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Die Woche danach verbrachten Frank und ich damit, Lexie Madison Version 3.0 auszuarbeiten. Tagsüber quetschte er Leute nach Informationen über sie aus, ihre Gewohnheiten, ihre Stimmungen, ihre Beziehungen, dann kam er zu mir in die Wohnung und bläute mir den ganzen Abend lang die Ausbeute des Tages ein. Ich hatte vergessen, wie gut er darin war, wie methodisch und gründlich und wie sehr er von mir erwartete, sein Tempo mitzugehen. Bevor wir an jenem Sonntagabend das Büro im Morddezernat verließen, drückte er mir Lexies Wochenplan und einen Stoß Fotokopien von ihrem Dissertationsmaterial in die Hand. Am Montag kam er mit einer dicken Akte über ihre BKs – bekannte Kontakte – samt Fotos und Stimmenaufnahmen und Hintergrundinfos und schlaumeierischen Kommentaren – Stoff, den ich auswendig lernen sollte. Am Dienstag brachte er eine Luftbildkarte von der Gegend um Glenskehy mit, und ich musste mir jedes Detail einprägen, bis ich die Karte aus dem Gedächtnis zeichnen konnte, dann arbeiteten wir uns bis Whitethorn House vor, von dem er mir Etagenpläne und Fotos vorlegte. Den ganzen Kram zu besorgen hatte Zeit gekostet. Frank, dieses Arschloch, hatte lange vor Sonntagabend gewusst, dass ich ja sagen würde.

Wir sahen uns wieder und wieder die Handyvideos an, wobei Frank alle paar Sekunden auf Pause drückte, um fingerschnippend auf irgendeine Einzelheit zu zeigen: »Siehst du das? Wie sie den Kopf nach rechts neigt, wenn sie lacht? Mach mal nach … Siehst du, wie sie Rafe anschaut, und da, Justin? Mit denen flirtet sie. Daniel und Abby schaut sie direkt an, aber die beiden Jungs seitlich und aufwärts. Merk dir das … Und siehst du, was sie mit der Zigarette macht? Sie klemmt sie nicht rechts zwischen die Lippen, so wie du. Ihre rechte Hand greift rüber, und die Kippe geht links rein. Zeig mal, wie das bei dir aussieht … Hast du das gesehen? Justin ist dabei, sich über den Schimmel aufzuregen, und sofort ist da der kleine Blick zwischen Abby und Lexie, und sie fangen von den hübschen Fliesen an, um ihn auf andere Gedanken zu bringen. Die beiden sind eingespielt … « Ich sah mir die Clips so häufig an, dass sie, wenn ich schließlich ins Bett ging – meistens um fünf Uhr morgens, und Frank schlief in seinen Klamotten auf dem Sofa –, noch durch meine Träume glitten wie ein ständiger Sog, und an mir zerrten: Daniels schroffe, schneidende Stimme im Gegensatz zu Justins hellem Oberton, die Muster der Tapete, Abbys sattes, perlendes Lachen.

Sie lebten nach einem genau geregelten Ablauf, der mich erstaunte. In meiner Studentenzeit fanden ständig bei irgendwem spontane Feten statt, oder wir büffelten wie besessen die ganze Nacht durch, ohne richtige Mahlzeiten, höchstens mal ein Sandwich zwischendurch. Aber die fünf: Die beiden Frauen machten jeden Morgen um halb acht das Frühstück, gegen zehn waren alle an der Uni – Daniel und Justin hatten jeder ein Auto, also fuhren sie die anderen –, egal, ob sie Tutorenkurse gaben oder nicht, etwa halb sieben waren sie wieder zu Hause, und die Männer machten das Abendessen. Am Wochenende arbeiteten sie am Haus. Bei schönem Wetter machten sie hin und wieder irgendwo ein Picknick. Sogar ihre Freizeitgestaltung war beeindruckend: Da spielte Rafe auf dem Klavier, oder Daniel las laut Dante vor, und Abby restaurierte einen bestickten Fußhocker aus dem achtzehnten Jahrhundert. Sie hatten keinen Fernseher, geschweige denn einen Computer – Daniel und Justin benutzten gemeinsam eine mechanische Schreibmaschine, die anderen drei hatten immerhin noch so viel Kontakt zum einundzwanzigsten Jahrhundert, dass sie die Computer an der Uni benutzten. Sie waren wie Spione von einem anderen Planeten, die bei ihren Recherchen einen Fehler gemacht und zur Vorbereitung Edith Wharton gelesen und Wiederholungen von Unsere kleine Farm gesehen hatten. Frank musste im Internet nachsehen, wie man Piquet spielt, und es mir beibringen.

Das alles ging Frank natürlich gehörig gegen den Strich und inspirierte ihn zu immer kreativeren Lästereien (»Ich glaube, die sind irgend so eine spinnerte Sekte, die moderne Technologie für Teufelswerk hält und bei Vollmond die Grünpflanzen besingt. Keine Bange, wenn sie Vorbereitungen für eine Orgie treffen, hol ich dich raus. So wie die aussehen, kann ich mir nicht vorstellen, dass du Spaß dran hättest. Wer zum Henker hat denn keinen Fernseher?«) Ich sagte ihm das nicht, aber je mehr ich darüber nachdachte, desto weniger exzentrisch kam mir ihr Leben vor und desto stärker war ich von ihnen fasziniert. Dublin ist eine schnelle Stadt geworden, sie ist übervoll und hektisch, alle haben Panik davor, zurückgelassen zu werden, und machen sich immer lauter bemerkbar, um ja nicht unterzugehen. Auch ich war seit dem Knocknaree-Fall schnell unterwegs gewesen, verbissen immer stur voran, um bloß nicht anzuhalten, und zunächst war die schamlose, elegante Muße dieser vier – Stickerei, meine Fresse – so schockierend wie eine Ohrfeige. Ich hatte sogar vergessen, wie das überhaupt ging, etwas Langsames zu wollen, etwas Sanftes, etwas mit weitem Raum und eigenen sicheren, wiegenden Rhythmen. Dieses Haus mitsamt dem Leben darin schwebte in meinen Gedanken kühl wie Brunnenwasser, kühl wie der Schatten unter einer Eiche an einem heißen Nachmittag.

Tagsüber übte ich: Lexies Handschrift, ihren Gang, ihre sprachliche Färbung – zum Glück für mich war es nur ein leichter, etwas altmodischer Einschlag, als käme sie aus dem County Dublin, den sie vermutlich von irgendeinem Fernsehoder Radiomoderator übernommen hatte, und gar nicht so viel anders als meiner –, ihren Tonfall, ihr Lachen. Als ich es zum ersten Mal richtig hinkriegte – ein begeistertes, haltlos perlendes Lachen, die Tonleiter rauf, wie bei einem Kind, das gekitzelt wird –, erschrak ich zu Tode.

Ihre Version von Lexie Madison war beruhigenderweise ein bisschen anders gewesen als meine. Damals am UCD spielte ich Lexie fröhlich, unbekümmert, leutselig, am glücklichsten, wenn sie mitten im Geschehen stand. Sie hatte nichts Unberechenbares an sich, keine dunklen Seiten, nichts, was Dealer oder Käufer veranlassen konnte, in ihr ein Risiko zu sehen. Zumindest am Anfang sahen Frank und ich in ihr ein speziell angefertigtes Präzisionswerkzeug, das unseren Bedürfnissen zu dienen und nach unserer Pfeife zu tanzen hatte, mit einem ganz bestimmten Ziel im Kopf. Die Lexie der Unbekannten war unberechenbarer gewesen, sprunghafter, eigenwilliger, launischer. Sie hatte sich eine Frau mit zwei Gesichtern ausgedacht, im Umgang mit ihren Freunden ausgelassen und plappernd mit gelegentlichen mutwilligen Ausbrüchen, im Umgang mit Außenstehenden reserviert und eiskalt, und es wurmte mich, dass ich diesen Faden nicht zurückverfolgen konnte, um herauszufinden, was ihr Ziel gewesen war, auf was für eine Aufgabe sie dieses neue Ich zugeschnitten hatte.

Ich zog durchaus die Möglichkeit in Erwägung, dass ich alles komplizierter machte als nötig und sie überhaupt kein Ziel gehabt hatte, dass sie, zumindest was ihre Persönlichkeit anging, einfach sie selbst gewesen war. Es ist schließlich nicht einfach, monatelang in der Haut eines anderen Menschen zu stecken. Ich weiß, wovon ich rede. Aber der Gedanke, ihr diese Persönlichkeit einfach zu glauben, machte mich nervös. Irgendetwas sagte mir, dass es ein Riesenfehler wäre, diese Frau zu unterschätzen.



Am Dienstagabend saßen Frank und ich bei mir zu Hause auf dem Fußboden. Es gab Essen vom Chinesen, und wir aßen von der lädierten Holztruhe, die mir als Couchtisch dient und auf der Karten und Fotos ausgebreitet waren. Es war eine stürmische Nacht, der Wind warf sich in unregelmäßigen Abständen mit gewaltiger Wucht gegen das Fenster, wie ein blindwütiger Angreifer, und wir waren beide kribbelig. Ich hatte mir den ganzen Tag BK-Infos eingeprägt und so viel überschüssige Energie aufgestaut, dass ich, als Frank eintraf, gerade Handstand machte, um nicht an die Decke zu gehen. Frank war hereingerauscht gekommen, hatte unablässig redend Sachen vom Tisch gefegt, um Platz für Karten und Imbisspackungen zu schaffen, und ich überlegte – ihn zu fragen hätte nichts gebracht –, ob da irgendwo in den geheimen Winkeln dieser Playstation, die er Gehirn nennt, etwas vor sich ging, was er mir nicht erzählte.

Die Kombination von Geographie und Essen beruhigte uns beide ein wenig – das war wahrscheinlich der Grund, warum Frank sich für Chinesisch entschieden hatte. Es ist schwer, nervös zu sein, wenn du den Mund voll mit Zitronenhähnchen hast. »Und das da«, sagte Frank, während er mit einer Hand die letzten Reiskörner auf die Gabel lud und mit der anderen zeigte, »ist die Tankstelle auf der Straße nach Rathowen. Geöffnet von sieben Uhr morgens bis drei Uhr nachts, hauptsächlich, um Kippen und Sprit an Einheimische zu verkaufen, die sich beides eigentlich nicht leisten können. Du gehst manchmal da Zigaretten kaufen. Willst du noch was essen?«

»Gott, nein«, sagte ich. Ich war selbst verblüfft, was für einen Bärenhunger ich gehabt hatte – normalerweise esse ich wie ein Scheunendrescher, Rob war immer ganz fasziniert gewesen, wie viel ich verdrücken konnte, aber der Knocknaree-Fall hatte meinen Appetit gewissermaßen zur Strecke gebracht. »Kaffee?« Ich hatte schon eine Kanne aufgesetzt. Die Ringe unter Franks Augen näherten sich dem Punkt, wo sie kleinen Kindern Angst einjagen würden.

