23

Sobald Justin den Wagen in den Stall gefahren hatte, sprang ich raus und rannte zum Haus, dass der Kies unter meinen Füßen hochspritzte. Niemand rief mir nach. Ich rammte den Schlüssel ins Schloss, stieß die Tür auf und polterte hoch in mein Zimmer.

Es kam mir vor wie eine Ewigkeit, bis ich die anderen hereinkommen hörte (das Schließen der Tür, schnell einander überlagernde leise Stimmen, die sich ins Wohnzimmer bewegten), aber in Wirklichkeit waren es nicht mal sechzig Sekunden – ich behielt meine Uhr im Auge. Ich hatte mir überlegt, ihnen gut zehn Minuten zu geben. Weniger, und sie hätten keine Zeit, um sich auszutauschen – ihre erste Gelegenheit überhaupt – und sich in eine ausgewachsene Panik hineinzusteigern; mehr, und Abby würde sich wieder fangen und auch die Jungs zurück auf Linie bringen.

Während der zehn Minuten lauschte ich auf die Stimmen unten, angespannt und gedämpft und leicht hysterisch, und ich machte mich bereit. Die Spätnachmittagssonne flutete in mein Zimmer, und die Luft strahlte so hell, dass ich mich schwerelos fühlte, in Bernstein schwebend, jede meiner Bewegungen so klar und rhythmisch und gemessen, als gehörten sie zu einem Ritual, auf das ich mich schon mein Leben lang vorbereitet hatte. Mir war, als würden meine Hände sich von selbst bewegen, als ich meinen Hüfthalter glattstrich – er wurde inzwischen schmuddelig, und ich konnte ihn ja wohl kaum in die Waschmaschine stecken –, ihn anzog, den Saum in die Jeans stopfte, meinen Revolver hineinschob, so ruhig und präzise, als hätte ich alle Zeit der Welt. Ich dachte an jenen unendlich fernen Nachmittag in meiner Wohnung, als ich zum ersten Mal Lexies Sachen angezogen hatte. Dass sie mir wie eine Rüstung vorgekommen waren, wie zeremonielle Gewänder, dass sie in mir den Wunsch ausgelöst hatten, laut zu lachen vor Glück oder etwas Ähnlichem.

Als die zehn Minuten um waren, zog ich die Tür dieses kleinen Zimmers voller Licht und Maiglöckchenduft hinter mir zu und hörte, wie die Stimmen unten verstummten. Ich wusch mir das Gesicht im Bad, trocknete es gründlich ab und hängte mein Handtuch ordentlich zwischen Abbys und Daniels. Mein Gesicht im Spiegel sah sehr fremd aus, blass und die Augen riesig, und es starrte mich mit einer wichtigen, unergründlichen Warnung an. Ich zog meinen Pullover herunter und überprüfte, dass der Revolver sich nicht abzeichnete. Dann ging ich nach unten.

Sie waren im Wohnzimmer, alle drei. Einen kurzen Moment lang, ehe sie mich sahen, blieb ich an der Tür stehen und beobachtete sie. Rafe lag ausgestreckt auf der Couch, ließ einen Packen Karten in einem rasanten ruhelosen Bogen von Hand zu Hand schnellen. Abby saß zusammengerollt in ihrem Sessel, den Kopf über ihre Puppe gebeugt, die Unterlippe fest zwischen den Zähnen; sie versuchte zu sticken, aber für jeden Stich brauchte sie etwa drei Anläufe. Justin war in einem der Lehnsessel mit einem Buch, und aus irgendeinem Grund war er es, der mir fast das Herz brach: diese schmalen, hochgezogenen Schultern, der gestopfte Ärmel seines Pullovers, die langen Hände, die Gelenke so dünn und verletzlich wie bei einem kleinen Jungen. Der Couchtisch stand voll mit Gläsern und Flaschen – Wodka, Tonic, Orangensaft. Etwas war beim Eingießen verschüttet worden, aber keiner hatte es für nötig befunden, den Tisch sauberzuwischen. Auf dem Fußboden schwankten Efeuschatten wie Scherenschnitte im Sonnenlicht.

Dann hoben sich ihre Köpfe, einer nach dem anderen, und ihre Gesichter wandten sich mir zu, ausdruckslos und wachsam, wie damals am ersten Tag, als sie oben an der Eingangstreppe auf mich gewartet hatten.

»Wie geht’s dir?«, fragte Abby.

Ich zuckte die Achseln.

»Trink was«, sagte Rafe und deutete mit einem Nicken auf den Tisch. »Wenn du was anderes als Wodka willst, musst du’s dir holen.«

»Mir fallen allmählich wieder Bruchstücke ein«, sagte ich. Ein langer schräger Sonnenstrahl lag quer auf den Dielen zu meinen Füßen und ließ den neuen Lack glänzen wie Wasser. Ich hielt den Blick darauf gerichtet. »Bruchstücke von dem Abend. Die haben gesagt, das könnte passieren. Die Ärzte, mein ich.«

Wieder das Flattern und Schnappen der Karten. »Das wissen wir«, sagte Rafe.

»Die haben uns zuschauen lassen«, sagte Abby leise. »Bei deinem Gespräch mit Mackey.«

Ich riss den Kopf hoch und starrte sie mit offenem Mund an. »Ich fass es nicht«, sagte ich nach einem Augenblick. »Hattet ihr vor, mir das zu sagen? Irgendwann mal?«

»Wir sagen es dir jetzt«, sagte Rafe.

»Ihr könnt mich mal«, sagte ich, und das Beben in meiner Stimme klang, als kämen mir schon wieder fast die Tränen. »Ihr könnt mich alle mal. Für wie blöd haltet ihr mich eigentlich? Mackey hat sich wie ein totales Arschloch aufgeführt, und ich hab trotzdem den Mund gehalten, weil ich euch nicht in Schwierigkeiten bringen wollte. Aber ihr wolltet mich einfach weiter im Dunkeln tappen lassen, bis ans Ende unserer Tage, wo ihr alle genau wisst –« Ich drückte mir den Handrücken gegen die Lippen.

Abby sagte, ganz leise und ganz behutsam: »Du hast den Mund gehalten.«

»Ich hätt’s nicht tun sollen«, sagte ich gegen mein Handgelenk. »Ich hätte ihm einfach alles erzählen sollen, was mir wieder eingefallen ist, und zusehen, wie ihr damit klarkommt.«

»Was sonst«, fragte Abby, »was sonst ist dir wieder eingefallen?«

Mein Herz fühlte sich an, als würde es mir jeden Augenblick aus der Brust springen. Falls ich falschlag, würde ich mit Pauken und Trompeten scheitern, und jede Sekunde des letzten Monats wäre umsonst gewesen – in diese vier Leben eingedrungen, Sam verletzt, meinen Job riskiert: alles umsonst. Ich warf jeden Chip, den ich hatte, auf den Tisch, ohne den leisesten Schimmer zu haben, wie gut mein Blatt war. In dem Augenblick dachte ich an Lexie: dass sie ihr ganzes Leben so gelebt hatte, alles blind auf eine Karte gesetzt, und daran, was es sie am Ende gekostet hatte.

»Die Jacke«, sagte ich. »Der Zettel, in der Jackentasche.«

Eine Sekunde lang dachte ich, ich hätte verloren. Ihre Gesichter, die zu mir hochsahen, waren so unglaublich ausdruckslos, als hätte ich etwas völlig Unverständliches gesagt. Ich überlegte mir schon hektisch, wie ich einen Rückzieher machen könnte (Komatraum? Morphiumhalluzination?), als Justin mit einem winzigen verzweifelten Atemhauch flüsterte: »Oh Gott.«

Früher hast du keine Zigaretten mit auf deine Spaziergänge genommen, hatte Daniel gesagt. Ich war so darauf konzentriert gewesen, den Schnitzer zu überspielen, dass mir erst Tage später auffiel: Ich hatte Neds Nachricht verbrannt. Wenn Lexie kein Feuerzeug bei sich trug, dann hatte sie auf Anhieb keine Möglichkeit gehabt, die Zettel loszuwerden – außer sie aufessen, was selbst für sie ein wenig extrem gewesen wäre. Vielleicht hatte sie sie auf dem Weg nach Hause in kleine Stücke zerrissen und peu à peu im Vorbeigehen in Hecken geworfen, wie eine dunkle Hänsel-und-Gretel-Spur. Vielleicht aber war ihr selbst das zu heikel gewesen, und sie hatte die Zettel in die Tasche gesteckt, um sie im Klo runterzuspülen oder zu verbrennen, wenn sie zu Hause war.

Sie war so höllisch vorsichtig gewesen, hatte ihre Geheimnisse wohlgehütet. Ich konnte mir bloß einen Fehler vorstellen, der ihr unterlaufen sein könnte. Nur ein einziges Mal, als sie nach Hause lief, im Dunkeln und im strömenden Regen – denn es musste geregnet haben –, schon ganz aufgewühlt durch das Baby und mit dem Gedanken an Flucht, der durch ihre Adern pulsierte, hatte sie den Zettel in die Tasche gesteckt, ohne daran zu denken, dass die Jacke, die sie trug, nicht allein ihr gehörte. Sie war durch das Gleiche verraten worden, dessen Verrat sie plante: die Nähe zu den anderen, das gemeinsam geteilte Leben.

»Na toll«, sagte Rafe und griff nach seinem Glas, eine Augenbraue hochgezogen. Er versuchte, seine beste Lebensüberdrussmiene aufzusetzen, doch seine Nasenflügel bebten ganz leicht mit jedem Atemzug. »Super gemacht, Justin, mein Freund. Jetzt wird’s interessant.«

»Was? Was soll das heißen, super gemacht? Sie wusste es doch schon –«

»Klappe«, sagte Abby. Sie war weiß im Gesicht geworden, die Sommersprossen hoben sich ab wie aufgemalt.

Rafe überging sie. »Na, falls nicht, dann weiß sie es jetzt.«

»Das ist nicht meine Schuld! Wieso schiebst du mir immer für alles die Schuld in die Schuhe?«

Justin war ganz kurz davor durchzudrehen. Rafe schlug die Augen zur Decke. »Hab ich mich beschwert? Ich finde sowieso, es wird langsam Zeit, reinen Tisch zu machen.«

»Das wird nicht diskutiert«, sagte Abby, »bis Daniel nach Hause kommt.«

Rafe lachte auf. »Ach Abby«, sagte er. »Ich hab dich wirklich gern, aber manchmal mach ich mir Gedanken um dich. Du weißt doch ganz genau, sobald Daniel zu Hause ist, wird es überhaupt nicht mehr diskutiert.«

»Die Sache betrifft uns alle fünf. Wir reden erst drüber, wenn alle da sind.«

»So ein Schwachsinn«, sagte ich. Meine Stimme wurde lauter, und ich ließ es zu. »Das ist der größte Schwachsinn, den ich je gehört hab. Wenn die Sache uns alle betrifft, wieso habt ihr dann nicht schon vor Wochen mit mir drüber geredet? Wenn ihr hinter meinem Rücken drüber reden könnt, dann geht das wahrhaftig auch ohne Daniel.«

»Oh Gott«, flüsterte Justin wieder. Sein Mund war offen, eine Hand zitterte dicht davor.

Abbys Handy klingelte in ihrer Umhängetasche. Auf dieses Geräusch hatte ich während der ganzen Heimfahrt gelauscht, die ganze Zeit in meinem Zimmer. Frank hatte Daniel gehen lassen.

»Lass das!«, brüllte ich so laut, dass ihre Hand, die schon danach greifen wollte, auf halbem Weg verharrte. »Das ist Daniel, und ich weiß sowieso, was er sagen wird. Er wird euch befehlen, kein Wort mit mir zu reden, und ich hab es so verdamm satt, mich von ihm behandeln zu lassen, als wäre ich sechs! Wenn hier irgendwer das Recht hat, genau zu erfahren, was passiert ist, dann doch wohl ich. Wenn du versuchst, an das Scheißhandy zu gehen, dann tret ich es platt, das schwör ich dir!« Das war mein voller Ernst. Es war Sonntagnachmittag, auf den Straßen Richtung Dublin herrschte starker Verkehr, nicht umgekehrt. Wenn Daniel ordentlich Gas gab – und das würde er – und nicht von der Polizei angehalten wurde, konnte er in etwa einer halben Stunde zu Hause sein. Ich brauchte jede einzelne Sekunde.

Rafe lachte, ein kurzer, rauer Ton. »Alle Achtung!«, sagte er und prostete mir zu.

Abby starrte mich an, die Hand noch immer auf halbem Weg zu ihrer Tasche.

»Wenn ihr mir nicht endlich erzählt, was Sache ist«, sagte ich, »rufe ich jetzt sofort bei den Bullen an und erzähl denen alles, woran ich mich erinnern kann.«

»Gott«, flüsterte Justin. »Abby … «

Das Telefon hörte auf zu klingeln.

»Abby«, sagte ich und holte tief Luft. Ich konnte spüren, wie sich meine Fingernägel in die Handteller gruben. »Ich kann das nicht mehr, wenn ihr mich außen vor lasst. Das hier ist wichtig. Ich kann so nicht … Wir können so nicht weitermachen. Entweder wir stehen das gemeinsam durch, oder es geht eben nicht mehr.«

Justins Handy klingelte.

»Ihr müsst mir ja nicht mal sagen, wer von euch es war, wenn ihr nicht wollt.« Ich war mir ziemlich sicher, wenn ich nur angestrengt lauschte, würde ich hören, wie Frank mit dem Kopf gegen eine Wand schlug, irgendwo, aber das war mir egal: Immer eins nach dem anderen. »Ich will bloß wissen, was passiert ist. Ich bin es so satt, dass alle Bescheid wissen außer mir. Ich bin es so verdammt satt. Bitte.«

»Sie hat alles Recht der Welt, es zu erfahren«, sagte Rafe. »Und ich persönlich bin es auch ziemlich leid, immer nur nach der Devise ›Weil Daniel das gesagt hat‹ zu leben. So gut sind wir bisher weiß Gott nicht damit gefahren.«

Das Klingeln hörte auf. »Wir sollten ihn zurückrufen«, sagte Justin, halb aus seinem Sessel. »Meint ihr nicht? Was, wenn sie ihn verhaftet haben und er Geld für die Kaution braucht oder so?«

»Sie haben ihn nicht verhaftet«, sagte Abby automatisch. Sie ließ sich zurück in den Sessel fallen und fuhr sich mit den Händen übers Gesicht, atmete tief aus. »Wie oft soll ich euch noch sagen, die brauchen Beweise für einen Haftbefehl. Es geht ihm gut. Lexie, setz dich.«

Ich blieb, wo ich war. »Ach Menschenskind, nun setz dich endlich«, sagte Rafe, mit einem leidgeprüften Seufzer. »Ich erzähl dir die ganze erbärmliche Geschichte sowieso, ob es den andern gefällt oder nicht, und du machst mich nervös mit deinem Herumgehampel. Und Abby, reg dich ab. Wir hätten das schon vor Wochen machen sollen.«

Nach einem Moment ging ich zu meinem Sessel am Kamin. »Viel besser«, sagte Rafe und grinste mich an. Auf seinem Gesicht lag eine sorglose, verwegene Heiterkeit, er sah so glücklich aus wie schon seit Wochen nicht mehr. »Trink was.«

»Ich will nichts trinken.«

Er schwang seine Beine vom Sofa, goss mir einen großen, triefenden Wodka-Orange ein und reichte ihn mir. »Ehrlich gesagt, ich finde, wir sollten alle noch was trinken. Wir werden es brauchen.« Er füllte schwungvoll Gläser auf – Abby und Justin schienen es nicht mitzukriegen – und hob seines hoch in die Luft. »Auf die vollständige Enthüllung.«

»Okay«, sagte Abby, nach einem tiefen Atemzug. »Okay. Wenn du das wirklich willst und es dir ja sowieso langsam wieder einfällt, dann … meinetwegen.«

Justin öffnete den Mund, schloss ihn dann wieder und biss sich auf die Lippen.

