langsam, nicht mal mein Schlafanzug raschelte – und hielt ein Glas unter den Hahn, bereit, das Wasser aufzudrehen, sobald mich jemand entdeckte.

Sie waren in der Korbschaukel. Die Terrasse lag hell im Mondlicht. Sie konnten mich unmöglich sehen, hinter Glas in der dunklen Küche. Abby seitlich, den Rücken gegen die Armlehne gedrückt und die Füße auf Daniels Schoß. Er hielt ein Glas in einer Hand und hatte die andere entspannt über ihre Knöchel gelegt. Das Mondlicht strömte über Abbys Haar, malte die weiche Rundung ihrer Wange weiß und sammelte sich in den Falten von Daniels Hemd. Etwas Schnelles und Nadelfeines jagte durch mich hindurch, ein Schuss reiner, destillierter Schmerz. Rob und ich hatten oft noch spätnachts so zusammen auf meinem Sofa gesessen. Der Boden war eiskalt an meinen Füßen, und die Küche war so still, dass es mir in den Ohren weh tat.

»Für immer«, sagte Abby. Ihre Stimme hatte einen hellen, fassungslosen Klang. »Einfach so weitermachen, für immer. So tun, als wäre nichts geschehen.«

»Ich sehe keine andere Möglichkeit für uns«, sagte Daniel. »Du etwa?«

»Herrgott, Daniel!« Abby fuhr sich mit den Händen durchs Haar, Kopf in den Nacken, helles Aufblitzen des Halses. »Das soll eine Möglichkeit sein? Das ist Irrsinn. Ist das wirklich dein Ernst? Du willst, dass wir den Rest unseres Lebens so weitermachen?«

Daniel wandte sich ihr zu und sah sie an. Ich konnte nur seinen Hinterkopf sehen. »In einer idealen Welt«, sagte er sanft, »nein. Ich hätte manches gern anders, vieles.«

»Meine Güte«, sagte Abby und rieb sich die Augenbrauen, als bahnten sich bei ihr Kopfschmerzen an. »Fang bloß nicht so an.«

»Man kann nicht alles haben, weißt du«, sagte Daniel. »Wir wussten gleich am Anfang, als wir beschlossen haben, hier zu leben, dass das nicht ohne Opfer abgehen würde. Damit haben wir gerechnet.«

»Opfer ja«, sagte Abby. »Das hier nein. Das hab ich nicht kommen sehen, Daniel, nein. Nichts davon.«

»Nein?«, fragte Daniel überrascht. »Ich schon.«

Abbys Kopf fuhr herum, und sie starrte ihn an. »Was? Ach, hör doch auf. Das hier hast du kommen sehen? Lexie, und –«

»Na ja, Lexie nicht«, sagte Daniel. »Wohl kaum. Obwohl, vielleicht … « Er brach ab, seufzte. »Aber den ganzen Rest: Ja, den hab ich durchaus für möglich gehalten. Die menschliche Natur ist nun mal, wie sie ist. Ich dachte, du hättest das zumindest in Betracht gezogen.«

Niemand hatte mir erzählt, dass es noch mehr gab, geschweige denn Opfer. Ich merkte, wie mir schwindelig wurde, weil ich schon so lange die Luft anhielt. Ich atmete vorsichtig aus.

»Nein«, sagte Abby müde in den Himmel. »Vielleicht bin ich ja naiv.«

»Das würde ich nie behaupten«, sagte Daniel und lächelte wehmütig Richtung Garten. »Ich bin nun wahrhaftig der Letzte, der das Recht hat, dir vorzuwerfen, das Offensichtliche übersehen zu haben.« Er nahm einen Schluck von seinem Drink – ein blass bernsteinfarbenes Glitzern, als er das Glas hob –, und in diesem Moment erkannte ich etwas, sah es in seinen hängenden Schultern und in der Art, wie sich seine Augen schlossen, als er schluckte. Die vier waren für mich sicher und geborgen in ihrer verzauberten Festung gewesen, mit allem, was sie sich wünschten, zum Greifen nah. Diese Vorstellung hatte mir gefallen, sehr gefallen. Aber irgendetwas hatte Abby unvorbereitet getroffen, und aus irgendeinem Grund gewöhnte Daniel sich daran, schrecklich unglücklich zu sein, immerzu.

»Was für einen Eindruck hast du von Lexie?«, fragte er.