»Jede Menge. Es wartet allerhand Arbeit auf uns. Wird wieder eine lange Nacht, Kleines.«

»Öfter mal was Neues«, sagte ich. »Was sagt Olivia eigentlich dazu, dass du bei mir übernachtest?«

Es war ein Schuss ins Blaue, und die minimale Pause, die Frank einlegte, um seinen Teller wegzuschieben, verriet mir, dass meine Ahnung richtig gewesen war: Die Undercoverarbeit forderte wieder ihren Tribut. »Tut mir leid«, sagte ich. »Ich wollte nicht –«

»Doch, wolltest du. Olivia ist vernünftig geworden und hat mich letztes Jahr abserviert. Ich kriege Holly an einem Wochenende im Monat und zwei Wochen im Sommer. Was hält dein Sammy denn davon, dass ich bei dir übernachte?«

Seine Augen waren kühl und starr, und er klang nicht verärgert, bloß sachlich, aber die Botschaft war klar: Halt dich zurück. »Er hat kein Problem damit«, sagte ich und stand auf, um nach dem Kaffee zu sehen. »Alles für den Job.«

»Meinst du? Am Sonntag hatte ich nicht den Eindruck, dass der Job für ihn an erster Stelle steht.«

Ich änderte meine Meinung: Er war sauer auf mich wegen meiner Frage nach Olivia. Eine Entschuldigung würde alles nur noch schlimmer machen. Ehe mir irgendetwas Sinnvolles einfiel, was ich sagen könnte, klingelte es unten an der Haustür. Ich schaffte es, so wenig wie möglich zusammenzuzucken, stieß mir auf dem Weg zur Tür an der Sofaecke ordentlich das Schienbein à la Inspektor Clouseau und bekam gerade noch Franks scharfen, neugierigen Blick mit.

Es war Sam. »Und da hast du die Antwort«, sagte Frank grinsend und stemmte sich vom Fußboden auf die Beine. »Sein Vertrauen zu dir ist ungebrochen, aber mich möchte er im Auge behalten. Ich kümmere mich um den Kaffee, geh du ruhig knutschen.«

Sam war erschöpft. Ich spürte es am Gewicht seines Körpers, als er mich küsste, an der Art, wie er den Atem mit einem fast erleichterten Seufzen ausströmen ließ. »Gott, tut das gut, dich zu sehen«, sagte er, und dann, als er Frank von der Küche aus winken sah: »Oh.«

»Willkommen im Lexie-Labor«, sagte Frank fröhlich. »Kaffee? Schweinefleisch süß-sauer? Hummerchips?«

»Ja.« Sam blinzelte. »Ich meine, nein. Bloß Kaffee, danke. Ich bleibe nicht lange, wenn ihr arbeiten müsst. Ich wollte bloß … Stör ich?«

»Nein, nein«, beruhigte ich ihn. »Wir haben gerade gegessen. Hast du wirklich keinen Hunger?«

»Wirklich nicht«, sagte Sam, warf seine Tasche auf den Boden und kämpfte sich aus dem Mantel. »Hast du einen Moment Zeit? Wenn ihr wirklich noch nicht angefangen habt.«

Er richtete die Frage an mich, aber Frank sagte überschwänglich: »Ja klar. Setzen Sie sich, setzen Sie sich«, und winkte ihn zum Futon. »Milch? Zucker?«

»Keine Milch, zwei Stück Zucker«, sagte Sam und ließ sich auf den Futon fallen. »Danke.« Ich war mir ziemlich sicher, dass er ausgehungert war, dass er nichts anrühren würde, was Frank gekauft hatte, dass die Tasche, die er mitgebracht hatte, sämtliche Zutaten für etwas wesentlich Feineres als Zitronenhähnchen enthielt und dass ich, wenn ich bloß meine Hände auf seine Schultern legen könnte, die Anspannung in höchstens fünf Minuten wegmassiert hätte. Undercover zu gehen kam mir langsam wie die leichtere Übung vor.

Ich setzte mich neben Sam, so nah es ging, ohne ihn zu berühren. »Wie läuft’s?«, fragte ich.

Er drückte kurz meine Hand, langte dann nach seinem Mantel, der über der Rückenlehne des Futons hing, und fischte sein Notizbuch heraus. »Tja, ganz gut, glaub ich. Sind überwiegend noch beim Ausschließen. Richard Doyle, der Mann, der die Tote gefunden hat, sein Alibi ist wasserdicht. Von denen in den DHG-Akten, die du markiert hast, kommt auch keiner in Frage. Wir arbeiten noch den Rest durch und deine Mordfälle, aber bisher null.« Die Vorstellung, wie die Kollegen im Morddezernat meine Akten durchkämmten, während ihnen Gerüchte durch den Kopf schwirrten und das Opfer mein Gesicht trug, löste bei mir ein unangenehmes kleines Zucken zwischen den Schulterblättern aus. »Sieht nicht so aus, als wäre sie je im Internet gewesen – keine Internet-Aktivitäten unter ihrem Log-in auf den Uni-Computern, keine MySpace-Seite oder irgendwas in der Art, die E-Mail-Adresse, die sie am Trinity bekommen hat, ist kein einziges Mal benutzt worden – also auch in der Richtung keine Anhaltspunkte. Und nicht die Spur von irgendwelchen Konflikten an der Uni – dabei ist die anglistische Fakultät die reinste Gerüchteküche. Wenn sie mit jemandem Probleme gehabt hätte, hätten wir das erfahren.«

»Ich sag ja nur ungern, hab ich doch gleich gesagt«, bemerkte Frank süffisant und brachte die Tassen, »aber manchmal müssen wir im Leben auch Dinge tun, die uns unangenehm sind.«

»Ja«, sagte Sam geistesabwesend. Frank machte förmlich einen Diener, um ihm seine Tasse zu reichen, und zwinkerte mir hinter Sams Rücken zu. Ich ignorierte ihn. Sam streitet sich grundsätzlich nie mit Kollegen, die am selben Fall arbeiten, aber es gibt immer wieder Leute wie Frank, die glauben, er wäre einfach zu einfältig, um zu merken, wenn ihm jemand blöd kommt. »Deshalb hab ich gedacht, Cassie … Die Sache ist die, das Ausschließen könnte eine Ewigkeit dauern, aber solange ich kein Motiv und keine Anhaltspunkte habe, bleibt mir nichts anderes übrig. Ich weiß aber nicht, wo ich anfangen soll. Ich dachte, wenn ich nur irgendeine Idee hätte, wonach ich suche … Könntest du mir vielleicht beim Profiling helfen?«

Eine Sekunde lang war mir, als wäre die Luft im Raum vor purer Traurigkeit dunkel geworden, beißend und unauslöschlich wie Rauch. Bei jedem Mordfall, mit dem ich je betraut worden war, hatte ich genau hier in meiner Wohnung versucht, ein Profil des Täters zu entwickeln: lange Nächte, Whiskey, Rob, der ausgestreckt auf dem Sofa mit einem Gummiband spielte und alles, was ich mir einfallen ließ, auf Schwachstellen abklopfte. Für den Knocknaree-Fall hatten wir Sam mit ins Boot geholt, Sam, der mich schüchtern anlächelte, während Musik und Motten gegen die Fensterscheibe wirbelten, und mein einziger Gedanke war, wie glücklich wir drei gewesen waren, trotz allem, und wie fatal, wie verheerend arglos. Diese angespannte, überfüllte Wohnung – der Geruch nach fettigem, kaltem chinesischen Essen, mein Schienbein, das höllisch weh tat, Frank, der amüsiert aus den Augenwinkeln zusah –, das war nicht das Gleiche, es war wie ein höhnisch verzerrtes Spiegelbild in einem unheimlichen Vexierspiegel, und mein einziger Gedanke war aberwitzigerweise, ich will nach Hause.

Sam schob einen Stoß Karten zur Seite – behutsam, mit einem Blick zu uns, um sich zu vergewissern, dass er auch nichts durcheinanderbrachte – und stellte seine Tasse ab. Frank rutschte ganz an den Rand des Sofas, stützte das Kinn auf die verschränkten Finger und tat fasziniert. Ich hielt die Augen gesenkt, damit sie den Ausdruck in meinem Gesicht nicht sehen konnten. Auf dem Tisch lag ein Foto von Lexie, halb versteckt unter einem Reiskarton. Lexie auf einer Leiter in der Küche von Whitethorn House, in Latzhose und Männerhemd und mit weißer Farbe bekleckert. Zum allerersten Mal tat mir ihr Anblick gut: ein Handschellenruck am Gelenk, der mich wieder auf die Erde riss, ein Schwall kaltes Wasser ins Gesicht, der alles andere aus meinem Kopf verjagte. Fast hätte ich den Arm ausgestreckt und meine Hand auf das Foto gepresst.

»Ja, klar mach ich ein Profil«, sagte ich. »Aber du weißt, dass ich dir nicht viel liefern kann, oder? Nicht bei einer einzigen Tat.« Als Profiler braucht man ein Muster. Bei einer einzelnen Tat kannst du unmöglich sagen, was purer Zufall und was ein Anhaltspunkt ist, für den die Begrenzungen im Leben des Täters oder die verborgenen kantigen Umrisse seines Denkens die Schablone liefern. Ein Mord an einem Mittwochabend verrät dir noch nicht sehr viel; drei weitere zur gleichen Zeit am gleichen Wochentag besagen, dass der Täter an dem Abend freihat, und du solltest zweimal hinschauen, wenn du einen Verdächtigen findest, dessen Gattin mittwochs zum Bingo geht. Ein bestimmtes Wort, das bei einer Vergewaltigung ausgesprochen wird, könnte nichts besagen; fällt es aber bei drei weiteren, wird es zu einem Erkennungszeichen, das eine Freundin oder Ehefrau oder Expartnerin irgendwo wiedererkennen wird.