Abby fuhr sich mit den Händen durchs Haar, strich es sich energisch glatt. »Wo sollen wir … ? Ich meine, an wie viel kannst du dich erinnern oder … «

»An Bruchstücke«, sagte ich. »Sie ergeben aber keinen Sinn oder so. Fangt einfach am Anfang an.« Das ganze Adrenalin war aus meinem Blut gespült worden, und mit einem Mal war ich ganz ruhig. Das hier war das Letzte, was ich in diesem Haus je tun würde. Ich spürte es überall um mich herum, in jedem Quadratzentimeter, summend vor Sonne und Staubkörnchen und Erinnerungen, es wartete darauf, was als Nächstes kam. Mir war, als hätten wir alle Zeit der Welt.

»Du hast dich fertig gemacht für deinen Spaziergang«, sagte Rafe hilfreich und ließ sich wieder aufs Sofa fallen, »so gegen, wie spät war’s, kurz nach elf? Und Abby und ich stellten fest, dass wir beide keine Zigaretten mehr hatten. Komisch, wie Kleinigkeiten doch ins Gewicht fallen können, nicht? Wenn wir Nichtraucher wären, wäre das alles vielleicht nie passiert. Davon redet keiner bei den ganzen Warnungen vor den schlimmen Folgen des Rauchens.«

»Du hast gesagt, du würdest unterwegs welche besorgen«, sagte Abby. Sie beobachtete mich, die Hände fest im Schoß gefaltet. »Aber du bist immer mindestens eine Stunde weg, daher dachte ich, ich geh schnell zur Tankstelle. Es sah nach Regen aus, deshalb hab ich die Jacke angezogen – du wolltest sie anscheinend nicht, weil du schon deinen Mantel anhattest. Ich hab mein Portemonnaie in die Tasche gesteckt und … «

Ihre Stimme erstarb, und sie machte eine kleine, nervöse Geste, die alles hätte bedeuten können. Ich hielt mich zurück. Keine Hilfestellung mehr, wenn ich es vermeiden konnte. Der Rest der Geschichte musste von ihnen kommen.

»Und dann hat sie so einen Zettel rausgezogen«, sagte Rafe mit einer Zigarette im Mund, und gefragt: ›Was ist das denn?‹ Zunächst hat keiner richtig hingehört. Wir waren alle in der Küche, wir haben gespült, Justin und Daniel und ich, und über irgendwas diskutiert –«

»Stevenson«, sagte Justin sanft und sehr traurig. »Weißt du nicht mehr? Jekyll und Hyde. Daniel hat über sie doziert, irgendwas mit Vernunft und Instinkt. Du warst in alberner Laune, Lexie, du hast gesagt, du hättest genug über die Uni geredet, für den Abend, und überhaupt, Jekyll und Hyde wären bestimmt beide Nieten im Bett, und Rafe hat gesagt: ›Dass du einspurig denkst, wissen wir ja, aber dass die Spur noch dazu eine Dreckspur ist … ‹ Wir mussten alle lachen.«

»Und dann hat Abby gesagt: ›Lexie, verdammt, was soll das?‹«, sagte Rafe. »Wesentlich lauter. Wir haben uns alle zu ihr umgedreht, und sie hatte so ein zerknittertes Stück Papier in der Hand und sah aus, als hätte sie jemand geohrfeigt – so hatte ich sie noch nie gesehen, niemals.«

»Daran kann ich mich erinnern«, sagte ich. Meine Hände fühlten sich an, als wären sie durch einen Hitzestrahl mit den Armlehnen verschmolzen. »Dann wird alles wieder undeutlich.«

»Zum Glück«, sagte Rafe, »können wir dir da auf die Sprünge helfen. Ich denke, wir anderen werden uns bis an unser Lebensende an jede Sekunde erinnern. Du hast gesagt: ›Gib das her‹, und hast nach dem Stück Papier gegriffen, aber Abby ist zurückgesprungen, ganz schnell, und hat Daniel den Zettel gegeben.«

»Ich glaube«, sagte Justin mit leiser Stimme, »da wurde uns allmählich klar, dass es um was Ernstes ging. Ich hatte schon irgendwas Albernes in Richtung Liebesbrief auf der Zunge gehabt – nur um dich zu ärgern, Lexie –, aber du warst so … Du bist regelrecht auf Daniel losgehechtet und hast versucht, ihm den Zettel wegzunehmen. Er hat blitzschnell die andere Hand vorgestreckt, um dich auf Abstand zu halten, rein reflexartig, aber du hast mit ihm gekämpft, richtig gekämpft – du hast auf seinen Arm eingeschlagen, hast versucht, ihn zu treten, und nach dem Stück Papier gegrapscht. Du hast keinen Ton von dir gegeben. Das hat mir am meisten Angst gemacht, glaub ich. Diese Stille. Mir war, als müsstet ihr rumschreien oder brüllen oder irgendwas, und dass ich dann irgendwas tun könnte, aber es war so still – nur das Keuchen von dir und Daniel und das Wasser, das noch immer in die Spüle lief … «

»Abby hat deinen Arm zu fassen gekriegt«, sagte Rafe, »aber du bist rumgefahren, mit erhobenen Fäusten. Ich hab echt gedacht, du gehst auf sie los. Justin und ich standen da und glotzten blöd aus der Wäsche. Wir haben einfach nicht kapiert, was zum Teufel eigentlich – ich meine, zwei Sekunden vorher hatten wir noch Witze gerissen von wegen Jekyll-Sex, verdammt nochmal. Sobald du dich von Daniel weggedreht hattest, hat er mir den Zettel in die Hand gedrückt, deine Arme von hinten festgehalten und zu mir gesagt: ›Lies vor.‹«

»Ich fand’s schlimm«, sagte Justin sanft. »Du hast dich wie wild hin und her geworfen, um dich von Daniel loszureißen, aber er hat nicht losgelassen. Es war … Du hast versucht, ihn zu beißen, in den Arm. Ich dachte, wieso macht er das, wenn es dein Zettel ist, soll er ihn dir zurückgeben, aber ich war einfach zu verdattert, um irgendwas zu sagen.«

Das wunderte mich nicht. Die beiden waren keine Männer der Tat, ihre Stärke waren Gedanken und Worte, und sie waren in etwas hineinkatapultiert worden, wo mit Gedanken und Worten nichts auszurichten war. Was mich allerdings überraschte und was alle Warnlampen in meinem Hinterkopf aufblinken ließ, das war, wie schnell und energisch Daniel reagiert hatte.

»Also«, sagte Rafe, »hab ich den Zettel vorgelesen. Da stand: ›Liebe Lexie, hab drüber nachgedacht, und okay, wir können über zweihundert Riesen reden. Bitte melde dich, weil ich weiß, dass wir beide das Geschäft abschließen wollen. Schöne Grüße, Ned.‹«

»Ganz genau das«, sagte Justin leise und bitter in die luftleere Stille, »daran wirst du dich ja wohl noch erinnern.«

»Er hat eine Sauklaue«, sagte Rafe, die Zigarette zwischen die Lippen geklemmt. »Wie ein Vierzehnjähriger. Was für ein Schwachkopf. Mal abgesehen von allem anderen, ich hätte dir einen besseren Geschmack zugetraut, als mit so einem miese Geschäfte zu machen.«

»Und?«, fragte Abby. Ihre Augen waren ganz ruhig auf mich gerichtet, forschend. »Wenn das alles nicht passiert wäre, hättest du wirklich an Ned verkauft?«

Wenn ich daran denke, wie unglaublich grausam ich zu den vieren war, zählt das zu den wenigen Dingen, die mich ein wenig mit mir selbst versöhnen: Ich hätte in dem Moment ja sagen können. Ich hätte ihnen haargenau sagen können, was Lexie vorhatte, was sie ihnen antun wollte und allem, was sie gemeinsam mit Herz und Seele und Körpereinsatz aufgebaut hatten. Vielleicht wäre das letzten Endes weniger schmerzhaft für sie gewesen als der Gedanke, dass es eigentlich um nichts gegangen war. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, als ich das letzte Mal eine Wahl hatte, viel zu spät, um noch irgendetwas zu ändern, habe ich aus den richtigen Gründen gelogen.

»Nein«, sagte ich. »Ich wollte bloß … Ich musste einfach wissen, ob ich es gekonnt hätte. Ich bin durchgedreht, Abby. Ich fühlte mich eingesperrt, und ich hab Panik gekriegt. Ich hatte nie ernsthaft vor zu gehen. Ich musste einfach nur wissen, dass ich gehen könnte, wenn ich wollte.«

»Eingesperrt«, sagte Justin, und sein Kopf bewegte sich mit einem kurzen, gekränkten Ruck. »Bei uns«, aber ich sah auch Abbys rasches Blinzeln, als sie begriff: das Baby.

»Du wolltest bleiben.«

»Und ob ich bleiben wollte«, sagte ich, und ich weiß bis heute nicht und werde es wohl nie wissen, ob auch das eine Lüge war. »So sehr, Abby. Wirklich.«

Nach einem langen Augenblick nickte sie fast unmerklich.

»Hab ich euch doch gesagt«, sagte Rafe, legte den Kopf in den Nacken und blies Rauch an die Decke. »Daniel, der Idiot. Noch bis letzte Woche war er praktisch hysterisch vor Paranoia deswegen. Ich hab ihm gesagt, ich hätte mit dir gesprochen und du hättest nicht vor, irgendwo hinzugehen, aber nein, Monsieur lässt sich natürlich von keinem was sagen.«

Abby reagierte nicht darauf, rührte sich nicht, es sah aus, als würde sie nicht mal atmen. »Und jetzt?«, fragte sie mich. »Was jetzt?«

Für eine schwindelige Sekunde verlor ich den Faden, dachte, sie hätte mich durchschaut und würde fragen, ob ich trotzdem bleiben wollte. »Was meinst du?«

»Sie meint«, sagte Rafe kühl und knapp und sehr ruhig, »wenn unser Gespräch hier vorbei ist, rufst du dann Mackey oder O’Neill oder die Dorftrottel an und lieferst uns aus? Verpfeifst uns? Lässt uns hängen? Was auch immer der angemessene Ausdruck unter diesen Umständen ist.«

Man sollte meinen, dass ich bei dieser Frage von Schuldgefühlen durchzuckt worden wäre, die sich von dem Mikro aus glühend heiß auf meiner Haut ausbreiteten, aber das Einzige, was ich empfand, war eine große, endgültige, ziehende Traurigkeit, wie ein Ebbstrom tief unten in meinen Knochen. »Ich werde keinem was sagen«, sagte ich und spürte, wie Frank, weit weg in seinem kleinen summenden Kreis aus Elektronik, anerkennend nickte. »Ich will nicht, dass ihr in den Knast geht. Egal, was passiert ist.«

»Tja«, sagte Abby leise, fast zu sich selbst. Sie lehnte sich im Sessel zurück und strich ihren Rock glatt, geistesabwesend, mit beiden Händen. »Tja, dann … «

»Tja, dann«, sagte Rafe und zog fest an seiner Zigarette, »haben wir die ganze Sache wesentlich komplizierter gemacht, als es nötig gewesen wäre. Irgendwie wundert mich das nicht.«

»Und dann?«, sagte ich. »Nach der Sache mit dem Zettel. Was ist dann passiert?«

Eine kleine, angespannte Veränderung im Raum. Keiner von ihnen schaute die anderen an. Ich suchte nach irgendeinem winzigen Unterschied in den Gesichtern, nach einem Hinweis darauf, dass dieses Gespräch einen von ihnen schwerer belastete als die anderen, dass einer beschützte, beschützt wurde, schuldig war, defensiv: nichts.

»Dann«, sagte Abby mit einem tiefen Atemzug. »Lex, ich weiß nicht, ob du darüber nachgedacht hattest, was es bedeuten würde, wenn du deinen Anteil an Ned verkaufen würdest. Du … ich meine, du durchdenkst nicht immer alles gründlich.«

Ein böses Schnaufen von Rafe. »Das ist sehr vorsichtig ausgedrückt. Mensch, Lexie, was hast du bloß gedacht, was passieren würde? Du verkaufst, schaffst dir irgendwo eine hübsche kleine Eigentumswohnung an, und alles ist weiterhin Friede, Freude, Eierkuchen? Was hast du erwartet, wie es abgelaufen wäre, wenn wir uns jeden Morgen an der Uni gesehen hätten? Küsschen hier, Küsschen da und hier bitte schön ist dein Sandwich? Wir hätten nie wieder ein Wort mit dir geredet. Wir hätten dich nur noch abgrundtief gehasst.«

»Und Ned hätte uns anderen keine ruhige Minute mehr gelassen«, sagte Abby, »jeden Tag hätte er uns in den Ohren gelegen, an irgendeinen Investor zu verkaufen und das Haus in Apartments zu verwandeln oder einen Golfclub oder was immer er damit vorhatte. Er hätte einziehen können, mit uns zusammenwohnen, und wir hätten nichts dagegen machen können. Früher oder später hätten wir klein beigegeben. Wir hätten das Haus verloren. Whitethorn House.«

Irgendetwas regte sich, zart und halbwach: ein ganz leichtes Biegen der Wände, ein Dielenknarren oben, ein Luftzug, der die Treppe heruntergeweht kam.

»Wir haben alle losgeschrien«, sagte Justin leise. »Alle auf einmal – ich wusste nicht mal, was ich da von mir gab. Du konntest dich von Daniel losreißen, und Rafe hat dich festgehalten, und du hast ihn geschlagen – richtig fest, Lexie, du hast ihm die Faust in den Magen gerammt –«

»Es war eine Schlägerei«, sagte Rafe. »Wir können es nennen, wie wir wollen, aber Tatsache ist, wir haben uns gekloppt wie eine Horde Besoffene an einer Straßenecke. Dreißig Sekunden länger, und wir hätten uns in der Küche auf dem Boden gewälzt und nach Strich und Faden aufeinander eingedroschen. Bloß, ehe es so weit kommen konnte –«

»Bloß«, sagte Abby, und ihre Stimme schnitt ihm so jäh das Wort ab wie ein Türenknallen, »so weit ist es nicht gekommen.«

Sie blickte Rafe ruhig, unverwandt in die Augen. Nach einer Sekunde zuckte er die Achseln, ließ sich nach hinten auf die Couch fallen und wippte nervös mit einem Fuß.