Abby nahm eine von Daniels Zigaretten und schnippte heftig mit dem Feuerzeug. »Einen ganz guten. Sie ist ein bisschen still, und sie hat abgenommen, aber damit war ja wohl zu rechnen.«

»Meinst du, es geht ihr gut?«

»Sie isst. Sie nimmt ihre Antibiotika.«

»Das hab ich nicht gemeint.«

»Ich glaube nicht, dass du dir um Lexie Sorgen machen musst«, sagte Abby. »Sie kommt mir ziemlich gelassen vor. Soweit ich das beurteilen kann, hat sie die ganze Sache im Prinzip vergessen.«

»Genau das«, sagte Daniel, »gibt mir ja zu denken. Ich befürchte, dass sie alles in sich aufstaut und irgendwann explodiert. Und was dann?«

Abby betrachtete ihn, Rauch kringelte sich langsam im Mondlicht. »In mancherlei Hinsicht«, sagte sie bedächtig, »wäre es vielleicht nicht das Ende der Welt, wenn Lexie tatsächlich explodieren würde.«

Daniel dachte darüber nach, drehte versonnen sein Glas und blickte über den Rasen. »Das hängt stark davon ab, welche Form diese Explosion annimmt«, sagte er schließlich. »Ich glaube, wir sollten darauf vorbereitet sein.«

»Lexie ist das kleinste unserer Probleme«, sagte Abby. »Justin – ich meine, das war doch klar, ich wusste, dass Justin Schwierigkeiten haben würde, aber er hält sich viel schlechter, als ich dachte. Und Rafe tut sein Übriges. Wenn er nicht bald aufhört, so ein Arschloch zu sein, weiß ich nicht, was … « Ich sah, wie sie die Lippen zusammenpresste und schluckte. »Und dann ist da noch was. Mir fällt es nicht gerade leicht hier, Daniel, und die Tatsache, dass dir das anscheinend scheißegal ist, trägt nicht dazu bei, dass ich mich besser fühle.«

»Es ist mir nicht scheißegal«, sagte Daniel. »Ganz im Gegenteil. Ich dachte, das wüsstest du. Ich seh im Augenblick bloß nicht, was wir ändern könnten.«

»Ich könnte weggehen«, sagte Abby. Sie beobachtete Daniel aufmerksam, mit runden und sehr ernsten Augen. »Wir könnten weggehen.«

Ich kämpfte den Impuls nieder, eine Hand über das Mikro zu halten. Ich verstand nicht genau, was hier vor sich ging, aber falls Frank mithörte, würde er sicher vermuten, dass die vier eine dramatische Flucht planten und ich in nächster Zukunft gefesselt und geknebelt im Kleiderschrank landen würde, während die anderen das nächste Flugzeug nach Mexiko bestiegen. Ich wünschte, ich wäre so vorausblickend gewesen, die exakte Reichweite des Mikros zu testen.

Daniel sah Abby nicht an, aber seine Hand schloss sich fester um ihre Knöchel. »Das könntest du, ja«, sagte er schließlich. »Und ich könnte dich nicht dran hindern. Aber das hier ist mein Zuhause, weißt du. Wie es hoffentlich … « Er atmete tief durch. »Wie es hoffentlich auch deins ist. Ich kann nicht von hier weg.«

Abby ließ den Kopf nach hinten gegen die Stange der Schaukel fallen. »Ja«, sagte sie. »Ich weiß. Ich kann es auch nicht. Ich denke nur … Gott, Daniel. Was sollen wir tun?«

»Wir warten ab«, sagte Daniel ruhig. »Wir vertrauen darauf, dass sich mit der Zeit alles wieder beruhigt. Wir vertrauen einander. Wir tun unser Bestes.«

Ein Luftzug strich mir über die Schulter, und ich fuhr herum, den Mund schon zu meiner Ein-Schluck-Wasser-Geschichte geöffnet. Das Glas stieß gegen den Hahn und fiel mir aus der Hand in die Spüle. Das Klirren klang laut genug, um ganz Glenskehy aus dem Schlaf zu reißen. Hinter mir war niemand.

Daniel und Abby waren hochgefahren, hatten die Gesichter erschrocken zum Haus gewandt. »Hallo«, sagte ich, stieß die Tür auf und trat auf die Terrasse hinaus. Mein Herz raste. »Ich hab’s mir anders überlegt: Ich bin doch noch nicht müde. Bleibt ihr noch auf?«

»Nein«, sagte Abby. »Ich wollte gerade ins Bett gehen.« Sie schwang die Füße von Daniels Schoß und schob sich an mir vorbei ins Haus. Einen Moment später hörte ich sie die Treppe hochlaufen, ohne darauf zu achten, die knarrende Stufe zu überspringen.