»Egal was«, sagte Sam. Er klappte das Notizbuch auf, zückte seinen Stift und beugte sich vor, die Augen auf mich gerichtet, bereit. »Hauptsache überhaupt was.«

»Okay«, sagte ich. Ich brauchte nicht einmal die Akte. Ich hatte schon mehr als genug über die Sache nachgedacht, während Frank wie ein Weltmeister auf dem Sofa schnarchte und mein Fenster sich von Schwarz in Grau in Gold verfärbte. »Erstens, es ist vermutlich ein Mann. Eine Frau können wir zwar nicht definitiv ausschließen – wenn eine Frau als Verdächtige in Frage kommt, ignorier sie nicht –, aber statistisch gesehen, sind es meistens Männer, die mit dem Messer töten. Vorläufig gehen wir von einem Mann aus.«

Sam nickte. »Hab ich mir auch schon gedacht. Irgendeine Idee, wie alt er sein könnte?«

»Es ist kein Teenager, dazu ist er zu methodisch und zu beherrscht. Aber es handelt sich auch nicht um einen alten Mann. Er muss kein Sportler sein, aber auf jeden Fall einigermaßen fit – laufen auf den Feldwegen, über Mauern klettern, einen Körper schleppen. Ich würde auf fünfundzwanzig bis vierzig tippen, mehr oder weniger.«

»Und ich glaube«, sagte Sam, während er eifrig schrieb, »er kennt sich in der Gegend aus.«

»Oh ja«, sagte ich. »Entweder er stammt von dort, oder er hat viel Zeit in der Umgebung von Glenskehy verbracht, so oder so. Er ist mit der Gegend gut vertraut. Er hat sich nach der Tat noch elend lange dort aufgehalten. Täter, die sich nicht auskennen, werden meist nervös und hauen ab, so schnell sie können. Und wie die Karten zeigen, sind die Feldwege da der reinste Irrgarten, aber er hat sie gefunden – mitten in der Nacht, ohne Straßenlampen –, nachdem sie ihm entwischt war.«

Aus irgendeinem Grund fand ich es diesmal schwieriger als sonst. Ich war alles, was wir hatten, bis zum Gehtnichtmehr durchgegangen, lehrbuchmäßig, aber es gelang mir einfach nicht, den Täter greifbar zu machen. Jedes Mal, wenn ich die Hand nach ihm ausstreckte, strömte er mir durch die Finger wie Rauch, um über den Horizont zu entgleiten, und die einzige Silhouette, auf die ich starrte, war die von Lexie. Ich versuchte, mich damit zu beruhigen, dass das Erstellen von Täterprofilen eine Fertigkeit ist wie jede andere auch, wie ein Rückwärtssalto, wie Fahrradfahren: Wenn du aus der Übung kommst, rostet dein Instinkt ein, aber das muss nicht heißen, dass er für immer verloren ist.

Ich griff nach meinen Zigaretten – ich kann besser denken, wenn meine Hände beschäftigt sind. »Er kennt Glenskehy, darin sind wir uns einig, und sehr wahrscheinlich kannte er die Tote. Dafür spricht erstens einmal die Positionierung der Leiche: Ihr Gesicht war weggedreht, zur Wand. Jede Art von Konzentration auf das Gesicht des Opfers – es zudecken, es entstellen, es wegdrehen – ist normalerweise ein Hinweis auf eine persönliche Beziehung. Täter und Opfer kannten sich.«

»Oder«, sagte Frank, schwang die Beine aufs Sofa und stellte sich seine Tasse auf den Bauch, »es ist purer Zufall, dass sie einfach so gelandet ist, als er sie hingelegt hat.«

»Vielleicht«, sagte ich. »Aber wir wissen auch, dass er sie gefunden hat. Das Cottage ist ein gutes Stück vom Weg entfernt. Wer nicht weiß, dass es da steht, würde es im Dunkeln nicht mal sehen. Der zeitliche Abstand verrät, dass er ihr nicht unbedingt dicht auf den Fersen war, ich bezweifle daher, dass er sie hat reingehen sehen, und sobald sie auf der Erde saß, verdeckt durch die Mauer, war sie von der Straße aus erst recht nicht zu sehen. Es sei denn, sie hatte die Taschenlampe an, und der Täter hat das Licht bemerkt – und warum sollte jemand, der sich vor einem mörderischen Irren verstecken will, eine Taschenlampe anmachen? –, dann hätte er einen Grund gehabt, dort nachzusehen. Ich glaube, er wusste, dass sie das Cottage mochte.«

»Nichts von dem besagt, dass sie ihn kannte«, sagte Frank. »Nur dass er sie kannte. Mal angenommen, er war ein Stalker, hatte sie schon eine ganze Weile belauert, eine persönliche Verbindung zu ihr gespürt, dann wusste er womöglich gut über ihre Gewohnheiten Bescheid.«

Ich schüttelte den Kopf. »Ich schließe einen Stalker nicht gänzlich aus, aber wenn es einer war, dann war er zumindest ein Bekannter von ihr. Vergiss nicht, sie wurde von vorne niedergestochen. Sie war nicht auf der Flucht vor ihm, und sie wurde nicht von hinten angegriffen. Sie standen einander vis à vis gegenüber, sie wusste, dass er da war, vielleicht haben sie sich sogar eine Weile unterhalten. Und sie hatte keinerlei Abwehrverletzungen. Für mich heißt das, sie war nicht auf der Hut. Der Täter war ganz nah, und sie hatte keine Angst vor ihm, bis zu dem Moment, wo er zustach. Ich wäre nicht so entspannt, wenn um diese Uhrzeit mitten in der Pampa ein Wildfremder auftauchen würde.«

»Das alles wird uns wesentlich mehr nützen«, sagte Frank, »sobald wir ungefähr wissen, wen die Frau alles gekannt hat.«

»Noch irgendwas, wonach ich suchen kann?«, fragte Sam, ohne auf Franks Bemerkung einzugehen – ich sah ihm an, wie viel Mühe es ihn kostete. »Würdest du sagen, er ist polizeilich erfasst?«

»Er hat vermutlich irgendwelche kriminellen Erfahrungen«, sagte ich. »Er hat gründlich hinter sich saubergemacht. Gut möglich, dass er nie geschnappt wurde, wenn er so vorsichtig ist, aber vielleicht hat er doch irgendwann Lehrgeld zahlen müssen. Wenn du die Akten durchgehst, solltest du auf so Sachen achten wie Autodiebstahl, Einbruch, Brandstiftung – irgendwas, wo man gründlich saubermachen muss, ohne direkten Kontakt mit Opfern zu haben. Keine Körperverletzung, auch nicht Vergewaltigung. Er ist so ungeschickt im Töten von Leuten, dass er keine Erfahrung mit Gewalttaten haben dürfte, zumindest so gut wie keine.«

»So ungeschickt ist er nun auch wieder nicht«, sagte Sam leise. »Er hat’s immerhin geschafft.«

»Ganz knapp«, sagte ich. »Und bloß durch unverschämtes Glück. Außerdem glaube ich nicht, dass er gekommen war, um zu töten. Bestimmte Elemente der Tat ergeben einfach keinen Sinn. Wie ich schon am Sonntag sagte, der Messerstich wirkt ungeplant, spontan, aber alles andere sieht erheblich mehr nach Planung aus. Der Täter wusste, wo er sie finden konnte – ich glaube nicht, dass er ihr zufällig über den Weg gelaufen ist, um Mitternacht auf irgendeinem Feldweg mitten in der Walachei. Entweder er kannte ihre Gewohnheiten, oder sie waren verabredet. Und nach der Tat behielt er einen kühlen Kopf und ließ sich Zeit: Er spürte sie auf, durchsuchte sie, beseitigte seine Fußspuren und wischte die Sachen sauber, die sie bei sich hatte – und das heißt, er hatte keine Handschuhe an. Was wiederum heißt, er hatte keinen Mord geplant.«

»Er hatte ein Messer dabei«, wandte Frank ein. »Was hatte er denn damit geplant, schnitzen?«

Ich zuckte die Achseln. »Ihr drohen, vielleicht. Ihr Angst einjagen, ihr imponieren, was weiß ich. Aber wenn einer, der so gründlich ist wie er, die Absicht gehabt hätte, sie zu töten, hätte er sich nicht so blöd angestellt. Der Angriff kam aus heiterem Himmel, sie muss einen Moment lang perplex gewesen sein über das, was da passiert war. Wenn er sie hätte erledigen wollen, hätte er das tun können. Stattdessen reagiert sie als Erste – sie läuft davon und hat schon einen ordentlichen Vorsprung, ehe er schaltet. Deshalb glaube ich, dass er fast genauso perplex war wie sie. Ich glaube, sie hatten sich zu einem ganz anderen Zweck getroffen, und dann ist irgendwas schiefgelaufen.«

»Wieso ist er hinter ihr her?«, fragte Sam. »Nachdem er zugestochen hatte. Warum ist er nicht abgehauen?«

»Als er sie eingeholt hatte«, sagte ich, »stellte er fest, dass sie tot war, schaffte sie in den hinteren Raum und durchsuchte ihre Taschen. Daher würde ich drauf wetten, dass irgendwas in ihren Taschen der Grund war, warum er hinter ihr her war. Er hat den Leichnam weder versteckt noch irgendwo gut sichtbar hingelegt, und keiner würde eine halbe Stunde nach jemandem suchen, bloß um ihn einfach ein paar Meter weiterzuschleifen, daher vermute ich, dass das eher nebensächlich war. Er hat sie ins Trockene gebracht, damit von draußen kein Taschenlampenlicht zu sehen war oder um raus aus dem Regen zu kommen, aber sein eigentliches Ziel war ein anderes: entweder sicherstellen, dass sie auch wirklich tot war, oder aber sie durchsuchen.«

»Wenn du damit richtigliegst, dass er sie kannte«, sagte Sam, »und dass er sie nicht töten wollte, könnte es dann nicht auch sein, dass er sie in den hinteren Raum gebracht hat, weil er sie mochte? Er hatte schon genug Schuldgefühle und wollte sie nicht auch noch draußen im Regen liegen lassen … «

»Das ist mir auch durch den Kopf gegangen. Aber dieser Typ ist clever, er denkt voraus, und er will auf keinen Fall geschnappt werden. Er hat sie in den anderen Raum geschafft, obwohl er dabei Gefahr lief, sich mit ihrem Blut zu beschmieren, noch mehr Fußspuren zu hinterlassen, Haare oder Fasern auf sie zu übertragen, und obwohl er noch mehr Zeit verlor … Ich kann mir nicht vorstellen, dass er so ein zusätzliches Risiko aus Sentimentalität eingehen würde. Er muss einen handfesten Grund gehabt haben. Sich zu vergewissern, dass sie tot war, wird nicht lange gedauert haben – jedenfalls kürzer, als sie rüberzuschaffen –, daher vermute ich, er ist ihr gefolgt und hat sie in den anderen Raum geschafft, weil er sie durchsuchen musste.«

»Weshalb?«, fragte Sam. »Wir wissen, dass er es nicht auf Geld abgesehen hat.«

»Mir fallen nur drei Gründe ein«, sagte ich. »Erstens, er wollte nachsehen, ob sie irgendwas dabeihatte, was ihn verraten könnte – ein Tagebuch, in dem sie die Verabredung vielleicht erwähnt hatte, ihr Handy, in dem seine Nummer gespeichert war, so was eben.«