»Es hätte jeder von uns sein können«, sagte Abby, ob zu mir oder zu Rafe, konnte ich nicht sagen. In ihrer Stimme lag eine tiefe Leidenschaft, die mich erschreckte. »Wir haben alle getobt vor Zorn – ich war noch nie im Leben so wütend. Alles andere war purer Zufall, ist einfach passiert. In dem Moment hätte dich jeder von uns umbringen können, Lexie, und das kannst du uns nicht verdenken.«

Wieder regte sich etwas, irgendwo kaum hörbar: ein Huschen im Flur, ein Summen in den Schornsteinen. »Tu ich auch nicht«, sagte ich. Ich fragte mich – und das war natürlich Quatsch, ich muss als Kind zu viele Geistergeschichten gelesen haben –, ob genau das Lexies Auftrag an mich gewesen war: ihnen zu sagen, dass es okay war. »Ihr hattet wirklich allen Grund, wütend zu sein. Selbst danach hättet ihr mich mit gutem Recht rausschmeißen können.«

»Wir haben darüber gesprochen«, sagte Abby. Rafe hob eine Augenbraue. »Daniel und ich. Ob wir noch zusammenwohnen können, nach … Aber es wäre kompliziert geworden, und überhaupt, es ging schließlich um dich. Was immer auch passiert war, du warst immer noch du.«

»Das Nächste, woran ich mich erinnere«, sagte Justin sehr leise, »ist das Knallen der Hintertür, und dann lag da dieses Messer mitten in der Küche auf dem Boden. Mit Blut dran. Ich konnte es nicht glauben. Ich konnte nicht glauben, dass das wirklich passiert war.«

»Und ihr habt mich einfach gehen lassen?«, sagte ich, zu meinen Händen. »Ihr habt nicht mal versucht, nach mir zu –«

»Doch«, sagte Abby, beugte sich vor und versuchte, meinen Blick aufzufangen. »Doch, Lex. Natürlich. Aber es hat erst mal einen Moment gedauert, bis wir richtig begriffen hatten, was passiert war, aber als es uns dann klar wurde … Daniel hat als Erster reagiert, wir anderen waren wie gelähmt. Als ich mich wieder bewegen konnte, hatte er schon die Taschenlampe in der Hand. Er hat gesagt, Rafe und ich sollten zu Hause bleiben, für den Fall, dass du zurückkommst. Wir sollten den Zettel verbrennen und heißes Wasser und Desinfektionsmittel und Verbandsmaterial bereithalten –«

»Was durchaus nützlich gewesen wäre«, sagte Rafe und zündete sich die nächste Zigarette an, »wenn wir ein Baby in Vom Winde verweht auf die Welt hätten holen müssen. Was hat er sich bloß vorgestellt? Privat-OP auf dem Küchentisch mit Abbys Handarbeitsset?«

»– und dann sind er und Justin los, dich suchen. Sofort.«

Es war eine gute Entscheidung gewesen. Daniel hatte gewusst, dass auf Abby Verlass war, dass sie die Ruhe bewahren würde. Falls einer schlappmachte, dann Rafe oder Justin. Er hatte sie getrennt, sie quasi unter Aufsicht gestellt und sich einen Plan überlegt, der sie beide beschäftigt hielt, und das alles in Sekundenschnelle. Der Bursche hatte mehr Talente, als er an der Uni brauchte.

»Ich bin nicht sicher, ob wir wirklich so schnell reagiert haben, wie wir glauben«, sagte Justin. »Gut möglich, dass wir uns fünf oder zehn Minuten nicht vom Fleck gerührt haben. An den Teil kann ich mich kaum erinnern, mein Kopf ist wie leergefegt. Das Erste, was ich wieder klar weiß, ist, dass du schon auf und davon warst, als Daniel und ich hinten am Gartentor ankamen. Wir wussten nicht, ob du ins Dorf wolltest, um Hilfe zu holen, oder irgendwo zusammengebrochen warst oder –«

»Ich bin einfach gelaufen«, sagte ich leise. »Ich erinnere mich bloß, dass ich gelaufen bin. Ich hab nicht mal gemerkt, dass ich schon die ganze Zeit geblutet hab.« Justin zuckte zusammen.

»Ich glaub, am Anfang hast du nicht geblutet«, sagte Abby sanft. »Weder auf dem Küchenboden noch auf der Terrasse war Blut.«

Sie hatten nachgesehen. Ich fragte mich, wann und ob das Daniels oder Abbys Idee gewesen war. »Das kam noch hinzu«, sagte Justin. »Dass wir nicht wussten … na ja, wie schlimm es war. Du warst so schnell weg, wir hatten keine Chance gehabt, das zu … Wir dachten – ich meine, ich dachte –, dass es nicht so schlimm sein könnte, weil du ja so schnell verschwunden warst. Es hätte ja auch bloß ein harmloser kleiner Ritz gewesen sein können.«

»Ha«, sagte Rafe und griff nach dem Aschenbecher.

»Wir wussten es nicht. Es wäre möglich gewesen. Das hab ich auch Daniel gesagt, aber der hat mir bloß einen Blick zugeworfen, der alles hätte bedeuten können. Also haben wir … Gott. Wir haben dich gesucht. Daniel meinte, zuerst müssten wir nachsehen, ob du ins Dorf gegangen bist, aber da war alles verriegelt und verrammelt und dunkel, nur in dem einen oder anderen Schlafzimmer brannte noch Licht. Offensichtlich war da keiner alarmiert worden. Also sind wir wieder zurück Richtung Haus, kreuz und quer in weiten Bögen, in der Hoffnung, dir irgendwo über den Weg zu laufen.«

Er starrte auf das Glas in seinen Händen. »Zumindest hab ich das die ganze Zeit gehofft. Ich bin einfach hinter Daniel her, immer weiter und weiter durch dieses stockfinstere Labyrinth von Feldwegen. Ich hatte keine Ahnung, wo wir waren, mein Orientierungssinn war völlig weg. Wir hatten Angst, die Taschenlampe anzumachen, und Angst, nach dir zu rufen – ich weiß nicht mal mehr, warum, es kam uns einfach zu gefährlich vor. Keine Ahnung, weshalb, vielleicht damit nicht irgendein Anwohner was mitkriegt oder du dich vor uns versteckst, schätz ich. Deshalb hat Daniel die Taschenlampe nur alle paar Minuten ganz kurz angemacht, mit der hohlen Hand drum herum, und ich hab mich rasch umgesehen, dann hat er sie wieder ausgemacht. Die übrige Zeit sind wir vorsichtig an den Hecken lang. Es war schweinekalt, wie im Winter – wir hatten nicht mal dran gedacht, uns Jacken überzuziehen. Daniel schien das nicht viel auszumachen, ihr kennt ihn ja, aber ich konnte meine Zehen nicht mehr spüren. Ich war sicher, sie würden mir erfrieren. Wir sind stundenlang rumgeirrt –«

»Seid ihr nicht«, sagte Rafe. »Glaub mir. Wir haben hier gehockt, mit einer Flasche Desinfektionsmittel und einem blutigen Messer, und konnten nichts anderes tun, als auf die Uhr starren und uns gegenseitig verrückt machen. Ihr wart höchstens fünfundvierzig Minuten weg.«

Justin zuckte die Achseln, ein angespannter Ruck. »Na, es kam mir jedenfalls wie Stunden vor. Schließlich ist Daniel wie angewurzelt stehen geblieben – ich bin direkt in ihn reingerannt, wie in einem Laurel-und-Hardy-Film –, und er hat gesagt: ›Das bringt doch nichts. So finden wir sie nie.‹ Ich hab ihn gefragt, ob er einen besseren Vorschlag hätte, aber er hat nicht geantwortet. Er stand bloß da und hat zum Himmel hochgestarrt, als würde er auf eine göttliche Eingebung warten. Es zog sich langsam zu, aber der Mond war aufgegangen, und ich konnte Daniels Profil sehen. Dann sagte er ganz normal, wie mitten in einem Gespräch beim Abendessen: ›Nehmen wir mal an, sie wollte irgendwohin, statt einfach ziellos im Dunkeln rumzuirren. Sie muss sich doch mit Ned irgendwo getroffen haben. Irgendwo, wo sie geschützt waren, weil das Wetter so wechselhaft ist. Gibt es hier irgendwo in der Nähe –‹< Und dann ist er los. Regelrecht gerannt, richtig schnell. Ich hätte nie gedacht, dass er so schnell rennen kann – ich glaub, ich hatte Daniel vorher noch nie rennen sehn, ihr etwa?«

»Neulich Abend ist er gerannt«, sagte Rafe und drückte seine Zigarette aus. »Hinter dem Steinewerfer her, dem Typen aus dem Dorf. Er ist echt schnell, wenn’s drauf ankommt.«

»Ich hatte keine Ahnung, wo er hinwollte, mein einziger Gedanke war, mich nicht von ihm abhängen zu lassen. Irgendwie hat mir die Vorstellung, da draußen ganz allein zu sein, totale Panik gemacht – ich meine, ich weiß, wir waren ein paar hundert Meter vom Haus entfernt, aber so kam es mir nicht vor. Es kam mir … « Justin schauderte. »Es kam mir gefährlich vor«, sagte er. »Als würde irgendwas vor sich gehen, um uns herum, und wir konnten es nicht sehen, aber wenn ich da ganz allein wäre … «

»Das war der Schock, Justin«, sagte Abby sanft. »Das ist normal.«

Justin schüttelte den Kopf, starrte noch immer sein Glas an. »Nein«, sagte er. »Das war irgendwie anders.« Er nahm einen hastigen, kräftigen Schluck von seinem Drink und verzog das Gesicht. »Dann hat Daniel die Taschenlampe eingeschaltet, sie rumgeschwenkt – es sah aus wie das Licht von einem Leuchtturm, ich war sicher, jeder meilenweit im Umkreis würde angelaufen kommen – und sie beim Cottage angehalten. Ich hab es nur ganz kurz gesehen, bloß eine Ecke von einer zerfallenen Mauer. Dann ist die Taschenlampe wieder ausgegangen, und Daniel ist über die Mauer auf die Wiese gehechtet. Das nasse, hohe Gras hat sich mir um die Knöchel geschlungen, ich hatte das Gefühl, kaum von der Stelle zu kommen … « Er blinzelte sein Glas an und stellte es abrupt auf das Bücherregal, so dass ein wenig von seinem Drink herausschwappte und blass orangefarben auf die Unterlagen von irgendwem spritzte. »Kann ich eine Zigarette haben?«

»Du rauchst nicht«, sagte Rafe. »Du bist hier der Brave.«

»Wenn ich diese Geschichte erzählen muss«, sagte Justin, »will ich eine Scheißzigarette haben.«

In seiner Stimme lag ein hohes, bedenkliches Zittern. »Lass den Mist, Rafe«, sagte Abby. Sie beugte sich zu Justin und reichte ihm ihre Zigarettenpackung. Als er sie nahm, ergriff sie seine Hand und drückte sie.

Justin zündete sich ungeschickt die Zigarette an, hielt sie zwischen steifen Fingern hoch, inhalierte zu stark und musste würgen. Niemand sagte etwas, während er hustete, durchatmete, sich mit einem Finger unter der Brille die Augen rieb.

»Lexie«, sagte Abby. »Können wir nicht einfach … Das Wichtigste weißt du doch jetzt. Können wir es nicht dabei belassen?«

»Ich will es hören«, sagte ich. Ich konnte kaum atmen.

»Ich auch«, sagte Rafe. »Diesen Teil hab ich auch noch nicht gehört, und ich hab so ein Gefühl, es könnte interessant werden. Bist du nicht neugierig, Abby? Oder kennst du die Geschichte schon?« Abby zuckte die Achseln.

»Also gut«, sagte Justin. Seine Augen waren fest geschlossen, und seine Kiefermuskulatur war so verkrampft, dass er kaum die Zigarette zwischen die Lippen bekam. »Ich … Moment noch.«

Er nahm noch einen Zug, würgte ein wenig, kriegte sich wieder in den Griff. »Okay«, sagte er. Er hatte seine Stimme wieder unter Kontrolle. »Wir sind also zum Cottage. Im Mondlicht konnte ich so gerade eben Konturen erkennen – die Mauern, die Türöffnung. Daniel knipste die Taschenlampe an, die andere Hand teilweise darüber gelegt, und … «

Seine Augen öffneten sich, huschten von uns weg zum Fenster. »Du saßt in einer Ecke, gegen die Wand gelehnt. Ich hab irgendwas gerufen – vielleicht deinen Namen, ich weiß nicht –, und ich wollte zu dir laufen, aber Daniel hat meinen Arm gepackt, richtig fest, es hat weh getan, und mich zurückgezogen. Er hat seinen Mund an mein Ohr gelegt und gezischt: ›Sei still‹, und dann: ›Nicht bewegen. Du bleibst hier stehen. Und rührst dich nicht.‹ Er hat meinen Arm geschüttelt – hinterher hatte ich blaue Flecken –, und dann hat er mich losgelassen und ist rüber zu dir. Er hat seine Finger an deinen Hals gelegt, so, um dir den Puls zu fühlen. Er hatte die Taschenlampe auf dich gerichtet, und du sahst … «

Justin blickte noch immer zum Fenster. »Du sahst aus wie ein schlafendes kleines Mädchen«, sagte er, und der Kummer in seiner Stimme war sanft und unaufhaltsam wie Regen. »Und dann hat Daniel gesagt: ›Sie ist tot.‹ Das haben wir gedacht, Lexie. Wir haben gedacht, du wärst gestorben.«

»Da musst du schon im Koma gewesen sein«, sagte Abby behutsam. »Die Polizei hat uns erzählt, dadurch hat sich dein Herzschlag verlangsamt, deine Atmung und alles. Wenn es nicht so kalt gewesen wäre … «

»Daniel hat sich aufgerichtet«, sagte Justin, »und hat sich die Hand vorne am Hemd abgewischt – ich weiß nicht, warum, es war kein Blut dran oder so, aber das war alles, was ich sehen konnte, wie er sich mit der Hand über die Brust rieb, immer wieder, als würde er es selbst nicht merken. Ich konnte dich nicht – ich konnte dich nicht ansehen. Ich bin zur Mauer und wollte mich daran festhalten – ich meine, ich hab hyperventiliert, ich dachte, ich falle jeden Moment in Ohnmacht –, aber er hat ganz schneidend gesagt: ›Nichts anfassen. Steck die Hände in die Taschen. Und halt die Luft an und zähl bis zehn.‹ Ich wusste nicht, was das sollte, das alles ergab für mich keinen Sinn, aber ich hab’s trotzdem getan.«

»Tun wir doch immer«, warf Rafe vielsagend ein. Abby sah rasch zu ihm hinüber.