Ich ging zu Daniel und setzte mich neben seinen Beinen auf die Terrasse, den Rücken gegen die Schaukel gelehnt. Irgendwie wollte ich nicht neben ihm sitzen. Es hätte sich plump angefühlt, als würde ich Vertraulichkeiten von ihm hören wollen. Nach einem Moment streckte er eine Hand aus und legte sie leicht auf meinen Kopf. Seine Hand war so groß, dass sie meinen Schädel umfasste wie den eines Kindes. »Tja«, sagte er leise, fast zu sich selbst.

Sein Glas stand auf dem Boden neben ihm, und ich trank einen Schluck: Whiskey on the rocks, das Eis fast geschmolzen. »Hattet ihr beide Streit?«, fragte ich.

»Nein«, sagte Daniel. Sein Daumen bewegte sich ein ganz kleines bisschen über mein Haar. »Alles in Ordnung.«

Wir blieben eine Weile so sitzen. Es war eine stille Nacht, kaum ein Lufthauch glitt über das Gras, der Mond schwebte wie eine alte Silbermünze hoch am Himmel. Der kalte Stein der Terrasse durch meinen Schlafanzug und der warme Geruch von Daniels filterloser Zigarette waren irgendwie tröstlich, beruhigend. Ich drückte meinen Rücken ganz leicht gegen den Schaukelsitz, wiegte ihn in einem sanften, gleichmäßigen Rhythmus.

»Riech mal«, sagte Daniel leise. »Riechst du das?«

Der erste schwache Rosmarinduft wehte vom Kräutergarten herüber, ein kaum wahrnehmbarer Hauch in der Luft. »Rosmarin, das steht für Erinnerung«, sagte er. »Bald haben wir auch Thymian und Zitronenmelisse und Minze und Gänsefingerkraut und irgendwas, ich glaube Ysop – ist aus dem Buch schwer zu sagen, im Winter. Dieses Jahr ist da natürlich noch alles durcheinander, aber wir werden alles wieder in Form schneiden und wo nötig neu pflanzen. Mit Hilfe der alten Fotos. Auf denen sieht man die ursprüngliche Anordnung, was wohin gehört. Die Kräuter sind alle winterfest, sie wurden also nicht nur ausgesucht, um sie zu ernten, sondern auch, weil sie widerstandskräftig sind. Im nächsten Jahr … «

Er erzählte von alten Kräutergärten: wie sorgfältig sie angelegt wurden, damit auch wirklich jede Pflanze alles hatte, was sie zum Gedeihen brauchte, wie wunderbar ausgewogen sie waren hinsichtlich Anblick und Duft und Verwendung, Nutzen und Schönheit, ohne je das eine auf Kosten des anderen zu gefährden. Ysop löste Bronchitis und linderte Zahnschmerzen, sagte er, Kamillenwickel heilten Entzündungen, und Kamillentee schützte vor Alpträumen, Lavendel und Zitronenmelisse sorgten im Haus für Wohlgeruch, Weinraute und Pimpinelle kamen in den Salat. »Das müssen wir mal ausprobieren«, sagte er, »einen Shakespeare’schen Salat. Gänsefingerkraut schmeckt wie Pfeffer, wusstest du das? Ich dachte, es wäre längst abgestorben, so braun und dürr war es, aber dann hab ich es bis auf die Wurzeln zurückgeschnitten, und auf einmal war da ein Hauch von Grün. Das wird jetzt schön wiederkommen. Es ist erstaunlich, wie hartnäckig Dinge auch unter widrigsten Umständen überleben. Wie unwiderstehlich stark er doch ist, dieser Drang zu leben und zu wachsen … «

Der Rhythmus seiner Stimme spülte über mich hinweg, ruhig und gleichmäßig wie Wellenrauschen. Ich nahm die Worte kaum noch wahr. Ich glaube, irgendwann sagte er hinter mir etwas über Zeit, was genau weiß ich nicht mehr, aber ein Satz ist mir in Erinnerung geblieben: »Die Zeit arbeitet so hart für uns, wenn wir es nur zulassen können.«