»Sie hatte kein Tagebuch«, sagte Frank zur Decke. »Ich hab die Fantastischen Vier gefragt.«

»Und ihr Handy hatte sie zu Hause auf dem Küchentisch liegen lassen«, sagte Sam. »Die Mitbewohner sagen, das sei normal. Sie wollte es zwar immer mit auf ihre Spaziergänge nehmen, hat es aber meistens vergessen. Wir sind dabei, es zu untersuchen. Bisher nichts Verdächtiges.«

»Das wusste er aber nicht unbedingt«, sagte ich. »Er könnte auch nach etwas Speziellerem gesucht haben. Vielleicht sollte sie ihm irgendwas geben, und das ist dann schiefgelaufen: Sie hat es sich anders überlegt … Entweder er hat es ihrer Leiche abgenommen, oder sie hatte es gar nicht bei sich.«

»Eine Schatzkarte?«, fragte Frank eifrig. »Die Kronjuwelen?«

»Das Haus ist voll mit altem Zeug«, sagte Sam. »Wenn da irgendwas Wertvolles dabei wäre … Wurde eigentlich ein Inventarverzeichnis erstellt, für den Erben?«

»Ha«, sagte Frank. »Sie haben es doch gesehen. Wie soll da einer Inventur machen? In Simon Marchs Testament sind nur die guten Sachen aufgeführt – vor allem antike Möbel, ein paar Gemälde –, aber das ist alles nicht mehr da. Die Erbschaftssteuer war horrend. Um die zu bezahlen, musste alles, was mehr als ein paar Euro wert war, versilbert werden. Nach dem, was ich gesehen hab, ist nur noch Gerümpel übrig.«

»Die andere Möglichkeit«, sagte ich, »ist die, dass er nach irgendwas gesucht hat, was ihm verraten würde, wer sie ist. Die Verwirrung um die Identität der Frau ist weiß Gott groß genug. Mal angenommen, er hat gedacht, er würde mit mir sprechen, und ist dann misstrauisch geworden, oder mal angenommen, sie hat eine Andeutung gemacht, dass Lexie Madison gar nicht ihr richtiger Name ist. Möglich, dass er dann nach einem Ausweis oder so gesucht hat, um herauszufinden, wen er da erstochen hat.«

»Deine Szenarien lassen sich auf einen gemeinsamen Nenner bringen«, sagte Frank. Er lag zurückgelehnt da, die Arme hinterm Kopf verschränkt, und beobachtete uns, und das Funkeln in seinen Augen war noch dreister geworden. »Der Täter wollte sich einmal mit ihr treffen, was bedeutet, er könnte sich durchaus noch einmal mit ihr treffen wollen, wenn er die Gelegenheit hat. Er hatte nicht vor, sie zu töten, was bedeutet, es ist äußerst unwahrscheinlich, dass irgendeine weitere Gefahr besteht. Und er wohnt nicht in Whitethorn House.«

»Nicht unbedingt«, sagte Sam. »Wenn es einer von den Mitbewohnern war, könnte er – oder sie – der toten Lexie das Handy abgenommen haben, um sicherzugehen, dass sie nicht den Notruf gewählt oder irgendwas aufgenommen hatte. Wir wissen, sie hat andauernd mit dem Handy gefilmt. Gut möglich, dass der Täter befürchtet hat, sie könnte ihn darauf festgehalten haben.«

»Sind die Abdrücke auf dem Handy schon ausgewertet?«, fragte ich.

»Seit heute Nachmittag«, sagte Frank. »Lexie und Abigail. Abby und Daniel sagen beide, Abby hätte Lexie ihr Handy an dem Morgen gegeben, als sie das Haus verließen, um zur Uni zu fahren, und die Abdrücke bestätigen das. Die von Lexie überlagern die von Abby an mindestens zwei Stellen: Sie hat das Handy nach Abby angefasst. Niemand hat der toten Lexie das Handy abgenommen. Es lag zu Hause auf dem Küchentisch, als sie starb, und jeder im Haus hätte es finden können, ohne ihr hinterherlaufen zu müssen.«

»Sie hätten auch ihr Tagebuch an sich nehmen können«, sagte Sam. »Wir haben nur die Aussage der vier, dass Lexie keins hatte.«

Frank verdrehte die Augen. »Wenn Sie so anfangen, haben auch wir nur die Aussage der vier, dass sie überhaupt da gewohnt hat. Nach allem, was wir wissen, könnte sie mit ihnen vor einem Monat einen Streit gehabt haben und als Geliebte eines saudischen Prinzen in ein Dubliner Penthouse gezogen sein, nur dass nicht der Hauch eines Beweises in diese Richtung deutet. Die Geschichten der vier stimmen tadellos überein, wir haben keinen von ihnen bei einer Lüge ertappt, sie wurde außerhalb des Hauses erstochen –«

»Was denkst du?« Sam fiel Frank ins Wort. »Passen sie ins Profil?«

»Ja, Cassie«, sagte Frank zuckersüß. »Was denkst du

Sam wollte so sehr, dass es einer von ihnen war. Einen Moment lang wünschte ich tatsächlich, ich könnte ihm den Gefallen tun, egal, was das für die Ermittlungen bedeuten würde, nur um zu sehen, dass der erschöpfte Ausdruck aus seinem Gesicht verschwand, wieder Leben in seine Augen trat. »Statistisch gesehen«, sagte ich, »klar, durchaus. Das Alter stimmt, sie kennen die Gegend, sie sind clever, sie kannten sie – nicht nur das: Sie kannten sie am besten, und im engeren Umfeld findet man meistens den Mörder. Keiner von ihnen ist polizeibekannt, aber wie gesagt, einer von ihnen könnte irgendwann mal irgendwas gemacht haben, wovon wir nichts wissen. Am Anfang hab ich sie deswegen in die engere Wahl genommen, ja. Aber je mehr ich höre … « Ich fuhr mir mit den Händen durchs Haar und überlegte, wie ich es ausdrücken sollte. »Es gibt eine Sache, bei der ich mich ungern nur auf ihre Aussagen verlassen würde: Haben wir irgendeine unabhängige Bestätigung dafür, dass sie tatsächlich regelmäßig allein spazieren gegangen ist? Dass keiner von den anderen sie begleitet hat?«

»Ja«, sagte Frank und tastete auf dem Fußboden nach seinen Zigaretten, »die haben wir. Eine englische Doktorandin namens Brenda Grealey hat denselben Doktorvater wie Lexie.« Brenda Grealey stand auf der BK-Liste: dicklich, Froschaugen, Pausbacken, die schon leicht schlaff wirkten, und eine kupferrote Lockenmähne. »Sie ist von der neugierigen Sorte. Nachdem die fünf zusammengezogen waren, hat sie Lexie gefragt, ob sie überhaupt mal ungestört sein kann, bei den ganzen Typen im Haus. Ich hab den Eindruck, Brenda meinte das zweideutig, sie wollte wohl irgendwelche pikanten Sexgeschichten hören, aber Lexie hat sie anscheinend nur verständnislos angeguckt und gesagt, sie würde jeden Abend allein einen langen Spaziergang machen, und mehr Ungestörtheit bräuchte sie nicht, danke, sie würde sich ja nicht mit Leuten abgeben, die ihr nichts brächten. Dann ist sie gegangen. Ich bin nicht mal sicher, ob die gute Brenda überhaupt kapiert hat, dass das gegen sie ging.«

»Okay«, sagte ich. »In dem Fall weiß ich wirklich nicht, wie einer aus dem Haus es gewesen sein soll. Überlegen wir mal, wie das hätte ablaufen müssen. Einer von ihnen muss mit Lexie unter vier Augen sprechen, über irgendwas Wichtiges. Also, statt es unauffällig anzustellen, zum Beispiel mit ihr in der Uni einen Kaffee trinken zu gehen oder so, begleitet er sie auf ihrem Spaziergang oder folgt ihr. So oder so, er durchbricht den gewohnten Ablauf – und alle fünf sind Gewohnheitstiere – und sagt damit allen, einschließlich Lexie, laut und deutlich, dass irgendwas im Busch ist. Und dann nimmt er ein Messer mit. Wir haben es hier mit netten Mittelschichtsintellektuellen zu tun –«

»Sie meint, das sind alles Weicheier«, klärte Frank Sam auf, während er sein Feuerzeug klicken ließ.

»Ach komm«, sagte Sam und legte seinen Stift hin. »Moment mal. Du kannst sie nicht ausschließen, nur weil sie aus der Mittelschicht kommen. Wie viele Fälle hatten wir nicht schon, wo ein netter, angesehener –«

»Tu ich ja gar nicht, Sam«, sagte ich. »Das Töten ist nicht das Problem. Wenn sie erwürgt worden wäre oder man ihren Kopf gegen eine Mauer geschlagen hätte, dann käme einer aus dem Haus für mich durchaus als Täter in Frage. Ich könnte mir sogar gut vorstellen, dass einer von ihnen sie erstochen hat, falls er zufällig ein Messer in der Hand gehabt hätte. Ich meine nur, dass er erst gar kein Messer dabeigehabt hätte – es sei denn, er hatte wirklich geplant, sie umzubringen, und das passt, wie gesagt, nicht ins Profil. Ich würde meine Ersparnisse darauf verwetten, dass die vier normalerweise kein Messer dabeihaben, und wenn sie bloß jemanden bedrohen oder einschüchtern wollten, würden sie nicht mal auf die Idee kommen, dafür ein Messer zu benutzen. In so einer Welt leben die nicht. Wenn sie sich für einen großen Kampf rüsten, überlegen sie sich Argumente, die suchen sich keine Messer aus.«

»Ja«, sagte Sam nach kurzem Zögern. Er atmete tief ein und nahm wieder seinen Stift, verharrte damit über der Seite, als hätte er vergessen, was er schreiben wollte. »Schätze, du hast recht.«

»Selbst wenn wir die Möglichkeit durchspielen, dass einer von ihnen ihr gefolgt ist«, sagte ich, »und ein Messer mitgenommen hat, um ihr aus irgendeinem Grund Angst einzujagen, was hat er gedacht, was passieren würde? Hat er ernsthaft erwartet, ungeschoren davonzukommen? Sie gehören demselben Freundeskreis an. Einem kleinen, intimen Kreis. Sie hätte doch nur zu allem, was er von ihr wollte, ja und amen sagen müssen, und wäre dann schnurstracks nach Hause, um den anderen drei brühwarm zu erzählen, was passiert ist. Prompt gibt es große Bestürzung und Entsetzen, und sehr wahrscheinlich wäre unser Messerheld – es sei denn, es ist Daniel – aus Whitethorn House rausgeschmissen worden. Das sind clevere Leute, Sam. So etwas Krasses hätten sie nicht übergehen können.«