»Nach einer Minute hat Daniel gesagt: ›Wenn sie ihren üblichen Spaziergang gemacht hätte, dann hätte sie ihre Schlüssel und ihr Portemonnaie dabei, und die Taschenlampe, die sie immer mitnimmt. Einer von uns muss nach Hause laufen und die Sachen holen. Der andere sollte hierbleiben. Es ist unwahrscheinlich, dass irgendjemand vorbeikommt, um diese Uhrzeit, aber wir wissen nicht, wie oft sie sich mit Ned getroffen hat, und wenn doch zufällig jemand vorbeikommt, müssen wir das wissen. Was von beidem ist dir lieber?‹«

Justin machte zögerlich den Versuch, eine Hand nach mir auszustrecken, nahm sie wieder zurück und schloss sie fest um den anderen Ellbogen. »Ich hab gesagt, ich könnte nicht dableiben. Es tut mir leid, Lexie. Es tut mir so leid. Ich hätte mich nicht so … ich meine, das warst schließlich du, das warst immer noch du, auch wenn du … Aber ich konnte nicht. Ich – ich hab am ganzen Körper gezittert, ich glaube, ich hab auf ihn eingebrabbelt … Schließlich hat er gesagt – und er wirkte nicht mal mehr aufgewühlt, kein bisschen, bloß ungeduldig –, er hat gesagt: ›Herrgott nochmal, halt die Klappe. Ich bleib hier. Lauf so schnell du kannst nach Hause. Zieh Handschuhe an und hol Lexies Schlüssel, ihr Portemonnaie und ihre Taschenlampe. Erzähl den anderen, was passiert ist. Sie wollen bestimmt mit dir herkommen. Das musst du verhindern, egal wie. Es reicht, dass wir zwei hier überall rumtrampeln, und überhaupt, es ist besser, sie ersparen sich diesen Anblick. Komm sofort wieder her. Nimm die Taschenlampe mit, aber mach sie nur an, wenn es wirklich nötig ist, und sei möglichst leise. Kannst du dir das alles merken?‹«

Er zog fest an seiner Zigarette. »Ich hab ja gesagt – ich hätte auch ja gesagt, wenn er gefragt hätte, ob ich nach Hause fliegen könnte, Hauptsache, ich kam da weg. Ich musste alles noch einmal wiederholen. Dann hat er sich auf die Erde gesetzt, neben dich – nicht zu nahe, um … na ja, kein Blut an seine Hose zu kriegen, schätze ich. Und dann hat er zu mir hochgesehen und gesagt: ›Was ist? Na los. Beeil dich.‹

Ich bin also nach Hause. Es war fürchterlich. Es hat ewig gedauert – na ja, wenn Rafe recht hat, dann kann es gar nicht so lang gedauert haben. Ich weiß nicht. Ich hab mich verlaufen. An manchen Stellen war ich sicher, dass ich das Licht vom Haus sehen müsste, aber es war alles nur schwarz, meilenweit. Irgendwann wusste ich, hundertprozentig, dass das Haus gar nicht mehr da war. Es gab nur noch endlose Hecken und Feldwege, ein einziger riesiger Irrgarten, und ich würde nie mehr herausfinden, es würde nie wieder Tag werden. Ich hatte panische Angst. Als ich endlich das Haus sah – nur ein schwacher Schimmer über den Büschen –, hätte ich vor lauter Erleichterung fast geschrien. Dann weiß ich nur noch, wie ich durch die Hintertür rein bin –«

»Er sah aus wie die Gestalt in Der Schrei«, sagte Rafe, »nur verdreckter. Und er redete absolut wirres Zeug, die Hälfte von dem, was aus seinem Mund kam, war unverständlich, als würde er in Zungen reden. Wir haben bloß kapiert, dass er zurückmusste und dass Daniel gesagt hatte, wir sollten bleiben, wo wir waren. Ich persönlich hab gedacht, von wegen, ich will wissen, was los ist, aber als ich mir meinen Mantel anziehen wollte, haben Justin und Abby so einen Aufstand gemacht, dass ich es bleibenließ.«

»Und das war auch gut so«, sagte Abby kühl. Sie arbeitete wieder an der Puppe, die Haare fielen ihr ins Gesicht, versteckten es, und selbst von der anderen Seite des Raumes konnte ich sehen, dass ihre Stiche groß und schlampig und nutzlos waren. »Was hättest du auch großartig machen können, wenn du mitgegangen wärst?«

Rafe zuckte die Achseln. »Das werden wir nie wissen, nicht? Ich kenne das Cottage. Wenn Justin gesagt hätte, wo er hinwill, hätte ich an seiner Stelle gehen können, und er hätte hierbleiben und sich beruhigen können. Aber das hatte Daniel offenbar nicht im Sinn.«

»Er wird seine Gründe gehabt haben.«

»Oh, ganz sicher«, sagte Rafe. »Davon bin ich überzeugt. Justin hat also ein bisschen rumgezetert, ein paar Sachen geschnappt, noch ein bisschen gestammelt, und schon war er wieder weg.«

»Ich kann mich nicht erinnern, wie ich zurück zum Cottage gekommen bin«, sagte Justin. »Hinterher war ich jedenfalls verdreckt bis zu den Knien, vielleicht bin ich gestürzt, ich weiß es nicht, und meine Hände waren übersät mit Kratzern. Wahrscheinlich hab ich mich an den Hecken festgehalten, um auf den Beinen zu bleiben. Daniel saß noch immer neben dir, als hätte er sich nicht bewegt, seit ich losgegangen war. Er sah zu mir hoch – auf seiner Brille war Regen –, und weißt du, was er gesagt hat? Er hat gesagt: ›Der Regen kommt uns ganz recht. Falls er anhält, ist von Blut oder Fußspuren nichts mehr übrig, wenn die Polizei hier auftaucht.‹«

Rafe bewegte sich, eine jähe und unruhige Gewichtsverlagerung, die die Sofafedern ächzen ließ.

»Ich hab bloß dagestanden und ihn angestarrt. Ich hatte nur ›Polizei‹ gehört, und mir war ehrlich schleierhaft, was die Polizei mit der Sache zu tun haben sollte, aber es hat mir trotzdem eine Heidenangst eingejagt. Er hat mich von oben bis unten gemustert und dann gesagt: ›Du trägst keine Handschuhe. ‹«

»Wo Lexie direkt neben ihm saß«, sagte Rafe zu niemand Bestimmtem. »Wie reizend.«

»Ich hatte die Handschuhe völlig vergessen. Ich meine, ich war … na, das könnt ihr euch ja inzwischen vorstellen. Daniel hat geseufzt und ist aufgestanden – er hatte es nicht mal besonders eilig – und hat seine Brille mit einem Taschentuch geputzt. Dann hat er mir das Taschentuch hingehalten, und ich wollte es nehmen, weil ich dachte, ich sollte mir auch die Brille putzen, aber er hat es weggerissen und ziemlich gereizt gesagt: ›Schlüssel?‹ Ich hab sie ihm gegeben, und er hat sie abgewischt. Und da ist mir endlich aufgegangen, wozu er das Taschentuch brauchte. Dann hat er … « Justin bewegte sich in seinem Sessel, als würde er nach irgendetwas suchen, wüsste aber nicht mehr genau, nach was. »Kannst du dich wirklich an nichts mehr davon erinnern?«

»Ich weiß nicht«, sagte ich und zuckte heftig mit den Schultern. Ich sah ihn noch immer nicht richtig an, nur aus den Augenwinkeln, und das machte ihn nervös. »Wenn ja, würde ich dich ja wohl nicht fragen, oder?«

»Okay. Okay.« Justin schob seine Brille höher auf die Nase. »Also. Daniel hat … Du hattest die Hände irgendwie im Schoß liegen, und sie waren voller … Jedenfalls, er hat einen Arm von dir am Ärmel angehoben, damit er die Schlüssel in deine Jackentasche stecken konnte. Dann hat er losgelassen, und dein Arm ist einfach runtergefallen, Lexie, wie bei einer Stoffpuppe, und hat so ein schreckliches dumpfes Geräusch gemacht … Danach konnte ich nicht mehr hinsehen, es ging nicht mehr. Ich hab die Taschenlampe weiter auf – auf dich gerichtet, damit er was sehen konnte, aber ich hab den Kopf weggedreht und auf das Feld geguckt. Ich hab gehofft, dass Daniel vielleicht denkt, ich würde aufpassen, ob jemand kommt. Er hat gesagt: ›Portemonnaie‹, und dann: ›Taschenlampe‹, und ich hab ihm beides gegeben, aber ich weiß nicht, was er damit gemacht hat. Ich hab bloß so raschelnde Laute gehört, aber ich hab versucht, es mir nicht vorzustellen … «

Er sog tief und bebend die Luft ein. »Es hat ewig gedauert. Der Wind wurde stärker, und überall waren Geräusche. Ich weiß nicht, wie du das aushältst, da mitten in der Nacht rumzuspazieren. Es regnete inzwischen stärker, aber immer nur stoßweise, riesige Wolken fegten über den Himmel, und jedes Mal, wenn der Mond hervorkam, sah das ganze Feld lebendig aus. Vielleicht kam es wirklich von dem Schock, wie Abby meint, aber ich glaube … ich weiß nicht. Vielleicht gibt es ja Orte, die einfach nicht richtig sind. Die nicht gut für einen sind. Für die Psyche.«

Er starrte jetzt irgendwohin mitten im Raum, die Augen blicklos, während er sich erinnerte. Ich musste an das leise Prickeln in meinem Nacken denken, und ich fragte mich, wie oft John Naylor mir wirklich gefolgt war.

»Schließlich hat Daniel sich aufgerichtet und gesagt: ›Das müsste reichen. Gehen wir.‹ Also hab ich wieder nach vorn geschaut und … « Justin schluckte. »Ich hatte die Taschenlampe noch auf dich gerichtet. Dein Kopf war irgendwie auf die Schulter gesunken, und es regnete auf dich drauf, du hattest Regen im Gesicht, und es sah aus, als würdest du im Schlaf weinen, als hättest du was Schlimmes geträumt … Ich konnte – Gott. Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, dich da einfach so sitzen zu lassen. Ich wäre am liebsten bei dir geblieben, bis es hell wurde, oder wenigstens bis der Regen aufhörte, aber als ich das Daniel gesagt hab, hat er mich angeguckt, als hätte ich sie nicht alle. Da hab ich gesagt, das Allermindeste, was wir tun müssten, wäre doch wohl, dich aus dem Regen rauszuschaffen. Zuerst wollte er das auch nicht, aber als er einsah, dass ich mich ansonsten nicht von der Stelle rühren würde und er mich schon im wahrsten Sinne des Wortes nach Hause schleifen müsste, gab er nach. Er war fuchsteufelswild – ich würde uns noch alle in den Knast bringen und so weiter –, aber es war mir egal. Also haben wir … «

Justins Wangen glänzten nass, aber er merkte es anscheinend nicht. »Du warst so schwer«, sagte er. »Dabei bist du doch so schmächtig, ich hab dich schon x-mal hochgehoben. Aber es war, als würden wir einen großen nassen Sandsack schleppen. Und du warst so kalt und so … dein Gesicht kam mir völlig anders vor, wie bei der Puppe da. Ich konnte gar nicht glauben, dass du das wirklich warst.

Wir haben dich in den Raum mit dem Dach getragen, und ich hab versucht – ich wollte, dass dir nicht mehr so … Es war so kalt. Ich wollte meinen Pullover über dich legen, aber ich wusste, dann würde Daniel irgendwas machen, mich schlagen, keine Ahnung. Er war dabei, alles mit seinem Taschentuch abzuwischen, sogar dein Gesicht, wo ich dich angefasst hatte, und deinen Hals, wo er dir den Puls … Er hat einen Ast von einem der Sträucher an der Tür abgebrochen und damit den ganzen Boden gefegt. Fußabdrücke, schätze ich. Er sah … Gott! Er sah grotesk aus. Wie er da rückwärts durch diesen grauenvollen Raum ging, über den Ast gebeugt, und gefegt hat. Die Taschenlampe leuchtete ihm durch die Finger, und so riesige Schatten schwankten über die Wände … «

Er wischte sich übers Gesicht, starrte nach unten auf seine Fingerspitzen. »Ich hab ein Gebet für dich gesprochen, bevor wir gingen. Ich weiß, das ist nicht viel, aber … « Sein Gesicht war wieder nass. »Möge ihr das ewige Licht leuchten«, sagte er.

»Justin«, sagte Abby sachte. »Sie ist doch hier.«

Justin schüttelte den Kopf. »Dann«, sagte er, »sind wir zurück nach Hause.«

Nach einem Augenblick ließ Rafe sein Feuerzeug schnippen, fest, und wir fuhren alle drei zusammen. »Sie tauchten auf der Terrasse auf«, sagte er, »und sahen aus wie aus Die Nacht der lebenden Toten

»Wir beide haben sie praktisch angeschrien, wollten endlich wissen, was passiert war«, sagte Abby, »aber Daniel hat bloß an uns vorbeigestarrt, mit so einem schrecklichen, glasigen Blick, ich glaube, er hat uns gar nicht richtig gesehen. Er hat einen Arm ausgestreckt, um Justin daran zu hindern, ins Haus zu gehen, und hat gesagt: ›Hat einer von euch noch schmutzige Wäsche?‹«

»Wir hatten nicht den blassesten Schimmer, wovon er redete«, sagte Rafe. »Es war wirklich kein passender Moment, sich kryptisch auszudrücken. Ich wollte ihn packen, ihn schütteln, damit er mit der Sprache rausrückte, was zum Teufel passiert war, aber er ist zurückgewichen und hat mich angeblafft: ›Fass mich nicht an.‹ So, wie das rauskam – ich wäre fast hinten rübergekippt. Er hat mich nicht angeschrien oder so, er hat eher geflüstert, aber sein Gesicht … er sah gar nicht mehr aus wie Daniel, er sah nicht mal mehr menschlich aus. Er hat mich regelrecht angeknurrt

»Er war voller Blut«, sagte Abby unverblümt, »und er wollte nicht, dass du was abkriegst. Und er war traumatisiert. Wir beide hatten es in der Nacht leicht, Rafe. Doch« – als Rafe schnaubte –, »hatten wir. Wärst du gern im Cottage dabei gewesen?«

»Wäre vielleicht keine schlechte Idee gewesen.«

»Nie im Leben«, sagte Justin leicht aggressiv. »Glaub mir. Abby hat recht: Ihr hattet es leicht.« Rafe zuckte übertrieben mit den Schultern.

»Jedenfalls«, sagte Abby, nach einem angespannten Moment. »Daniel hat tief Luft geholt und sich mit der Hand über die Stirn gestrichen und gesagt: ›Abby, hol uns beiden bitte eine komplette Montur Klamotten zum Wechseln und ein Handtuch. Rafe, hol mir einen Plastikbeutel, einen großen. Justin, zieh dich aus.« Er war schon dabei, sich das Hemd aufzuknöpfen –«

»Als ich mit dem Beutel wiederkam, standen er und Justin in Unterhose auf der Terrasse«, sagte Rafe und wischte sich Asche vom Hemd. »Kein schöner Anblick.«

»Mir war eiskalt«, sagte Justin. Er klang deutlich besser, jetzt, wo der schlimmste Teil vorbei war: zittrig, ausgelaugt, erlöst. »Wir hatten peitschenden Regen und hundert Grad unter null, der Wind war wie Eis, und wir standen in der Unterwäsche auf der Terrasse. Ich hatte keine Ahnung, wieso, mein Kopf war wie betäubt, und ich hab einfach getan, was man mir sagte. Daniel hat unsere Klamotten in den Beutel gestopft und irgendwas gesagt wie, ein Glück, dass wir keine Mäntel anhatten. Ich wollte meine Schuhe reintun, wollte ihm helfen, aber er hat gesagt: ›Nein, lass die hier. Um die kümmere ich mich später.‹ Kurz darauf kam Abby mit den Handtüchern und den Klamotten, und wir haben uns abgetrocknet und angezogen.«

»Ich hab noch mal gefragt, was passiert ist«, sagte Rafe, »diesmal aus sicherer Entfernung. Justin hat mich nur angestarrt, wie ein Reh im Scheinwerferlicht, und Daniel hat mich keines Blickes gewürdigt. Er hat bloß sein Hemd in die Hose gestopft und gesagt: ›Rafe, Abby, holt bitte eure schmutzige Wäsche. Wenn ihr keine schmutzigen Sachen habt, saubere tun’s auch.‹ Dann hat er den Beutel genommen und ist in die Küche marschiert, barfuß, und Justin ist wie ein junges Hündchen hinter ihm hergetappt. Ich weiß nicht, wieso, jedenfalls bin ich tatsächlich los und hab meine Schmutzwäsche geholt.«

»Er hatte recht«, sagte Abby. »Für den Fall, dass die Polizei hier aufgekreuzt wäre, ehe wir die Wäsche fertig gehabt hätten, musste es so aussehen wie eine ganz normale Ladung Wäsche, nicht wie ein Versuch, Spuren zu beseitigen.«

Rafe hob eine Schulter. »Wie auch immer. Daniel hat die Waschmaschine angemacht und ist stirnrunzelnd davor stehen geblieben, wie vor einem mysteriösen Objekt. Wir waren alle in der Küche, standen herum wie die Ölgötzen, warteten auf Gott weiß was, keine Ahnung, dass Daniel irgendwas sagt, schätze ich, obwohl –«

»Ich hab bloß noch das Messer gesehen«, sagte Justin leise. »Rafe und Abby hatten es einfach da liegen lassen, auf dem Küchenboden.«

Rafe schlug die Augen zur Decke und nickte Richtung Abby. »Ja«, sagte sie, »das war ich. Ich hab gedacht, wir rühren besser nichts an, nicht, solange die anderen weg waren und wir uns noch keinen Plan überlegt hatten.«

»Denn natürlich«, sagte Rafe ironisch zu mir, »würde es einen Plan geben. Bei Daniel gibt es schließlich immer einen Plan. Und Pläne sind doch auch was Schönes, oder?«

»Abby hat uns angebrüllt«, sagte Justin. »Sie hat geschrien: ›Wo zum Teufel ist Lexie?‹ Direkt in mein Ohr. Ich wär fast ohnmächtig geworden.«

»Daniel hat sich umgedreht und uns angestarrt«, sagte Rafe, »als hätte er keine Ahnung, wer wir sind. Justin wollte was sagen, aber es kam nur so ein würgendes Geräusch, und Daniel ist furchtbar zusammengezuckt und hat ihn angeblinzelt. Dann hat er gesagt: ›Lexie ist in dem verfallenen Cottage, das sie so mag. Sie ist tot. Ich dachte, Justin hätte es euch gesagt.‹ Und er hat angefangen, sich die Socken anzuziehen.«

»Justin hatte es uns gesagt«, sagte Abby leise, »aber ich glaub, wir haben gehofft, er hätte es falsch verstanden, irgendwie … «

Stille trat ein. Die Wanduhr oben im Flur tickte, langsam und schwer. Irgendwo hatte Daniel seinen Fuß auf dem Gaspedal, und ich meinte, ihn da draußen spüren zu können, wie er mit jeder Sekunde näher kam, das schwindelerregende Tempo der Straße unter seinen Reifen.

»Und dann?«, fragte ich. »Seid ihr einfach ins Bett gegangen?«

Sie blickten einander an. Justin fing an zu lachen, ein heller, hilfloser Klang, und einen Augenblick später fielen die anderen mit ein.

»Was ist?«, sagte ich.

»Ich weiß nicht, worüber wir lachen«, sagte Abby, wischte sich die Augen und versuchte, sich wieder zu beruhigen und ernst auszusehen, mit der Folge, dass sie alle erneut losprusteten. »Oh Mann … Es war nicht komisch, absolut nicht. Es war bloß … «

»Du wirst es nicht glauben«, sagte Rafe. »Wir haben Poker gespielt.«

»Ja, stimmt. Wir haben an dem Tisch gesessen –«

»– und jedes Mal fast einen Herzinfarkt gekriegt, wenn der Regen gegen das Fenster klatschte.«

»Justin haben die ganze Zeit die Zähne geklappert, ich hatte das Gefühl, neben mir sitzt einer mit Rumba-Rasseln.«

»Und als die Tür vom Wind geklappert hat? Und Daniel mit seinem Stuhl umgekippt ist?«

»Musst du gerade sagen. Ich konnte fast die ganze Zeit sehen, was für Karten du auf der Hand hattest. Ich hätte dir jeden Penny abnehmen können.«

Sie redeten übereinander hinweg, plapperten wie eine Schar Teenager, die nach einer wichtigen Klausur aus dem Klassenzimmer stürmen, albern vor Erleichterung. »Oh Mann«, sagte Justin, schloss die Augen und drückte sich das Glas an die Schläfe. »Was für ein beknacktes Kartenspiel. Mir klappt immer noch die Kinnlade runter, wenn ich nur dran denke. Daniel hat dauernd gesagt: ›Das einzige verlässliche Alibi ist ein tatsächlicher Ablauf von Ereignissen.‹«

»Wir anderen konnten kaum in ganzen Sätzen reden«, sagte Rafe, »und er schwadroniert philosophisch über die Kunst des Alibis. Ich hätte nicht mal ›verlässliches Alibi‹ sagen können.«

»– er hat uns sogar dazu gebracht, die Uhren zurück auf elf zu stellen, auf die Zeit, kurz bevor der ganze Horror losging, und wieder in die Küche zu gehen und den Abwasch zu Ende zu machen, und dann hat er darauf bestanden, dass wir hier im Wohnzimmer Karten spielen. Als wäre nichts passiert.«

»Er hat für dich mitgespielt«, sagte Abby. »Als du einmal ein ganz anständiges Blatt hattest und er noch ein besseres, hat er dich hoch pokern lassen und dann abserviert. Es war unglaublich.«

»Und er hat einen laufenden Kommentar gesprochen«, sagte Rafe. Er langte nach der Wodkaflasche und schenkte sich nach. In dem diesigen Nachmittagslicht, das durch die Fenster hereinfiel, sah er schön und verrucht aus, offener Hemdkragen und goldene Haarsträhnen, die ihm in die Augen fielen, wie ein Dandy, der die ganze Nacht durchgefeiert hat. »›Lexie erhöht, Lexie steigt aus, Lexie würde jetzt wieder ein Glas Wein brauchen, könnte ihr bitte jemand die Flasche rüberreichen … ‹< Er kam mir vor wie ein Spinner, der neben einem auf der Parkbank sitzt und seinen imaginären Freund mit Stückchen von seinem Sandwich füttert. Nachdem er dich aus der Partie geschmissen hatte, mussten wir so eine kleine Szene durchspielen, in der du zu deinem Spaziergang aufgebrochen bist und wir zum Abschied ins Nichts gewunken haben … Ich hab gedacht, wir verlieren komplett den Verstand. Ich weiß noch, ich hab da auf dem Stuhl gesessen und höflich tschüs Richtung Tür gesagt und ganz klar und ruhig gedacht: So fühlt sich also Wahnsinn an

»Da war es bestimmt schon drei Uhr morgens«, sagte Justin, »aber Daniel wollte uns nicht ins Bett gehen lassen. Wir mussten weiter Texas Hold’em spielen, bis zum bitteren Ende. Daniel hat natürlich gewonnen, er konnte sich als Einziger von uns konzentrieren, aber er hat eine Ewigkeit gebraucht, uns plattzumachen. Ehrlich, ich hab hundsmiserabel gespielt, bin mit einem Flush auf der Hand ausgestiegen und hab mit einem Ten-High erhöht und so weiter. Ich hab vor Erschöpfung doppelt gesehen, und das Ganze kam mir vor wie ein grässlicher Alptraum, und ich hab ständig gedacht, ich muss aufwachen. Wir haben die Klamotten zum Trocknen vor den Kamin gehängt, und der Raum hätte eine Kulisse von Nebel des Grauens sein können, die dampfenden Klamotten und das knisternde Feuer und wir, die wir alle Daniels furchtbare Filterlose gequalmt haben.«

»Er wollte mich nicht gehen lassen, um normale zu holen«, sagte Abby. »Er meinte, wir müssten alle zusammenbleiben, und außerdem wäre dann auf den Aufnahmen von den Überwachungskameras an der Tankstelle zu sehen, wie spät ich da gewesen war, und das würde alles ruinieren … Er war wie ein General.« Rafe schnaubte. »Doch, war er. Wir anderen konnten kaum unsere Karten halten, so gezittert haben wir.«

»Justin musste sich zwischendurch mal übergeben«, sagte Rafe, eine Zigarette im Mund, und wedelte das Streichholz aus. »In die Küchenspüle, pikanterweise.«

»Ich konnte es nicht verhindern«, sagte Justin. »Ich musste immerzu daran denken, wie du dalagst, im Dunkeln, mutterseelenallein –« Er streckte eine Hand aus und drückte mir den Arm. Ich legte kurz meine Hand auf seine, und sie fühlte sich kühl und knochig an und zitterte heftig.

»Wir alle mussten immerzu daran denken«, sagte Abby, »aber Daniel … ich hab ihm angesehen, wie viel ihn das gekostet hat – sein Gesicht war ganz eingefallen, als wäre er seit dem Abendessen abgemagert, und seine Augen sahen irgendwie falsch aus, ganz groß und schwarz –, aber er war so ruhig, als wäre nichts passiert. Justin hat angefangen, die Spüle sauberzumachen –«

»Dabei musste er immer noch würgen«, sagte Rafe. »Ich hab’s gehört. Ich glaub, von uns fünf hattest du den nettesten Abend, Lexie.«

»– aber Daniel hat gesagt, er soll das mit der Spüle bleibenlassen. Er meinte, das würde den ganzen Zeitablauf in unseren Köpfen durcheinanderbringen.«

»Anscheinend«, klärte Rafe mich auf, »ist das Wesentliche des Alibis seine Einfachheit. Je weniger Schritte man auslassen oder erfinden muss, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, einen Fehler zu machen. Er hat immer wieder gesagt: ›Wie die Dinge liegen, müssen wir uns bloß merken, dass wir gleich nach dem Spülen Karten gespielt haben, alles dazwischen müssen wir aus unseren Köpfen tilgen. Es ist nie passiert.‹ Mit anderen Worten, komm wieder rein und spiel weiter, Justin. Der arme Kerl war grün

Daniel hatte recht gehabt, was das Alibi anging. Er war gut darin, zu gut. In diesem Moment musste ich an meine Wohnung denken, daran, wie Sam in sein Notizbuch schrieb und die Luft draußen vor dem Fenster sich dunkelblau trübte und ich ein Profil des Täters erstellte: jemand mit krimineller Erfahrung.

Sam hatte alle Bewohner von Whitethorn House durch den Computer jagen lassen, aber der hatte lediglich ein paar Strafzettel wegen überhöhter Geschwindigkeit ausgespuckt. Ich hatte keine Ahnung, was für Überprüfungen Frank in seiner heimlichen, komplizierten, inoffiziellen Welt angestellt hatte, wie viel er herausgefunden und für sich behalten hatte und wie viel selbst ihm entgangen war. Wer unter all den Anwärtern der beste Geheimnisbewahrer war.

»Er wollte uns nicht mal das Messer aufheben lassen«, sagte Justin. »Es lag die ganze Zeit da, während wir Karten gespielt haben. Ich saß mit dem Rücken zur Küche, und ich schwöre, ich konnte es hinter mir spüren, wie in einer Geschichte von Poe. Rafe saß mir gegenüber, und er hat ständig gezuckt und geblinzelt, wie bei einem nervösen Tick –«

Rafe verzog ungläubig das Gesicht. »Stimmt gar nicht.«

»Doch. Und wie du gezuckt hast, exakt jede Minute. Es wirkte jedes Mal so, als hättest du hinter mir irgendwas Beängstigendes gesehen, und ich hab mich nicht getraut, mich umzudrehen, aus Angst, das Messer würde in der Luft hängen und glühen oder pulsieren oder was weiß ich –«

»Ach du lieber Himmel. Lady Macbeth lässt grüßen –«

»Mein Gott«, sagte ich plötzlich. »Das Messer. Ist es noch – ich meine, haben wir damit gegessen … « Ich deutete mit einer Handbewegung vage Richtung Küche, schob mir dann einen Fingerknöchel zwischen die Zähne und biss zu. Es war nicht gespielt. Der Gedanke, dass jede Mahlzeit, die ich hier gegessen hatte, mit unsichtbaren Spuren von Lexies Blut durchzogen war, schlug langsame Purzelbäume in meinem Kopf.

»Nein«, sagte Abby rasch. »Um Gottes willen, nein. Daniel hat es verschwinden lassen. Nachdem wir alle ins Bett gegangen waren, oder jedenfalls in unsere Zimmer –«

»Gute Nacht, Mary Ellen«, sagte Rafe. »Gute Nacht, Jim Bob. Schlaft schön. Meine Fresse.«

»– ist er gleich wieder nach unten. Ich hab ihn auf der Treppe gehört. Ich hab gar nicht gewusst, was er da unten gemacht hat, aber am nächsten Morgen gingen die Uhren wieder richtig, die Spüle war blitzblank, der Küchenboden sauber – er sah aus, als wäre er geschrubbt worden, der ganze Boden, nicht bloß die eine Stelle. Die Schuhe, die von Daniel und Justin, die sie auf der Terrasse gelassen hatten, standen im Garderobenschrank, und sie waren auch sauber. Nicht pieksauber, bloß so, wie wenn wir sie normalerweise putzen, und trocken, als hätte er sie vor den Kamin gestellt. Die Anziehsachen waren alle gebügelt und gefaltet, und das Messer war weg.«

»Was war es für eins?«, fragte ich ein bisschen zittrig, noch immer mit dem Finger zwischen den Zähnen.