»Fairerweise muss man zugeben«, sagte Frank hilfsbereit und wechselte die Seiten, »dass clevere Leute andauernd blöde Sachen machen.«

»Aber nicht so was«, sagte Sam. Er legte seinen Stift quer über das Notizbuch und drückte zwei Finger in die Augenwinkel. »Blöde Sachen, ja, klar. Aber nichts, was überhaupt keinen Sinn ergibt.«

Für den Ausdruck in seinem Gesicht war ich verantwortlich, und ich fühlte mich beschissen. »Nehmen sie Drogen?«, fragte ich. »Auf Koks zum Beispiel können die wenigsten klar denken.«

Frank schnaubte Rauch aus. »Kann ich mir nicht vorstellen«, sagte Sam, ohne aufzublicken. »Die sind brav und anständig. Sie trinken schon mal was, das ja, aber so wie sie aussehen, würde ich sagen, die rauchen nicht mal Joints und nehmen erst recht keine harten Drogen. Und das toxikologische Screening der Toten war ja auch blitzsauber.«

Der Wind warf sich wummernd und klappernd gegen das Fenster, wich wieder zurück. »Dann kommen sie nicht in Frage«, sagte ich, »es sei denn, wir haben irgendwas Großes übersehen.«

Nach einem Augenblick sagte Sam: »Ja.« Er schloss bedächtig sein Notizbuch, hakte den Stift daran fest. »Also muss ich wohl anfangen, nach was Großem zu suchen.«

»Kann ich Sie was fragen?«, sagte Frank. »Wieso sind Sie dermaßen scharf auf die vier?«

Sam rieb sich mit den Händen übers Gesicht und blinzelte schnell, als versuchte er, wieder klarer zu sehen. »Weil sie da sind«, sagte er nach einem Moment. »Und sonst niemand, zumindest soweit wir wissen. Und wenn es keiner von ihnen war, was haben wir dann?«

»Sie haben jetzt das schöne Täterprofil«, rief Frank ihm in Erinnerung.

»Ich weiß«, sagte Sam dunkel. »Und dafür danke ich dir, Cassie, ehrlich. Aber im Augenblick hab ich niemanden, auf den es passt. Ich hab jede Menge Männer und auch Frauen aus der Gegend in der richtigen Altersgruppe, ein paar von denen sind vorbestraft, und ich würde sagen, eine ganze Reihe ist clever und fähig, aber es deutet nichts darauf hin, dass einer von ihnen das Opfer kannte. Ich hab eine Menge Uni-Kontakte der Toten, und ein paar von denen erfüllen so gut wie alle Kriterien des Profils, leider ist offenbar keiner dabei, der je auch nur in der Nähe von Glenskehy war, geschweige denn, sich in der Gegend auskennt. Es gibt also keinen, der hundertprozentig passt.«

Frank zog eine Augenbraue hoch. »Ich will ja nicht drauf rumreiten«, sagte er, »aber genau den werden Detective Maddox und ich suchen.«

»Ja«, sagte Sam, ohne ihn anzusehen. »Und wenn ich ihn schnell genug finde, könnt ihr die Sache abblasen.«

»Dann sollten Sie sich sputen«, sagte Frank. Er lag noch immer auf dem Sofa, beobachtete Sam mit halb zusammengekniffenen Augen durch die Rauchkringel hindurch. »Sonntag soll’s nämlich losgehen.«

Eine Sekunde lang trat absolute Stille ein. Sogar der Wind draußen schien jäh verstummt zu sein. Frank hatte bisher keinen genauen Termin genannt. Am äußeren Rand meines Gesichtsfeldes zuckten und kristallisierten sich die Karten und Fotos, entfalteten sich zu sonnenglänzenden Blättern, geriffeltem Glas, glattgewetztem Stein, wurden real.

»Diesen Sonntag?«, sagte ich.

»Guck mich nicht so fassungslos an«, sagte Frank zu mir. »Du machst das schon, Kleines. Und sieh es mal so: Du musst meine hässliche Visage nicht mehr sehen.« In diesem Moment kam mir das wirklich wie ein ziemlich großes Plus vor.

»Klar«, sagte Sam. Er trank seinen Kaffee in langen Schlucken und verzog das Gesicht. »Dann mach ich mich mal auf den Weg.« Er stand auf und klopfte geistesabwesend seine Taschen ab.

Sam wohnt in einer von diesen schaurigen Siedlungen am Arsch der Welt, er war zum Umfallen müde, und der Wind nahm wieder zu, riss an den Dachpfannen. »Sam, fahr jetzt nicht die weite Strecke«, sagte ich. »Nicht bei dem Wetter. Bleib hier. Wir arbeiten bestimmt bis spät in die Nacht, aber –«

»Ja, bleiben Sie bei uns«, sagte Frank, breitete die Arme aus und grinste zu ihm hoch. »Wir machen eine Pyjamaparty. Rösten Marshmallows. Spielen ›Ich sehe was, was du nicht siehst‹.«

Sam nahm seinen Mantel von der Futonlehne und starrte darauf, als wüsste er nicht genau, was er damit machen sollte. »Äh, nein; ich fahr nicht nach Hause, bestimmt nicht. Ich will noch mal ins Büro, ein paar Akten durchgehen. Ich komm schon klar.«

»Na gut«, sagte Frank munter und winkte zum Abschied. »Viel Spaß. Aber rufen Sie uns gleich an, wenn Sie einen Hauptverdächtigen gefunden haben.«

Ich brachte Sam nach unten und gab ihm an der Haustür einen Abschiedskuss, und er stapfte verbissen zu seinem Wagen, die Hände in den Taschen und den Kopf tief gegen den Wind gebeugt. Vielleicht lag es bloß an der Böe, die mich die Treppe hoch verfolgte, aber ohne ihn kam mir meine Wohnung irgendwie kälter vor, trostloser, die Luft schneidend. »Er wäre sowieso gegangen, Frank«, sagte ich. »Auch wenn du dich nicht wie der letzte Wichser aufgeführt hättest.«

»Vielleicht«, sagte Frank, schwang sich in die Vertikale und fing an, die Imbisspackungen zu stapeln. »Aber soweit ich das von den Handyfilmen her sagen kann, hat Lexie das Wort ›Wichser‹ nicht benutzt. In den entsprechenden Situationen hat sie ›Blödmann‹ gesagt – gelegentlich auch ›Trottel‹ oder ›Arschloch‹. Solltest du dir vielleicht merken. Ich mach den Abwasch, wenn du mir ohne nachzusehen sagen kannst, wie du vom Haus zum Cottage kommst.«



Sam machte danach keinen Versuch mehr, abends für mich zu kochen. Er kam zu unregelmäßigen Zeiten, schlief bei sich zu Hause und sagte nichts, wenn er Frank auf meinem Sofa liegen sah. Meistens blieb er nur gerade lang genug, um mir einen Kuss und eine Tüte mit Einkäufen zu geben und mich rasch auf den neuesten Stand zu bringen. Viel hatte er nicht zu berichten. Die Spurensicherung und die Sonderfahnder hatten jeden Quadratzentimeter auf den Wegen abgesucht, wo Lexie spätabends immer spazieren gegangen war: keine Blutspur, keine identifizierbaren Fußabdrücke, keine Anzeichen für einen Kampf oder ein Versteck – sie machten den Regen dafür verantwortlich – und keine Waffe. Sam und Frank hatten ein paar Beziehungen spielen lassen, damit die Medien sich nicht auf die Sache stürzten. Sie gaben der Presse einen sorgsam allgemeingehaltenen Bericht über einen tätlichen Angriff in Glenskehy, machten vage Andeutungen, dass das Opfer ins Wicklow Hospital gebracht worden war, und ließen das Krankenhaus diskret überwachen, aber niemand kam, um Lexie zu besuchen, nicht mal ihre Mitbewohner. Die Informationen der Telefongesellschaft zu Lexies Handy waren unergiebig. Die Zeugenbefragungen im Dorf erbrachten unverbindliches Schulterzucken, nicht überprüfbare Alibis (»und nach CSI sind meine Frau und ich gleich ins Bett«), ein paar abfällige Bemerkungen über die reichen Snobs in Whitethorn House, extrem viele abfällige Bemerkungen über Byrne und Doherty und ihr plötzliches Interesse an Glenskehy und nicht einen einzigen nützlichen Hinweis.

Angesichts ihrer Beziehung zu den Einheimischen und der allgemeinen Begeisterung, die sie an den Tag legten, waren Doherty und Byrne dazu verdonnert worden, sich zig Bänder mit Aufnahmen von Überwachungskameras daraufhin anzusehen, ob irgendwelche Unbekannten wiederholt in Glenskehy aufgetaucht waren, aber die Standorte der Kameras waren für diesen Zweck wenig geeignet, daher fanden sie bloß heraus, dass in der Mordnacht zwischen zehn und zwei Uhr höchstwahrscheinlich niemand auf direktem Weg in das Dorf hinein- oder hinausgefahren war. Prompt fing Sam wieder von den Mitbewohnern an, woraufhin Frank die mannigfachen Möglichkeiten aufzählte, wie jemand nach Glenskehy gelangt sein konnte, ohne von einer Überwachungskamera erfasst zu werden, woraufhin Byrne schnippische Bemerkungen über Schlipsträger fallen ließ, die aus Dublin angegondelt kämen und anderer Leute Zeit mit sinnloser Fleißarbeit vergeudeten. Ich hatte den Eindruck, dass eine dichte, elektrisch geladene Wolke aus Sackgassen und Revierkämpfen und einem scheußlichen unguten Gefühl den SOKO-Raum verhüllte.

Frank hatte den Mitbewohnern gesagt, dass Lexie nach Hause käme. Sie hatten ihr Sachen geschickt: eine Karte mit Genesungswünschen und ein halbes Dutzend Schokoriegel, einen hellblauen Pyjama, Kleidung für die Fahrt nach Hause, Feuchtigkeitscreme – die war bestimmt von Abby –, zwei Bücher von Barbara Kingsolver, einen Walkman und einen Haufen selbst aufgenommene Kassetten. Mal ganz abgesehen davon, dass ich solche Kassetten nicht mehr gesehen hatte, seit ich zwanzig war, konnte ich den Musikgeschmack nicht so richtig einordnen – Stücke von Tom Waits und Bruce Springsteen, Musik für Autofahrten nachts auf langen Highways, kunterbunt gemischt mit Edith Piaf und den Guillemots und einer Frau namens Amalia Rodrigues, die ein kehliges Portugiesisch sang. Zumindest gefiel mir alles ganz gut. Wenn was von Eminem dabei gewesen wäre, hätte ich alles abblasen müssen. Auf der Karte stand »Alles Liebe«, gefolgt von den vier Namen, sonst nichts, und diese Kürze verlieh ihr etwas Geheimnisvolles, als wären Botschaften darin verborgen, die ich nicht deuten konnte. Die Schokoriegel aß Frank.