»Bloß eins von diesen schäbigen alten Steakmessern mit Holzgriff«, sagte Abby sanft. »Schon gut, Lex. Es ist weg.«

»Ich will nicht, dass es im Haus ist.«

»Ich weiß. Ich auch nicht. Aber ich bin ziemlich sicher, dass Daniel es entsorgt hat. Nicht hundertprozentig sicher, aber ich hab die Haustür gehört, daher schätz ich, er hat es rausgebracht.«

»Wohin? Er hat’s doch hoffentlich nicht im Garten vergraben! Ich will es ganz weit weg haben.« Meine Stimme zitterte jetzt stärker. Frank, der irgendwo lauschte und Gut, weiter so, Mädchen flüsterte.

Abby schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht genau. Er war ein paar Minuten weg, und ich glaube nicht, dass er es auf dem Grundstück vergraben hat, aber wenn du willst, frag ich ihn. Ich kann ihm sagen, wenn es noch hier irgendwo in der Nähe ist, soll er es weiter wegbringen.«

Ich hob eine Schulter. »Von mir aus. Ja, sag ihm das.«

»Ich hab gar nicht gehört, dass er nach unten gegangen ist«, sagte Justin. »Ich … oh Mann. Ich will nicht mal mehr dran denken. Ich hab auf der Kante von meinem Bett gehockt, Licht aus, und mich hin- und hergewiegt. Das ganze Pokerspiel hindurch hatte ich nur weggewollt, ich hätte schreien können, so dringend wollte ich weg, nur noch allein sein, aber als ich dann allein war, fand ich das noch schlimmer. Das Haus hat ständig geächzt und geknarrt, durch den Wind und Regen, aber ich schwöre, es hat sich genauso angehört, als wärst du oben dabei, dich bettfertig zu machen. Einmal« – er schluckte mit verkrampften Kiefermuskeln –, »einmal hab ich dich sogar summen gehört. ›Black Velvet Band‹, ausgerechnet. Ich wollte schon – wenn ich aus meinem Fenster schaue, kann ich sehen, ob bei dir Licht brennt, es scheint auf den Rasen, und ich wollte schon nachsehen, nur um mich zu beruhigen, Gott, natürlich nicht beruhigen, du weißt schon, was ich meine –, aber ich konnte nicht. Ich konnte mich nicht dazu durchringen aufzustehen. Ich war absolut sicher, wenn ich den Vorhang aufziehen würde, würde ich dein Licht auf dem Gras sehen. Und was dann? Was hätte ich dann tun können?« Er zitterte.

»Justin«, sagte Abby sanft. »Ist ja gut.«

Justin presste sich fest die Finger auf den Mund und holte tief Luft. »Na ja«, sagte er. »Jedenfalls, Daniel hätte die Treppe rauf- und runterdonnern können, ich hätte nichts gehört.«

»Ich hab ihn gehört«, sagte Rafe. »Ich glaube, ich hab in der Nacht alles im Umkreis von einer Meile gehört. Noch beim kleinsten Geräusch irgendwo ganz hinten im Garten bin ich vor Schreck zusammengefahren. Das Schöne an krimineller Aktivität ist, dass man dadurch ein Gehör kriegt wie eine Fledermaus.« Er schüttelte seine Zigarettenpackung, warf sie in den Kamin – Justin öffnete automatisch den Mund und schloss ihn dann wieder – und nahm sich die von Abby vom Tisch. »Manches davon war ein interessantes Hörerlebnis.«

Abbys Augenbrauen gingen hoch. Sie steckte ihre Nadel behutsam in einen Saum, legte die Puppe hin und bedachte Rafe mit einem langen, kühlen Blick. »Willst du wirklich davon anfangen?«, fragte sie. »Weil, ich kann dich nicht dran hindern, aber an deiner Stelle würde ich mir sehr gründlich überlegen, ob ich diese besondere Büchse der Pandora öffne.«

Ein langes, elektrisiertes Schweigen folgte. Abby faltete die Hände im Schoß und betrachtete Rafe ruhig.

»Ich war betrunken«, sagte Rafe jäh und heftig in die Stille hinein. »Stinkbesoffen.«

Nach einer Sekunde sagte Justin mit Blick auf den Couchtisch: »So betrunken warst du nun auch wieder nicht.«

»Doch. Ich war hackevoll. Ich glaube, ich war im ganzen Leben noch nicht so betrunken.«

»Nein, das stimmt nicht. Wenn du so betrunken gewesen wärst –«

»Wir hatten alle fast die ganze Nacht ganz schön getrunken«, fiel Abby ihm mit ruhiger Stimme ins Wort. »Verständlicherweise. Es hat aber nichts geholfen. Ich glaub, keiner von uns hat viel geschlafen. Der nächste Morgen war der reinste Alptraum. Wir waren so durcheinander und fix und fertig und verkatert, dass uns richtig schwindelig war, wir konnten keinen klaren Gedanken fassen, konnten nicht mal klar sehen. Wir konnten uns nicht einigen, ob wir die Polizei anrufen und dich als vermisst melden sollten oder was. Rafe und Justin wollten das machen –«

»– anstatt dich in dieser rattenverseuchten Bruchbude liegen zu lassen, bis irgendein Bauer aus der Gegend zufällig über dich stolpert«, sagte Rafe und schüttelte dabei Abbys Feuerzeug. »Ich weiß, ich weiß, verrückter Gedanke.«

»– aber Daniel meinte, das würde einen komischen Eindruck machen, du wärst schließlich alt genug, frühmorgens einen Spaziergang zu machen oder auch mal einen Tag die Uni blauzumachen. Er hat dein Handy angerufen – es lag natürlich in der Küche, direkt vor unserer Nase, aber er meinte, es wäre gut, wenn ein Anruf drauf wäre.«

»Er hat darauf bestanden, dass wir frühstücken«, sagte Justin.

»Und diesmal hat Justin es sogar bis zum Klo geschafft«, sagte Rafe.

»Wir haben uns die ganze Zeit gestritten«, sagte Abby. Sie hatte wieder die Puppe zur Hand genommen und angefangen, ihr systematisch, unbewusst das Haar zu flechten, immer wieder. »Ob wir frühstücken sollten, ob wir die Polizei anrufen sollten, ob wir ganz normal zur Uni fahren oder lieber auf dich warten sollten – ich meine, das Nächstliegende wäre gewesen, wenn Daniel oder Justin auf dich gewartet hätten und wir anderen zur Uni gefahren wären, aber das konnten wir nicht. Der Gedanke, uns aufzuteilen … Wir waren drauf und dran, uns gegenseitig an die Gurgel zu gehen – Rafe und ich haben uns angebrüllt, richtig angebrüllt –, aber sobald der Vorschlag kam, wir sollten was getrennt machen, habe ich buchstäblich weiche Knie gekriegt.«

»Weißt du, was ich gedacht hab?«, sagte Justin fast flüsternd. »Ich hab am Fenster gestanden, während ihr drei euch gezofft habt, und rausgeschaut und darauf gewartet, dass die Polizei oder sonst wer kommt, und da ist mir klargeworden: Es könnte Tage dauern. Es könnte Wochen dauern. Die Warterei könnte Wochen so weitergehen. Lexie könnte Gott weiß wie lange da liegen … Ich wusste, dass ich nicht mal den einen Tag an der Uni durchstehen würde, völlig ausgeschlossen, geschweige denn Wochen. Und ich hab gedacht, eigentlich sollten wir jetzt aufhören zu streiten und eine Bettdecke holen und uns drunterlegen, alle vier zusammen, und das Gas aufdrehen. Genau das wollte ich machen.«

»Wir haben nicht mal Gas«, fauchte Rafe. »Sei nicht so verdammt melodramatisch.«

»Ich glaube, das ging uns allen durch den Kopf – was wir machen würden, wenn du nicht schnell gefunden würdest –, aber keiner wollte es ansprechen«, sagte Abby. »Deshalb war es im Grund eine Riesenerleichterung, als die Polizei kam. Justin hat sie als Erster gesehen, durchs Fenster. Er hat gesagt: ›Da kommt wer‹, und wir sind alle erstarrt, mitten in unserer Anbrüllerei. Rafe und ich wollten zum Fenster, aber Daniel hat gesagt: ›Alle hinsetzen. Los.‹ Also haben wir uns alle an den Küchentisch gesetzt, als wären wir gerade mit dem Frühstück fertig, und haben gewartet, dass es an der Tür klingelt.«

»Daniel hat aufgemacht«, sagte Rafe, »klaro. Er war eiskalt. Ich konnte ihn in der Diele hören: Ja, Alexandra Madison wohnt hier, und nein, wir haben sie seit gestern Abend nicht mehr gesehen, und nein, es hat keinen Streit gegeben, und nein, wir machen uns keine Sorgen um sie, wir wissen bloß nicht, ob sie heute zur Uni kommt, und was ist denn los, Officers, und dann dieser besorgte Ton, der sich allmählich in seine Stimme schlich … Er war perfekt. Es war absolut beängstigend.«

Abbys Augenbrauen hoben sich. »Wär’s dir lieber gewesen, er hätte herumgestammelt?«, fragte sie. »Was meinst du, was passiert wäre, wenn du an die Tür gegangen wärst?«

Rafe zuckte die Achseln. Er hatte angefangen, wieder mit den Karten herumzuspielen.

»Irgendwann«, sagte Abby, als klar war, dass er nicht antworten würde, »hab ich mir gedacht, wir sollten vielleicht auch in die Diele gehen, dass es komisch wirken würde, wenn wir das nicht täten. Mackey und O’Neill waren da – Mackey lehnte an der Wand, und O’Neill machte sich Notizen –, und sie haben mir einen Heidenschiss eingejagt. Keine Uniformen, der Gesichtsausdruck, der absolut nichts verriet, und die Art, wie sie geredet haben – als wäre keine Eile, als könnten sie sich Zeit lassen, so viel sie wollten … Ich hatte die beiden Trottel aus Rathowen erwartet, und mir war sofort klar, dass diese Burschen ein ganz anderes Kaliber waren. Sie waren viel intelligenter und viel, viel gefährlicher. Ich hatte gedacht, das Schlimmste wäre vorbei, dass nichts je so schlimm sein könnte wie die vergangene Nacht. Aber als ich die zwei sah, da hab ich begriffen, dass das erst der Anfang war.«

»Sie waren grausam«, sagte Justin plötzlich. »Unglaublich grausam. Sie haben uns ewig hingehalten, bis sie mit der Sprache rausrückten. Wir haben immer wieder gefragt, was denn passiert wäre, und sie haben uns bloß angeschaut mit diesen blasierten, ausdruckslosen Gesichtern und haben einfach keine klare Antwort gegeben.«

»›Wie kommen Sie darauf, dass ihr was passiert sein könnte?‹«, warf Rafe ein und machte dabei Franks trägen Dubliner Tonfall bösartig gut nach. »›Hätte jemand Grund, ihr was anzutun? Hatte sie vor jemandem Angst?‹«

»Und selbst als sie endlich mit der Sprache rausrückten, haben die Mistkerle nicht gesagt, dass du noch lebst. Mackey hat bloß so was gesagt wie: ›Sie wurde vor ein paar Stunden gefunden, nicht weit von hier. Irgendwann letzte Nacht wurde sie niedergestochen.‹ Er hat es absichtlich so klingen lassen, als wärst du tot.«

»Daniel war der Einzige, der einen kühlen Kopf bewahrt hat«, sagte Abby. »Ich war drauf und dran, in Tränen auszubrechen. Ich hatte mich den ganzen Morgen am Riemen gerissen, um keine verweinten Augen zu haben, und es war eine unglaubliche Erleichterung, endlich wissen zu dürfen, was passiert war … Aber Daniel hat sofort gesagt, wie aus der Pistole geschossen: ›Ist sie am Leben?‹«

»Und die haben gar nicht reagiert«, sagte Justin. »Einfach kein Wort gesagt, eine halbe Ewigkeit, bloß dagestanden und uns angesehen und gewartet. Ich hab ja gesagt, richtig grausam waren die.«

»Und dann endlich«, sagte Rafe, »hat Mackey mit den Schultern gezuckt und gesagt: ›Ganz knapp.‹ Es war, als würde uns allen der Kopf platzen. Ich meine, wir hatten uns auf das … na ja, auf das Schlimmste eingestellt, wir wollten es nur endlich hinter uns bringen, um in Ruhe einen Nervenzusammenbruch kriegen zu können. Aber darauf waren wir nicht gefasst. Wir hätten vor Schreck Gott weiß was von uns geben können – die ganze Sache auf der Stelle auffliegen lassen –, wenn Abby nicht mit einem einwandfreien Timing einen Ohnmachtsanfall hingelegt hätte. Überhaupt, das wollte ich dich schon die ganze Zeit fragen, war der echt? Oder gehörte der zum Plan

»So gut wie nichts ist da nach irgendeinem Plan gelaufen«, sagte Abby schneidend, »und ich bin auch nicht in Ohnmacht gefallen. Mir wurde nur kurz schwindelig. Vielleicht erinnerst du dich, ich hatte nicht viel geschlafen.« Rafe lachte höhnisch.

»Alle sind hingesprungen, um sie aufzufangen, und dann haben wir sie auf einen Stuhl gesetzt und ihr ein Glas Wasser geholt«, sagte Justin, »und als sie sich wieder besser fühlte, hatten wir uns auch wieder im Griff –

»Ach nee, hatten wir das?«, fragte Rafe stirnrunzelnd. »Du hast immer noch dagestanden und den Mund auf- und zugeklappt wie ein Goldfisch. Ich hatte solche Angst, du würdest irgendwas Idiotisches sagen, dass ich einfach wild drauflosgequatscht hab, die Bullen müssen mich für einen totalen Schwachkopf gehalten haben: Wo haben Sie sie gefunden, wo ist sie, wann können wir sie sehen … Ich hab zwar keine Antwort gekriegt, aber ich hab’s wenigstens versucht.«

»Ich hab mein Bestes getan«, sagte Justin. Seine Stimme wurde lauter, erregter. »Für dich war es leicht, dich wieder einzukriegen: Oh, sie lebt, wie schön. Du warst ja nicht dabei. Du musstest nicht dauernd an dieses furchtbare Cottage denken –«

»Wo du, wenn ich das richtig sehe, nicht gerade eine große Hilfe warst. Wieder mal.«

»Du bist betrunken«, sagte Abby kalt.

»Weißt du was?«, sagte Rafe, wie ein Kind, dem es Spaß macht, Erwachsene zu schockieren. »Ich glaube, du hast recht. Und ich glaube, ich betrinke mich noch ein bisschen mehr. Oder hat jemand was dagegen?«

Keiner antwortete. Er reckte sich nach der Flasche und schielte zu mir rüber. »In der Nacht hast du echt was verpasst, Lexie«, sagte er. »Falls du dich wunderst, warum Abby alles, was Daniel sagt, für göttliche Offenbarung hält –«

Abby rührte sich nicht. »Ich hab dich einmal gewarnt, Rafe. Jetzt zum zweiten Mal. Eine dritte Chance kriegst du nicht.«

Nach einem Augenblick zuckte Rafe die Achseln und vergrub das Gesicht in seinem Glas. In der Stille bemerkte ich, dass Justin tiefrot angelaufen war, bis zum Haaransatz.