Die offizielle Darstellung lautete, dass Lexie im Koma das Kurzzeitgedächtnis verloren hätte: Sie konnte sich an den Angriff auf sie gar nicht mehr erinnern und an ganz wenig aus den Tagen davor. »Was durchaus Vorteile hat«, stellte Frank klar. »Wenn du irgendwas durcheinanderbringst, kannst du einfach bestürzt aus der Wäsche gucken und irgendwas Hilfloses über das Koma murmeln, und keiner wird sich trauen, dich zu bedrängen.« Ich hatte inzwischen meiner Tante und meinem Onkel und meinen Freunden erzählt, ich würde verreisen, um eine Fortbildung zu machen – ich drückte mich vage aus –, und käme erst in einigen Wochen zurück. Sam hatte meine längere Abwesenheit von der Arbeit plausibel gemacht, indem er Quigley, der größten Plaudertasche im Morddezernat, ganz im Vertrauen erzählte, ich würde mich für einige Zeit beurlauben lassen, um meinen Uni-Abschluss nachzumachen, was auch eine gute Erklärung für den Fall der Fälle lieferte, dass mich irgendwer in der Stadt sah und sich über mein Studentenoutfit wunderte. Quigley besteht hauptsächlich aus einem breiten Hintern und einem großen Mund, und er konnte mich nie besonders leiden. Innerhalb von vierundzwanzig Stunden würde sich meine Beurlaubung herumgesprochen haben, vermutlich gewürzt mit ein paar reißerischen Zugaben (Schwangerschaft, Psychose, Cracksucht).

Am Donnerstag bombardierte Frank mich bereits mit Fragen: Wo sitzt du beim Frühstück? Wo steht das Salz? Wer nimmt dich mittwochmorgens mit zur Uni? In welchem Raum ist das Büro deines Doktorvaters? Wenn ich etwas nicht wusste, schoss er sich auf den Bereich ein, bearbeitete ihn mit Hilfe von allem, was ihm zur Verfügung stand – Fotos, Anekdoten, Handyfilme, Audiomitschnitte von Vernehmungen –, bis ich das Gefühl hatte, es wären meine eigenen Erinnerungen, und mir die Antwort ganz automatisch über die Lippen kam. Dann setzte er das Trommelfeuer aus Fragen fort: Wo hast du vorletztes Jahr Weihnachten gefeiert? An welchem Wochentag bist du mit Einkaufen dran? Es war, als säße eine menschliche Tennisballmaschine bei mir auf dem Sofa.

Ich sagte es Sam nicht – ich hatte deshalb irgendwie ein schlechtes Gewissen –, aber ich genoss diese Woche in vollen Zügen. Ich liebe Herausforderungen. Hin und wieder kam mir schon der Gedanke, dass ich mich in einer total bizarren Situation befand, die aller Voraussicht nach nur noch bizarrer werden würde. Dieser Fall hatte so sehr etwas von einem Möbiusband, dass es schwierig war, den Überblick zu behalten: überall lauter Lexies, die an den Rändern ineinanderflossen, bis man nicht mehr wusste, über welche man eigentlich sprach. Ab und an musste ich mich bremsen, Frank zu fragen, wie es ihr ging.



Franks Schwester Jackie war Friseurin, und am Freitagabend brachte er sie mit zu mir, damit sie mir die Haare schnitt. Jackie war spindeldürr, wasserstoffblond und völlig unbeeindruckt von ihrem großen Bruder. Ich mochte sie.

»Ah ja, da muss wirklich was runter«, stellte sie fest und fuhr mir professionell mit langen lila Fingernägeln durch den Pony. »Wie hätten Sie’s denn gern?«

»Moment«, sagte Frank, fischte ein Tatortfoto hervor und gab es ihr. »Kriegst du das genauso hin?«

Jackie hielt das Foto zwischen Daumen und Zeigefingerspitze und betrachtete es misstrauisch. »Moment«, sagte sie. »Ist die Frau etwa tot?«

»Das ist vertraulich«, sagte Frank.

»Vertraulich, von wegen. Ist das Ihre Schwester, Liebes?«

»Sehen Sie mich nicht so an«, sagte ich. »Das war alles Franks Idee. Ich bin gar nicht gefragt worden.«

»Hören Sie bloß nicht auf den. Moment –« Sie warf wieder einen Blick auf das Foto und hielt es Frank mit ausgestrecktem Arm hin. »Gott, ist das widerlich. Kannst du nicht endlich mal was Anständiges machen, Francis? Den Verkehr regeln, irgendwas Nützliches. Ich hab zwei Stunden bis in die Stadt gebraucht –«

»Würdest du bitte einfach nur schneiden, Jackie?«, sagte Frank und zerwühlte sich genervt die Haare, so dass sie in Büscheln hochstanden. »Und aufhören, mich kirre zu machen?« Jackie warf mir einen Seitenblick zu, und wir wechselten ein kleines, schadenfrohes Frauenschmunzeln.

»Und vergiss nicht«, sagte Frank streitlustig, als er es mitbekam, »kein Wort über die Sache hier, zu niemandem. Klar? Das ist ganz wichtig.«

»Ja, klar«, sagte Jackie und zog Kamm und Schere aus ihrer Tasche. »Ganz wichtig. Los, mach uns eine Tasse Tee, ja? Das heißt, wenn Sie nichts dagegen haben, Liebes«, fügte sie an mich gerichtet hinzu.

Frank schüttelte den Kopf und trottete zur Spüle. Jackie kämmte mir die Haare über die Augen und zwinkerte mir zu.

Als sie fertig war, sah ich anders aus. Ich hatte mir den Pony noch nie so kurz schneiden lassen; es war eine kleine Veränderung, aber es machte mein Gesicht jünger und nackter, verlieh ihm die großäugige, trügerische Unschuld eines Models. Je länger ich an dem Abend vor dem Schlafengehen in den Badezimmerspiegel starrte, desto weniger sah ich aus wie ich. Als ich schließlich an den Punkt kam, wo ich mich nicht mehr erinnern konnte, wie ich mal ausgesehen hatte, gab ich auf, zeigte dem Spiegel den Stinkefinger und ging ins Bett.



Am Samstagnachmittag sagte Frank: »Ich glaube, wir sind so weit, es kann losgehen.«

Ich lag auf dem Sofa, die Beine über die Armlehne gehängt, und ging ein letztes Mal die Fotos von Lexies Tutorenkursen durch, bemüht, einen möglichst gleichgültigen Eindruck zu machen. Frank tigerte auf und ab: Je näher eine Operation rückt, desto weniger sitzt er.

»Morgen«, sagte ich. Das Wort brannte mir im Mund, ein wildes, sauberes Brennen wie Schnee, das mir den Atem nahm.

»Morgen Nachmittag – du fängst mit einem halben Tag an, lässt es schön langsam angehen. Ich sag den vier heute Abend Bescheid, damit sie auch alle da sind und dich herzlich willkommen heißen. Meinst du, du bist bereit?«

Ich hatte keine Vorstellung davon, was bei einer Operation wie dieser das Wort »bereit« überhaupt bedeuten sollte. »So bereit, wie ich nur sein kann«, sagte ich.

»Lass noch mal hören: Welches Ziel hast du in Woche eins?«

»Nicht erwischt werden, hauptsächlich«, sagte ich. »Und nicht getötet werden.«

»Nicht hauptsächlich, ausschließlich.« Frank schnippte im Vorbeigehen mit den Fingern vor meinen Augen. »He. Konzentrier dich. Das ist wichtig.«

Ich legte die Fotos auf meinen Bauch. »Ich konzentrier mich. Was ist denn?«

»Wenn dir jemand auf die Schliche kommt, dann in den ersten paar Tagen, während du noch dabei bist, Fuß zu fassen, und alle dich beobachten. Also, in Woche eins machst du nichts anderes als dich allmählich einleben. Das ist harte Arbeit, es wird dich am Anfang schlauchen, und wenn du es übertreibst, machst du Fehler – und ein Fehler genügt. Also immer schön piano. Zieh dich zurück, wenn du kannst: Geh früh ins Bett, lies ein Buch, wenn die anderen Karten spielen. Wenn du es bis zum nächsten Wochenende schaffst, weißt du, wie der Hase läuft, alle anderen haben sich dran gewöhnt, dass du wieder da bist, sie werden nicht mehr groß auf dich achten, und du hast wesentlich mehr Spielraum. Aber bis dahin, Kopf runter: keine Risiken, kein Rumschnüffeln, nichts, was irgendwen stutzig machen könnte. Denk nicht mal an den Fall. Es ist mir völlig egal, wenn du heute in einer Woche noch keine einzige nützliche Info für mich hast, solange du noch in dem Haus bist. Falls ja, schätzen wir die Lage neu ein, und dann sehen wir weiter.«

»Aber du glaubst im Grunde nicht, dass ich dann noch in dem Haus bin«, sagte ich. »Oder?«

Frank blieb stehen und bedachte mich mit einem langen, ruhigen Blick. »Würde ich dich da reinschicken«, fragte er, »wenn ich nicht glauben würde, dass es machbar ist?«

»Klar würdest du«, sagte ich. »Solange du denkst, die Ergebnisse könnten so oder so interessant sein, würdest du nicht mit der Wimper zucken.«

Er lehnte sich gegen den Fensterrahmen und schien darüber nachzudenken. Das Licht war hinter ihm, und ich konnte seinen Gesichtsausdruck nicht sehen. »Möglich«, sagte er, »aber irrelevant. Ja, sicher, es ist verflucht riskant. Das wusstest du von Anfang an. Aber es ist machbar, solange du vorsichtig bist, nicht die Nerven verlierst und nicht ungeduldig wirst. Weißt du noch, was ich beim letzten Mal gesagt hab, was das Fragen anging?«

»Klar«, sagte ich. »Spiel die Unschuldige und frag so viel wie möglich.«

»Diesmal ist es anders. Du musst genau das Gegenteil machen: Stell überhaupt keine Fragen, es sei denn, du bist absolut sicher, dass du die Antwort nicht schon kennen müsstest. Was im Grunde heißt, dass du niemanden irgendwas fragen darfst.«

»Was soll ich denn dann machen, wenn ich keine Fragen stellen kann?« Ich hatte mir auch schon Gedanken darüber gemacht.