»Die Tage danach«, sagte Abby, »waren die reinste Hölle. Sie hatten uns erzählt, dass du auf der Intensivstation bist, im Koma, die Ärzte wären nicht sicher, ob du durchkommst, aber sie wollten uns nicht zu dir lassen. Wir mussten ihnen die Würmer aus der Nase ziehen, nur um zu erfahren, wie es dir ging. Aber sie haben immer nur gesagt, dass du noch nicht tot bist, was auch nicht unbedingt tröstlich war.«

»Im Haus und in der ganzen Umgebung wimmelte es von Polizei«, sagte Rafe. »Sie haben dein Zimmer auf den Kopf gestellt, die Wege abgesucht, sogar Teile vom Teppichboden rausgenommen … Sie haben uns so oft vernommen, dass ich anfing, mich zu wiederholen, ich konnte mich nicht erinnern, was ich schon zu wem gesagt hatte. Und selbst wenn sie mal nicht da waren, waren wir ständig auf der Hut. Daniel meinte, sie könnten das Haus nicht verwanzen, das wäre nicht legal, aber Mackey scheint mir nicht zu der Sorte zu gehören, die sich großartig um Formalitäten schert. Und überhaupt, Bullen im Haus zu haben ist wie Ratten oder Flöhe haben oder so. Auch wenn du sie nicht siehst, kannst du fühlen, dass sie irgendwo sind, irgendwo herumkrabbeln.«

»Es war furchtbar«, sagte Abby. »Und Rafe kann von mir aus so viel über das Pokern lästern, wie er will, aber ich bin verdammt froh, dass Daniel uns dazu gebracht hat. Wenn ich vorher überhaupt je daran gedacht hätte, hätte ich vermutet, ein Alibi zu geben, dauert höchstens fünf Minuten: Ich war hier, alle anderen sagen das Gleiche, Ende, aus. Aber die haben uns stundenlang ausgequetscht, immer wieder, wollten jede noch so winzige Einzelheit wissen – um wie viel Uhr haben Sie mit dem Kartenspielen angefangen? Wer hat wo gesessen? Mit wie viel Geld hat jeder von Ihnen angefangen? Wer hat als Erster die Karten ausgegeben? Haben Sie Alkohol getrunken? Wer hat was getrunken? Welchen Aschenbecher haben Sie benutzt?«

»Und dauernd haben sie versucht, uns Fallen zu stellen«, sagte Justin. Er griff nach der Flasche. Seine Hand zitterte, ganz leicht. »Wenn ich eine ganz einfache Antwort gegeben hab – wir haben gegen Viertel nach elf angefangen, so was zum Beispiel –, hat Mackey oder O’Neill oder wer immer gerade an dem Tag dran war, so ein irritiertes Gesicht gemacht und gesagt, ›Sind Sie sicher? Ich glaube nämlich, einer von ihren Freunden hat gesagt, es sei um Viertel nach zehn gewesen‹, und hat angefangen, Notizen durchzublättern, und ich bin zur Salzsäule erstarrt. Ich meine, ich wusste ja nicht, ob einer von den anderen sich einfach nur vertan hatte – wäre schließlich kein Wunder gewesen, so fertig, wie wir alle waren, wir konnten ja kaum einen klaren Gedanken fassen – und ob ich das bestätigen sollte, von wegen, ›Ach ja, stimmt, mein Fehler‹, oder so. Aber ich bin immer schön bei meiner Version geblieben, was auch genau das Richtige war, wie sich herausstellte – es hatte sich nämlich keiner von euch vertan, die haben bloß geblufft –, aber das war pures Glück: Ich war vor Angst wie gelähmt, ich hätte gar nichts anderes sagen können. Wenn es noch sehr viel länger gegangen wäre, hätten wir alle den Verstand verloren, glaub ich.«

»Und wofür das alles?«, fragte Rafe. Er setzte sich so abrupt auf, dass ihm fast die Karten vom Schoß gerutscht wären, und fischte seine Zigarette aus dem Aschenbecher. »Mich wundert ja nach wie vor, dass wir Daniel einfach so geglaubt haben. Er hat von Medizin so viel Ahnung wie von Raumfahrttechnik, aber als er uns erzählt hat, Lexie wäre tot, haben wir einfach angenommen, es stimmt. Wieso glauben wir ihm eigentlich immer?«

»Aus Gewohnheit«, sagte Abby. »Er hat normalerweise recht.«

»Findest du?«, fragte Rafe. Er saß wieder entspannt mit dem Rücken gegen die Sofaarmlehne, aber in seiner Stimme schwang ein gewisser Ton mit, der sich gefährlich hochschraubte. »Diesmal lag er jedenfalls gehörig daneben. Wir hätten einfach einen Krankenwagen rufen können, wie ganz normale Menschen, und alles wäre prima gewesen. Lexie hätte niemals Anzeige erstattet oder so, und wenn einer von uns auch nur mal eine Sekunde drüber nachgedacht hätte, wären wir von allein draufgekommen. Aber nein, wir überlassen alle Entscheidungen dem guten Daniel, machen den Quatsch mit diesem Irrenhauspoker mit –«

»Er wusste doch nicht, dass alles gut ausgehen würde«, sagte Abby scharf. »Was hätte er denn machen sollen? Er hat gedacht, Lexie wäre tot, Rafe.«

Rafe zog eine Schulter hoch. »Behauptet er.«

»Was soll denn das heißen?«

»Ich mein ja nur. Wisst ihr noch, als der Wichser aufgetaucht ist und uns erzählt hat, dass sie aus dem Koma aufgewacht ist? Wir alle drei«, sagte er an mich gerichtet, »wir wären fast zusammengebrochen, so erleichtert waren wir. Ich dachte schon, Justin würde richtig in Ohnmacht fallen.«

»Vielen Dank, Rafe«, sagte Justin und langte nach der Flasche.

»Aber hat Daniel auch erleichtert gewirkt? Keinen Meter. Er hat dreingeschaut, als hätte ihm jemand einen Baseballschläger in den Bauch gerammt. Ist sogar dem Cop aufgefallen, Menschenskind. Erinnerst du dich?« Mit einem kühlen Achselzucken beugte Abby den Kopf über die Puppe und tastete nach ihrer Nadel.

»He«, sagte ich und trat gegen das Sofa, um Rafes Aufmerksamkeit zu erregen. »Ich erinner mich nicht. Was ist passiert?«

»Es war Mackey, dieser Arsch«, sagte Rafe. Er nahm Justin die Wodkaflasche aus der Hand und füllte sein Glas auf, ohne Tonic. »Früh am Montagmorgen steht er putzmunter bei uns vor der Tür und sagt, er hat Neuigkeiten für uns und ob er reinkommen kann. Ich persönlich hätte ihm gesagt, er soll sich verpissen, ich hatte an dem Wochenende so viel Bullen gesehen, mein Bedarf war für alle Zeit gedeckt, aber Daniel war an die Tür gegangen, und er hatte diese hirnrissige Theorie, wir sollten nichts tun, was die Bullen gegen uns einnehmen könnte – dabei war Mackey schon gegen uns, der konnte uns von Anfang nicht leiden, also was hatte das ganze Getue für einen Sinn? –, und deshalb hat er ihn reingelassen. Ich bin aus meinem Zimmer gekommen, um zu sehen, was Sache ist, und Justin und Abby sind aus der Küche gekommen, und Mackey stand da in der Diele und blickte uns nacheinander an und sagte: ›Ihre Freundin wird durchkommen. Sie ist aufgewacht und hat was zum Frühstück verlangt.‹«

»Und wir waren alle völlig aus dem Häuschen«, sagte Abby. Sie hatte die Nadel gefunden und attackierte das Puppenkleid mit kurzen, wütenden Stichen.

»Nun ja«, sagte Rafe, »jedenfalls ein paar von uns. Justin hat sich an der Türklinke festgehalten und gegrinst wie ein Honigkuchenpferd, und Abby hat losgelacht, ist auf ihn zugesprungen und hat ihn umarmt, und ich glaube, ich hab so einen verrückten Jauchzer ausgestoßen. Aber Daniel … der stand einfach da. Er sah aus –«

»Er sah jung aus«, sagte Justin plötzlich. »Er sah richtig jung aus und total verstört.«

»Du«, sagte Abby barsch zu ihm, »warst doch gar nicht in der Verfassung, irgendwas mitzukriegen.«

»Doch. Ich hab ihn genau angesehen. Er war kalkweiß, er sah richtig krank aus.«

»Dann hat er sich umgedreht und ist hier reingegangen«, sagte Rafe, »hat sich gegen den Fensterrahmen gelehnt und in den Garten geschaut. Ohne ein Wort. Mackey hat uns stirnrunzelnd angeschaut und gefragt, ›Was ist denn mit Ihrem Freund los? Freut er sich nicht?‹«

Frank hatte das mit keinem Wort erwähnt. Ich hätte sauer sein sollen – er hatte es gerade nötig, mir vorzuwerfen, dass ich unfair spielte –, aber er kam mir vor wie ein halbvergessener Mensch aus einer anderen Welt, eine Million Meilen weit weg.

»Abby hat sich von Justin gelöst und irgendwas in der Art gesagt, Daniel wäre völlig überwältigt –«

»War er auch«, sagte Abby und biss hörbar einen Faden ab.

»– aber Mackey hat bloß sein zynisches kleines Grinsen aufgesetzt und ist gegangen. Sobald ich sicher war, dass er auch wirklich weg war – der gehört zu der Sorte, die sich im Gebüsch versteckt und lauscht –, bin ich zu Daniel und hab ihn gefragt, was denn verdammt nochmal sein Problem wäre. Er stand noch immer am Fenster, er hatte sich nicht von der Stelle gerührt. Er strich sich die Haare aus dem Gesicht – er schwitzte –, und er sagte: ›Es gibt kein Problem. Er lügt natürlich. Dass hätte ich mir gleich denken können, aber er hat mich überrumpelt.‹ Ich hab ihn bloß angestarrt. Ich hab gedacht, jetzt ist er komplett durchgeknallt.«

»Oder du bist durchgeknallt«, sagte Abby schneidend. »Ich kann mich an nichts davon erinnern.«

»Du und Justin, ihr seid ja auch die ganze Zeit rumgehüpft und habt euch umarmt und gequietscht wie zwei Teletubbies. Daniel hat mich entnervt angeguckt und gesagt: ›Sei nicht naiv, Rafe. Wenn Mackey die Wahrheit sagen würde, glaubst du im Ernst, die Nachricht wäre dann durchweg gut? Ist dir nicht mal der Gedanke gekommen, was für gravierende Folgen das hätte haben müssen?‹« Er trank einen kräftigen Schluck von seinem Wodka. »Jetzt sag mal ehrlich, Abby. Klingt das für dich nach überschwänglicher Freude?«

»Verdammt, Rafe«, sagte Abby. Sie setzte sich auf, und ihre Augen sprühten Funken: Sie wurde wütend. »Was faselst du denn da? Spinnst du jetzt total? Keiner wollte, dass Lexie stirbt.«

»Du nicht, ich nicht, Justin nicht. Vielleicht auch Daniel nicht. Ich sage nur, dass ich nicht wissen kann, was er gespürt hat, als er nach Lexies Puls getastet hat. Ich war nicht dabei. Und ich kann nicht darauf schwören, dass ich weiß, was er getan hätte, wenn er gemerkt hätte, dass sie noch lebt. Kannst du das, Abby? Nach diesen letzten paar Wochen, kannst du schwören, Hand aufs Herz, dass du dir absolut sicher bist, was Daniel getan hätte?«

Etwas Kaltes glitt mir über den Nacken, kräuselte die Vorhänge, kroch in die Ecken. Cooper und die Kriminaltechnik hatten uns lediglich sagen können, dass sie nach Eintritt des Todes noch transportiert worden war, nicht, wie lange danach. Mindestens zwanzig Minuten lang waren die beiden im Cottage allein gewesen, Lexie und Daniel. Ich dachte an ihre fest geballten Fäuste – extremer emotionaler Stress, hatte Cooper gesagt – und dann an Daniel, wie er still neben ihr saß, rauchte, vorsichtig die Asche in seine Zigarettenpackung schnippte, während Regentropfen auf sein Haar fielen. Wenn da noch etwas gewesen wäre – eine zuckende Hand, ein Stöhnen, große braune Augen, die zu ihm aufsahen, ein Flüstern, fast unhörbar schwach –, kein Mensch würde es je erfahren.

Nachtwind, der über den Hang strich, Eulenrufe in der Ferne. Cooper hatte noch etwas gesagt: Ärzte hätten sie retten können.

Daniel hätte Justin zwingen können, im Cottage zu bleiben, wenn er das wirklich gewollt hätte. Eigentlich wäre es logischer gewesen. Derjenige, der blieb, hatte nichts zu tun, falls Lexie tot war, außer sich still zu verhalten und nichts anzufassen. Derjenige, der zurück zum Haus ging, musste den anderen die schreckliche Nachricht mitteilen, das Portemonnaie und die Schlüssel und die Taschenlampe zusammensuchen, Ruhe bewahren und doch schnell handeln. Daniel hatte Justin geschickt, der sich kaum auf den Beinen halten konnte.

»Bis ganz zum Schluss, bis zu dem Abend, bevor du nach Hause gekommen bist«, sagte Rafe zu mir, »war er felsenfest davon überzeugt, du wärst tot. Er meinte, die Bullen würden nur bluffen, nur behaupten, du wärst nicht tot, damit wir denken, du würdest mit ihnen reden. Er hat gesagt, wir müssten nur einen kühlen Kopf bewahren, dann würden sie früher oder später einen Rückzieher machen, uns irgendeine Story auftischen, du hättest einen Rückfall gehabt und wärst im Krankenhaus gestorben. Erst als Mackey angerufen und gefragt hat, ob wir am nächsten Tag da wären, er würde dich gern nach Hause bringen – da hat Daniel es geschnallt, ach nee, da ist ja vielleicht doch keine Riesenverschwörung im Gange, die Sache könnte ja doch so einfach sein, wie es den Anschein hatte. Die große Erleuchtung.«

Er nahm wieder einen kräftigen Schluck. »Freude, dass ich nicht lache. Ich sag euch, was er empfunden hat: lähmende Angst. Sein einziger Gedanke war, ob Lexie wirklich das Gedächtnis verloren hatte oder ob sie das nur der Polizei erzählt hatte und wie sie reagieren würde, sobald sie zu Hause war.«

»Na und?«, fragte Abby. »Was ist schon dabei? Wir waren alle nervös deshalb, wenn wir ehrlich sind. Ist doch auch klar. Wenn sie sich hätte erinnern können, hätte sie weiß Gott allen Grund gehabt, stinkwütend auf uns vier zu sein. An dem Abend, als du nach Hause kamst, Lex, saßen wir alle wie auf heißen Kohlen. Erst als klar war, dass du nicht wütend auf uns warst oder so etwas, haben wir uns entspannt – aber als du aus dem Polizeiwagen gestiegen bist … Mann. Ich dachte, mir platzt jeden Moment der Kopf.«

Eine letzte Sekunde lang hatte ich sie wieder so vor Augen, wie ich sie an dem Abend gesehen hatte: eine goldene Erscheinung auf der Treppe vor dem Haus, glänzend und gesammelt, wie junge Krieger aus einer vergessenen Sage, zu strahlend, um real zu sein.

»Nervös«, sagte Rafe, »ja. Aber Daniel war wesentlich mehr als nur nervös. Er war hysterisch nervös, und er hat mich damit angesteckt. Schließlich hab ich ihn zur Rede gestellt – ich musste mich spät in der Nacht zu ihm hochschleichen, als hätten wir eine Affäre oder so, weil er höllisch aufgepasst hat, dass ich ihn nicht allein erwische. Jedenfalls, ich hab ihn gefragt, was zum Teufel denn eigentlich los sei. Und wisst ihr, was er gesagt hat? Er hat gesagt: ›Wir müssen uns damit abfinden, dass die Sache vielleicht noch längst nicht ausgestanden ist. Ich denke, ich habe einen Plan, der alle Eventualitäten abdecken müsste, aber ein paar Details sind noch unklar. Versuch, dir fürs Erste keine Sorgen zu machen; könnte gut sein, dass es gar nicht so weit kommt.‹ Was glaubt ihr, hat er damit gemeint?«

»Da ich keine Gedanken lesen kann«, sagte Abby knapp, »hab ich keinen Schimmer. Ich schätze, er wollte dich beruhigen.«

Ein dunkler Feldweg und ein winziges Klicken und der Ton in Daniels Stimme: konzentriert, versunken, völlig ruhig. Ich spürte, wie sich mir die Nackenhaare sträubten. Es war mir niemals eingefallen, nicht ein einziges Mal, dass der Revolver möglicherweise nicht auf Naylor gezielt hatte.

Rafe schnaubte. »Ach, hör doch auf. Daniel hat sich einen Scheiß drum geschert, wie einer von uns sich gefühlt hat – einschließlich Lexie. Ihn hat doch nur interessiert, ob sie sich an irgendwas erinnern konnte und was sie als Nächstes tun würde. Und dabei ist er nicht mal dezent vorgegangen, er hat sie unverfroren ausgequetscht, bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Weißt du noch, welche Strecke du an dem Abend gegangen bist, nimmst du die Jacke oder lieber nicht, ach Lexie, willst du drüber reden … Ich fand’s zum Kotzen.«

»Er wollte dich schützen, Rafe. Uns.«

»Ich brauch keinen Beschützer, vielen Dank. Ich bin kein Kind mehr. Und ich brauch weiß Gott keinen Beschützer namens Daniel

»Na, schön für dich«, sagte Abby. »Gratuliere, großer Mann. Egal ob du meinst, einen Beschützer zu brauchen oder nicht, er hat jedenfalls nur sein Bestes getan. Wenn dir das nicht reicht –«

Rafe zuckte mit einer Schulter. »Mag sein, dass er das getan hat. Wie gesagt, ich weiß es nicht. Aber falls ja, dann ist sein Bestes ziemlich bescheiden für so einen cleveren Typen. Diese letzten paar Wochen waren die Hölle, Abby, die reinste Hölle, und das hätte nicht so sein müssen. Wenn Daniel nur auf uns gehört hätte, statt sein Bestes zu tun … Wir wollten dir alles erzählen«, sagte er und drehte sich zu mir um. »Wir alle drei. Als wir gehört haben, dass du nach Hause kommst.«

»Ja, Lexie, das stimmt«, sagte Justin und beugte sich über die Armlehne seines Sessels zu mir. »Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie oft ich fast … mein Gott. Ich hab gedacht, ich explodiere oder löse mich auf oder so, wenn ich es dir nicht erzähle.«

»Aber Daniel«, sagte Rafe, »war dagegen. Und du siehst ja, was das gebracht hat, was jede seiner Ideen gebracht hat. Was er uns für einen Schlamassel eingebrockt hat.« Seine Hand flog hoch, und die Bewegung umfasste uns, den ganzen Raum, hell und verzweifelt und in Auflösung begriffen. »Es hätte nie so weit kommen müssen. Wir hätten einen Krankenwagen rufen können, wir hätten dir gleich am Anfang reinen Wein einschenken können –«

»Nein«, sagte Abby. »Nein. Du hättest einen Krankenwagen rufen können. Du hättest Lexie reinen Wein einschenken können. Oder ich oder Justin. Untersteh dich, Daniel an allem die Schuld zu geben. Du bist ein erwachsener Mann, Rafe. Niemand hat dir eine Knarre an den Kopf gedrückt und dich gezwungen, den Mund zu halten. Das hast du ganz allein gemacht.«

»Kann sein. Aber ich hab nichts unternommen, weil Daniel es so wollte, genau wie du. Du und ich, wie lange waren wir in der Nacht hier allein? Eine Stunde? Mehr? Und die ganze Zeit hast du davon geredet, dass du unbedingt Hilfe holen wolltest. Aber als ich dann gesagt hab, ja, okay, machen wir’s, hast du gesagt, nein. Daniel hat gesagt, wir sollen abwarten. Daniel hat einen Plan. Daniel regelt das schon.«

»Weil ich Vertrauen zu ihm habe. Das bin ich ihm schuldig, wenigstens das, und ihr auch. Das hier – alles, was wir haben – verdanken wir Daniel. Wenn er nicht wäre, säße ich jetzt allein in meinem gruseligen Kellerzimmer. Vielleicht ist dir das alles hier nicht so wichtig –«

Rafe lachte, ein lauter, harter, erschreckender Klang. »Dieses verfluchte Haus«, sagte er. »Bei der leisesten Andeutung, dein toller Daniel könnte vielleicht nicht unfehlbar sein, kommst du uns jedes Mal mit dem Haus. Ich hab den Mund gehalten, weil ich dachte, vielleicht hast du ja recht, vielleicht bin ich ihm was schuldig, aber jetzt … Ich hab einfach die Schnauze voll von diesem Haus. Noch so eine von Daniels genialen Ideen, und was hat sie uns gebracht? Justin ist ein nervliches Wrack, du bist die größte Verdrängungskünstlerin aller Zeiten, ich saufe wie mein Vater, Lexie wäre fast gestorben, und die meiste Zeit streiten wir uns wie die Kesselflicker. Alles nur wegen dieses gottverdammten Hauses.«

Abbys Kopf fuhr hoch, und sie starrte ihn an. »Das ist nicht Daniels Schuld. Er wollte bloß –«

»Er wollte was, Abby? Was? Was glaubst du wohl, warum er uns alle an dem Haus beteiligt hat?«

»Weil«, sagte Abby, leise und gefährlich, »er uns mag. Weil er gedacht hat, egal, ob er damit richtiggelegen hat oder nicht, das wäre die beste Voraussetzung für uns alle fünf, glücklich zu sein.«

Ich rechnete damit, dass Rafe auch darüber lachen würde, aber er tat es nicht. »Weißt du«, sagte er nach einem Augenblick, den Blick starr in sein Glas gerichtet, »das hab ich am Anfang auch gedacht. Ehrlich. Dass er das gemacht hat, weil er uns mag.« Der grimmige Unterton war aus seiner Stimme gewichen; übriggeblieben war eine schlichte, müde Melancholie. »Es hat mich glücklich gemacht, das zu denken. Es gab mal eine Zeit, da hätte ich alles für Daniel getan. Alles.«

»Und dann ist dir ein Licht aufgegangen«, sagte Abby. Ihr Stimme war hart und spröde, aber sie konnte das Zittern darin nicht unterdrücken. Sie war aufgewühlter, als ich sie je erlebt hatte, noch aufgewühlter als in dem Augenblick, als ich von dem Zettel in der Jackentasche angefangen hatte. »Jemand, der seinen Freunden ein Haus überschreibt, das eine siebenstellige Summe wert ist, kann das natürlich nur aus rein eigennützigen Gründen tun. Wie paranoid ist das denn?«

»Ich hab darüber nachgedacht. Ich hab viel darüber nachgedacht in den letzten Wochen. Ich wollte nicht – wirklich nicht … aber ich konnte nicht anders. Wie wenn man was zwischen den Zähnen hat und dauernd mit der Zunge drangeht.« Rafe blickte zu Abby auf, schüttelte sich das Haar aus dem Gesicht. Der Alkohol tat seine Wirkung, und seine Augen waren gerötet und verquollen, als hätte er geweint. »Mal angenommen, wir wären alle an verschiedenen Unis gelandet, Abby. Mal angenommen, wir hätten uns nie kennengelernt. Was glaubst du, würden wir jetzt machen?«

»Ich habe nicht die leiseste Ahnung, worauf du hinauswillst.«

»Wir würden klarkommen, wir vier. Vielleicht wären die ersten paar Monate schwierig geworden, vielleicht hätten wir eine Weile gebraucht, um Leute kennenzulernen, aber wir hätten welche kennengelernt. Ich weiß, wir sind alle nicht von der kontaktfreudigen Sorte, aber wir hätten es gepackt. Weil das eben so läuft an der Uni, man lernt, wie man sich in der großen, beängstigenden Welt bewegt. Wir hätten inzwischen Freunde, ein Sozialleben –«

»Ich nicht«, sagte Justin leise und endgültig. »Ich würde nicht klarkommen. Nicht ohne euch.«

»Doch, würdest du, Justin. Wirklich. Du hättest einen Freund – du auch, Abby. Nicht bloß hin und wieder jemanden fürs Bett oder zum Anlehnen. Einen richtigen Freund. Einen Partner.« Er lächelte mich traurig an. »Bei dir bin ich mir nicht so sicher, du kleine Zicke. Aber du kämst bestimmt auf deine Kosten, so oder so.«

»Danke, dass du dich um unser Liebesleben sorgst«, sagte Abby kalt, »du arrogantes Arschloch. Nur weil Justin keinen Partner hat, ist Daniel noch längst nicht der Antichrist.«

Rafe sprang nicht darauf an, und aus irgendeinem Grund machte mir das Angst. »Nein«, sagte er. »Aber überleg doch mal kurz. Wenn wir uns nie begegnet wären, was glaubst du, würde Daniel jetzt machen?«

Abby starrte ihn ausdruckslos an. »Das Matterhorn besteigen. In die Politik gehen. Hier leben. Was weiß denn ich?«

»Kannst du dir vorstellen, dass er zur Erstsemesterparty geht? Sich irgendeiner Studentengruppe anschließt? Im Seminar über amerikanische Lyrik eine Kommilitonin anquatscht? Im Ernst, Abby. Verrat’s mir. Kannst du dir das vorstellen?«

»Ich weiß es nicht. Wenn, wenn, wenn, Rafe. Wir haben uns nun mal kennengelernt. Ich hab keine Ahnung, was passiert wäre, wenn alles anders gelaufen wäre, weil ich nicht hellsehen kann, und du auch nicht.«

»Vielleicht nicht«, sagte Rafe, »aber eins weiß ich sicher: Daniel hätte nie im Leben gelernt, mit der Außenwelt klarzukommen. Ich weiß nicht, ob er von Geburt an so war oder ob er als Baby fallen gelassen wurde und auf dem Kopf gelandet ist oder was, aber er ist einfach nicht imstande, ein normales soziales Leben zu führen.«

»Mit Daniel ist alles in Ordnung«, sagte Abby kalt, feine Silben wie Eissplitter. »Alles.«

»Nein, Abby. Ich mag ihn – ja, ehrlich, ich mag ihn noch immer –, aber es war nie alles in Ordnung mit ihm. Nie. Das musst du doch wissen.«

»Er hat recht«, sagte Justin sanft. »Nie. Ich hab dir das nie erzählt, aber damals, als wir uns kennenlernten, im ersten Semester –«

»Halt die Klappe«, fauchte Abby und drehte sich jäh zu ihm um. »Sei bloß still. Glaubst du, du bist anders? Wenn Daniel verkorkst ist, dann du doch genauso, und du, Rafe –«

»Nein«, sagte Rafe. Er blickte auf seinen Finger, der Muster in den Kondensbeschlag an seinem Glas malte. »Genau das will ich dir doch gerade klarmachen. Wir vier hier – wenn wir wollen, können wir uns mit anderen Leuten unterhalten. Ich hab neulich Abend eine Frau abgeschleppt. In deinen Tutorenkursen lieben dich alle. Justin flirtet mit dem blonden Typen, der in der Bibliothek arbeitet – doch, Justin, tust du, ich hab’s gesehen, Lexie hat sich mit den Leuten in diesem furchtbaren Café bestens amüsiert. Wir finden Kontakt zur Welt da draußen, wenn wir uns Mühe geben. Aber Daniel … Es gibt nur vier Leute auf diesem Planeten, die ihn nicht für einen ausgemachten Freak halten, und alle vier befinden sich in diesem Raum. Wir wären klargekommen ohne ihn, irgendwie, aber er wäre nicht ohne uns klargekommen. Ohne uns wäre Daniel einsamer als Gott.«

»Und?«, fragte Abby nach einer lange Sekunde. »Was willst du damit sagen?«

»Dass das der Grund ist«, erwiderte Rafe, »warum er uns an dem Haus beteiligt hat. Nicht um uns ein sonniges Leben zu bescheren. Um Gesellschaft zu haben, hier in seinem privaten Universum. Um uns zu behalten, für immer.«

»Du«, sagte Abby. Sie rang um Atem. »Du bist so ein mieser kleingeistiger Mistkerl. Woher nimmst du bloß die Dreistigkeit –«

»Es ging ihm nie darum, uns zu beschützen, Abby. Niemals. Es ging ihm immer nur um seine eigene kleine Welt. Sag mir eins: Warum bist du heute Morgen in Daniels Wagen mit zur Polizei gefahren? Warum wolltest du ihn nicht allein mit Lexie fahren lassen?«

»Ich wollte nicht mit dir zusammen fahren. So wie du dich in letzter Zeit aufführst, find ich dich nur noch zum Kotzen –«

»Unsinn. Was glaubst du, was hätte er mit Lexie gemacht, wenn sie auch nur leise angedeutet hätte, sie könnte nach wie vor verkaufen oder mit den Bullen reden? Du sagst zwar andauernd, ich hätte ihr jederzeit alles erzählen können, aber was hätte Daniel wohl mit mir gemacht, wenn er gedacht hätte, ich würde aus der Reihe tanzen? Er hatte einen Plan, Abby. Er hat gesagt, er hätte einen Plan, um alle Eventualitäten abzudecken. Was glaubst du wohl, was das für ein Plan war?«

Justin schnappte nach Luft, ein erschrockener, kindlicher Laut. Das Licht im Raum hatte sich verändert, die Luft hatte sich verlagert, der Druck verschoben, und all die kleinen Strudel sammelten sich und wirbelten um einen gewaltigen zentralen Punkt.

Daniel füllte den Türrahmen aus, groß und reglos, die Hände in den Taschen seines langen dunklen Mantels. »Alles, was ich je wollte«, sagte er leise, »war hier in diesem Haus.«