Frank durchquerte den Raum mit schnellen Schritten, schob Papiere vom Couchtisch und setzte sich, dann beugte er sich zu mir, die blauen Augen beschwörend auf mir. »Du hältst Augen und Ohren weit offen. Das Hauptproblem bei dieser Ermittlung ist, dass wir keinen Verdächtigen haben. Deine Aufgabe ist es, einen zu benennen. Denk dran, egal, was du rausfindest, es wird vor Gericht ohnehin nicht zulässig sein, da du die Verdächtigen ja wohl schlecht über ihre Rechte aufklären kannst, wir sind also nicht auf ein Geständnis oder so aus. Den Teil kannst du mir und unserem Sammy überlassen. Wir besorgen die Beweise, wenn du uns einfach nur in die richtige Richtung lenkst. Finde raus, ob da draußen jemand ist, der es bisher geschafft hat, nicht auf unserem Radarschirm aufzutauchen – entweder jemand aus der Vergangenheit der Frau oder jemand, den sie noch nicht so lange kannte und den sie verschwiegen hat. Wenn irgendwelche Leute Kontakt zu dir aufnehmen, die nicht auf der BK-Liste stehen – telefonisch, persönlich, wie auch immer –, gehst du drauf ein, findest raus, wer sie sind und in welchem Verhältnis sie zu dem Opfer standen, und versuchst, Telefonnummern und vollständige Namen rauszukriegen.«

»Verstehe«, sagte ich. »Dein großer Unbekannter.« Es klang alles ganz plausibel, aber andererseits klingt Frank immer so. Ich war mir nach wie vor ziemlich sicher, dass Sam recht hatte und Frank die Sache nicht bloß durchziehen wollte, weil er dachte, sie hätte auch nur den Hauch einer Chance, sondern vor allem, weil sie eine so umwerfende, waghalsige, absurde, einmalige Gelegenheit darstellte. Ich beschloss, dass es mir egal war.

»Genau. Passend zu unserer großen Unbekannten. Außerdem behältst du die Mitbewohner im Auge und bringst sie zum Reden. Ich stufe sie nicht als Verdächtige ein – ich weiß, dein Sammy hat es sich in den Kopf gesetzt, dass es einer von ihnen war, aber ich seh das wie du, sie passen nicht ins Profil –, ich bin mir aber ziemlich sicher, dass sie uns nicht alles erzählen. Du wirst verstehen, was ich meine, wenn du sie kennenlernst. Auch wenn es was völlig Irrelevantes ist, vielleicht dass sie bei Klausuren geschummelt haben oder Schnaps im Garten brennen oder wissen, wer der Daddy ist, aber ich möchte selbst entscheiden, was davon relevant ist und was nicht. Über so was würden sie niemals mit der Polizei reden, aber wenn du’s richtig anstellst, reden sie vielleicht mit dir. Zerbrich dir nicht den Kopf wegen ihrer anderen BKs – wir haben nichts, was auf einen von ihnen hindeutet, und Sammy und ich bleiben ohnehin an ihnen dran –, aber wenn sich einer auch nur ansatzweise verdächtig benimmt, sagst du mir natürlich Bescheid. Verstanden?«

»Verstanden«, sagte ich.

»Noch eine letzte Sache«, sagte Frank. Er stand vom Tisch auf, nahm unsere Kaffeetassen und brachte sie zur Kochnische. Wir waren an dem Punkt angelangt, wo zu jeder Tagesund Nachtzeit eine große Kanne starker Kaffee auf der Warmhalteplatte stand. Noch eine Woche länger, und wir hätten das Pulver wahrscheinlich direkt mit dem Löffel aus der Packung gegessen. »Ich wollte schon länger mit dir drüber reden.«

Damit hatte ich schon seit Tagen gerechnet. Ich blätterte die Fotos wie Karteikarten durch und konzentrierte mich so gut ich konnte darauf, die Namen im Kopf aufzusagen: Cillian Wall, Chloe Nelligan, Martina Lawlor … »Schieß los«, sagte ich.

Frank stellte die Tassen ab und fing an, mit meinem Salzstreuer zu spielen, drehte ihn vorsichtig zwischen den Fingern. »Ich sprech das nur ungern an«, sagte er, »aber was will man machen, das Leben ist manchmal zum Kotzen. Du weißt selbst, dass du – wie soll ich sagen – in letzter Zeit ein wenig schreckhaft bist, ja?«

»Ja«, sagte ich, die Augen weiter auf die Fotos gerichtet. Isabella Smythe, Brian Ryan – seine Eltern waren entweder nicht ganz klar im Kopf, oder sie hatten einen verschrobenen Sinn für Humor –, Mark O'Leary … »weiß ich.«

»Ich weiß nicht, ob das mit diesem Fall zusammenhängt oder ob du vorher schon so warst, und das muss ich auch nicht wissen. Wenn es bloß Lampenfieber ist, kann es gut sein, dass es verschwindet, sobald du im Haus bist. Aber eines wollte ich dir sagen: Wenn es nicht verschwindet, keine Panik. Fang nicht an, dich selbst in Frage zu stellen, sonst bringst du dich so weit, dass du die Nerven verlierst, und versuch auch nicht, es zu verbergen. Nutze es. Lexie hat schließlich allen Grund, ein wenig zittrig zu sein, und das solltest du für deine Zwecke einsetzen. Nutze, was du hast, selbst wenn du es dir nicht unbedingt ausgesucht hättest. Alles ist eine Waffe, Cass. Alles.«

»Ich werd’s mir merken«, sagte ich. Der Gedanke, dass mir der Knocknaree-Fall tatsächlich noch zugutekommen würde, löste etwas Verworrenes in meiner Brust aus, machte das Atmen schwer. Ich wusste, wenn ich mit der Wimper zuckte, würde Frank es merken.

»Glaubst du, du schaffst das?«

Lexie, dachte ich, Lexie würde ihm nicht sagen, er soll sich um seinen eigenen Kram kümmern und sie ihren machen lassen, was ich instinktiv sagen wollte, und sie würde ihm garantiert nicht antworten. Lexie würde ihm ins Gesicht gähnen oder ihm sagen, er solle aufhören mit seinen großmütterlichen Nörgeleien und Belehrungen, oder ein Eis verlangen. »Die Kekse sind alle«, sagte ich und reckte mich – die Fotos rutschten mir vom Bauch und verteilten sich auf dem Boden. »Los, geh welche kaufen. Mit Zitronencreme«, und dann lachte ich laut auf über den Ausdruck in Franks Gesicht.



Frank gab mir gnädigerweise den Samstagabend frei – ein Herz aus Gold hat er, unser Frankie –, damit Sam und ich uns voneinander verabschieden konnten. Sam kochte ein Hähnchen-Tikka. Ich versuchte, zum Nachtisch ein dazu unpassendes Tiramisu hinzukriegen, das beunruhigend aussah, aber ganz gut schmeckte. Wir sprachen über Belangloses, unwichtiges Zeug, fassten uns quer über den Tisch an den Händen und tauschten die kleinen Geschichten aus, die frische Pärchen einander erzählen und aufbewahren wie Strandfunde: Anekdoten aus unserer Kindheit, die größten Dummheiten, die wir als Jugendliche angestellt hatten. Lexies Sachen, die an der Kleiderschranktür hingen, schimmerten in der Ecke wie grelle Sonne auf Sand, aber wir erwähnten sie nicht, kein einziges Mal.

Nach dem Essen kuschelten wir auf dem Sofa. Ich hatte den Kamin angemacht, Sam hatte eine CD aufgelegt. Es hätte ein ganz normaler Abend sein können, er hätte allein uns gehören können, wenn da nicht diese wartenden Klamotten und mein schneller, einsatzbereiter Pulsschlag gewesen wären.

»Wie fühlst du dich?«, fragte Sam.

Ich hatte schon gehofft, wir würden den Abend durchstehen, ohne über morgen zu reden, aber realistisch gesehen war das wahrscheinlich zu viel verlangt. »Einigermaßen«, sagte ich.

»Bist du nervös?«

Ich überlegte. Die ganze Situation war wahrscheinlich auf zig Arten total meschugge. Eigentlich hätte ich vor Angst wie gelähmt sein müssen. »Nein«, sagte ich. »Aufgeregt.«

Ich spürte Sam nicken, oben gegen meinen Kopf. Er strich mir mit einer Hand in einem langsamen, beruhigenden Rhythmus über die Haare, aber seine Brust fühlte sich an meiner bretthart an, als würde er die Luft anhalten.

»Du bist immer noch dagegen, stimmt’s?«, sagte ich.

»Ja«, sagte Sam leise. »Stimmt.«

»Wieso hast du es dann nicht verhindert? Du leitest die Ermittlung. Du hättest dich querstellen können, jederzeit.«

Sams Hand stockte. »Willst du das?«

»Nein«, sagte ich. Wenigstens das wusste ich ganz sicher. »Auf gar keinen Fall.«

»Es wäre nicht leicht, zu diesem Zeitpunkt. Jetzt, wo der Undercover-Einsatz losgeht, ist Mackey verantwortlich. Da hab ich keinerlei Befugnis. Aber wenn du es dir anders überlegt hast, finde ich einen Weg –«

»Hab ich nicht, Sam. Ehrlich. Ich hab mich bloß gefragt, warum du am Anfang überhaupt dein O.K. gegeben hast.«

Er zuckte die Achseln. »Mackey hat nicht ganz unrecht: Wir haben nichts in der Hand. Das ist vielleicht die einzige Möglichkeit, den Fall zu lösen.«

Sam hat eine Reihe ungelöster Fälle zu verantworten, wie jeder Detective, und ich war ziemlich sicher, dass er einen weiteren verkraftet hätte, solange er sicher war, dass der Täter es nicht auf mich abgesehen hatte. »Letzten Samstag hattet ihr auch noch nichts in der Hand«, sagte ich, »und da warst du strikt dagegen.«

Seine Hand setzte sich wieder in Bewegung. »An dem ersten Tag«, sagte er nach einer Weile. »Als du zum Tatort gekommen bist. Da hast du mit Mackey rumgekabbelt, weißt du noch? Er hat über deine Klamotten gelästert, und du hast zurückgelästert, wie du es damals immer gemacht hast mit … als du im Morddezernat warst.«

Er meinte mit Rob. Rob war wahrscheinlich der engste Freund, den ich je gehabt hatte, aber dann hatten wir diesen riesigen, komplizierten, bösen Krach, und unsere Freundschaft war zu Ende gewesen. Ich drehte mich um und stützte mich auf Sams Brust auf, damit ich ihn ansehen konnte, aber er blickte zur Decke. »Ich hatte dich schon lange nicht mehr so erlebt«, sagte er. »So voller Schwung.«

»Ich war bestimmt ganz schön unerträglich in den letzten paar Monaten«, sagte ich.

Er lächelte, nur ein bisschen. »Ich beklag mich nicht.«

Ich versuchte, mich zu erinnern, wann Sam sich je über etwas beklagt hatte. »Nein«, sagte ich. »Ich weiß.«

»Dann Samstag«, sagte er. »Ich weiß, wir haben uns gestritten und so« – er drückte mich kurz, gab mir einen Kuss auf die Stirn –, »aber trotzdem. Hinterher ist mir klargeworden: Wir haben uns gestritten, weil wir beide schon richtig drin waren, in dem Fall, meine ich. Weil du engagiert warst. Es war wie … « Er schüttelte den Kopf, suchte nach den Worten. »Das DHG ist nicht so«, sagte er, »oder doch?«

Ich hatte nie viel über das DHG erzählt. Bis zu diesem Moment war mir nie der Gedanke gekommen, dass mein Schweigen wahrscheinlich Bände gesprochen hatte, auf andere Art. »Die Arbeit muss auch gemacht werden«, sagte ich. »Nichts ist so wie das Morddezernat, aber das DHG ist in Ordnung.«

Sam nickte, und eine Sekunde lang schlossen sich seine Arme fester um mich. »Und die Besprechung«, sagte er. »Bis dahin hatte ich noch mit dem Gedanken gespielt, meine Autorität raushängen zu lassen und Mackey zu sagen, er soll abhauen. Die Sache war ein Fall fürs Morddezernat, ich bin der leitende Detective, wenn ich nein gesagt hätte … Aber so wie du geredet hast, hellwach, Gedanken weitergeführt hast … da hab ich bloß noch gedacht, warum soll ich mich dem in den Weg stellen?«

Damit hatte ich nicht gerechnet. Sam hat so ein Gesicht, von dem du dich täuschen lässt, auch wenn du es eigentlich besser weißt: das Gesicht eines Menschen vom Lande, rote Wangen und klare graue Augen und erste Lachfältchen, so einfach und offen, dass sich dahinter unmöglich etwas verbergen kann. »Danke, Sam«, sagte ich. »Danke.«

Ich spürte, wie seine Brust sich hob und senkte, als er seufzte. »Vielleicht kommt ja was Gutes dabei raus, bei diesem Fall. Man kann nie wissen.«

»Aber du wünschst dir noch immer, dass die Frau sich doch bloß irgendeine andere Gegend ausgesucht hätte, um sich umbringen zu lassen«, sagte ich.

Sam überlegte kurz, drehte sachte einen Finger um eine Locke in meinem Haar. »Ja«, sagte er, »tu ich, klar. Aber die Wünscherei bringt nichts. Wenn du eine Sache erst mal am Hals hast, musst du das Beste draus machen.«

Er blickte mich an. Er lächelte noch immer, aber da war noch etwas anderes, fast Trauriges um seine Augen. »Du hast glücklich ausgesehen, diese Woche«, sagte er nur. »Es ist schön, dich wieder glücklich zu sehen.«

Ich fragte mich, wie der Mann mich bloß aushielt. »Und außerdem hast du gewusst, dass ich dir die Hölle heiß machen würde, wenn du angefangen hättest, für mich Entscheidungen zu treffen«, sagte ich.

Sam grinste und tippte mir mit dem Finger auf die Nasenspitze. »Das auch«, sagte er, »du kleine Xanthippe«, aber noch immer war dieser Schatten hinter seinen Augen.



Nach den zehn langen Tagen verstrich die Zeit am Sonntag schnell, schnell wie eine Flutwelle, die sich bis zum höchsten Punkt aufbaut und schließlich niederkracht. Frank wollte um drei bei mir sein, um mich zu verdrahten und um halb fünf zum Whitethorn House zu bringen. Während Sam und ich uns verhielten, als wäre es ein ganz normaler Sonntag – gemütlich im Bett Zeitung lesen und Tee trinken, duschen, Toast mit Eiern und Speck –, schwebte das die ganze Zeit über unseren Köpfen, ein riesiger tickender Wecker, der darauf wartete, schlagartig zum Leben zu erwachen. Irgendwo da draußen bereiteten sich Lexies Mitbewohner auf ihre Ankunft vor.

Nach dem Brunch zog ich die Sachen an. Ich ging dafür ins Bad. Sam war noch da, und ich wollte dabei ungestört sein. Ich hatte das Gefühl, als zöge ich mehr als nur Kleidungsstücke an: ein feines Kettenhemd, handgemacht für mich, oder Gewänder, die für eine zutiefst geheime Zeremonie bereitgelegt worden waren. Meine Handflächen begannen zu kribbeln, als ich die Sachen berührte.

Schlichte weiße Baumwollunterwäsche mit den Etiketten noch dran; verwaschene Jeans, weichgetragen und mit ausgefransten Säumen; braune Socken, braune Stiefeletten; ein langärmeliges T-Shirt; eine hellblaue Wildlederjacke, abgetragen, aber sauber. Der Kragen der Jacke roch nach Maiglöckchen und noch etwas anderem, eine warme Note, fast zu schwach, um sie wahrzunehmen: Lexies Haut. In einer Tasche steckte eine Supermarktquittung von vor einigen Wochen, für Hähnchenfilets, Shampoo, Butter und eine Flasche Ginger Ale.

Als ich fertig angezogen war, musterte ich mich im großen Spiegel an der Rückseite der Tür. Eine Sekunde lang wusste ich nicht, was ich da sah. Dann hätte ich am liebsten losgelacht. Weil es so absurd war: Monatelang hatte ich mich als Büro-Barbie verkleidet, und jetzt, wo ich in die Haut einer anderen schlüpfte, ging ich endlich wieder in einem Aufzug zur Arbeit, der mir wesentlich mehr entsprach. »Du siehst nett aus«, sagte Sam mit einem schwachen Lächeln, als ich herauskam. »Als würdest du dich drin wohlfühlen.«

Meine Sachen waren gepackt und standen an der Tür bereit, als wollte ich verreisen. Ich hatte das Gefühl, ich sollte nachsehen, ob ich meinen Pass und meine Tickets eingesteckt hatte. Frank hatte mir einen neuen Reisekoffer besorgt, so ein Hartschalending, und er hatte eine unauffällige Verstärkung und ein wuchtiges Zahlenschloss, so dass man schon Safeknacker sein musste, um ihn aufzubekommen. Darin waren Lexies Sachen – Portemonnaie, Schlüssel, Handy, alles Kopien der echten Sachen; die Geschenke von den Mitbewohnern; eine Plastikdose Vitamin-C-Tabletten mit der Aufschrift AMOXICILLIN DREIMAL TÄGLICH EINE TABLETTE auf einem Apothekenetikett, die ich irgendwo gut sichtbar hinstellen sollte. Meine Ausrüstung war in einem separaten Fach: Latexhandschuhe, mein Handy, Ersatzbatterien für das Mikro, ein Vorrat an künstlerisch befleckten Verbänden, die jeden Morgen und Abend im Badezimmermülleimer landen sollten, mein Notizbuch, mein Ausweis und meine neue Pistole – Frank hatte mir einen kurzläufigen.38er Revolver besorgt, der gut in der Hand lag und erheblich einfacher zu verstecken war als meine reguläre Smith & Wesson. Außerdem hatte ich einen Hüfthalter dabei – kein Witz –, eins von diesen Dingern aus superfestem Material, die einem im kleinen Schwarzen zur schlanken Silhouette verhelfen sollen. Viele Undercovercops benutzen so was als Holster. Es ist nicht bequem – nach ein oder zwei Stunden hast du das Gefühl, eine pistolenförmige Delle in der Leber zu haben –, aber es kaschiert wunderbar die Umrisse. Allein für die Vorstellung, wie Frank in die Damenwäscheabteilung von Marks & Spencer spaziert und so ein Teil aussucht, hatte sich die ganze Sache schon gelohnt.

»Du siehst aus wie ausgekotzt«, sagte er, als er vor meiner Wohnungstür stand und mich anerkennend inspizierte. Er trug mit beiden Armen einen ganzen Haufen James-Bondmäßiger schwarzer Geräte, Kabel und Lautsprecher und weiß Gott was noch: alles für meine Verdrahtung. »Deine Augenringe sind zum Verlieben.«

»Sie hatte die letzten Nächte höchstens drei Stunden Schlaf«, sagte Sam schroff hinter mir. »Genau wie Sie und ich. Und wir sehen auch nicht gerade toll aus.«

»He, ich will ihr doch gar nichts«, beruhigte Frank ihn, marschierte an uns vorbei und kippte seine Ladung auf den Couchtisch. »Ich bin ganz begeistert. Sie sieht genauso aus, als hätte sie zehn Tage Intensivstation hinter sich. Hi, Kleines.«

Das Mikro war winzig, so groß wie ein Hemdsknopf. Es wurde zwischen meinen Brüsten am BH festgeklemmt: »Zum Glück ist unsere Lexie nicht tief ausgeschnitten rumgelaufen«, sagte Frank mit kurzem Blick auf die Uhr. »Beug dich mal vor dem Spiegel vor und guck nach, ob man was sieht.« Die Akkus kamen an die Stelle, wo die Stichwunde gewesen wäre, mit Pflaster seitlich am Körper unter einem dicken Verband befestigt, knapp unterhalb der Narbe, die Dealer-Boy bei Lexie Madison der Ersten hinterlassen hatte. Die Tonqualität war kristallklar, nachdem Frank rasch noch ein paar komplizierte Sachen mit der Apparatur angestellt hatte: »Für dich nur das Beste, Kleines. Der Übertragungsradius beträgt rund sieben Meilen unter normalen Bedingungen. Wir haben Empfangsgeräte im Polizeirevier von Rathowen und im Morddezernat, du bist also zu Hause und im Trinity zu empfangen. Nur während der Fahrt in die Stadt und zurück haben wir keinen Empfang, aber ich geh nicht davon aus, dass dich jemand aus einem fahrenden Auto werfen wird. Visuelle Überwachung ist nicht möglich, du musst uns also mündlich über alles informieren, was wir wissen sollten. Sollte es für dich brenzlig werden und du unauffällig um Hilfe rufen müssen, sagst du, ›Ich hab Halsschmerzen‹, und innerhalb von Minuten ist die Kavallerie bei dir – aber pass auf, dass du keine richtige Mandelentzündung kriegst, oder falls doch, behalt es für dich. Du musst dich so oft wie möglich bei mir melden, am besten jeden Tag.«

»Und bei mir«, sagte Sam, ohne sich von der Spüle umzudrehen. Frank, der in die Hocke gegangen war und auf irgendeine Anzeige am Empfänger spähte, warf mir nicht einmal einen spöttischen Blick zu.

Sam war mit dem Abwasch fertig und fing an, das Geschirr allzu gründlich abzutrocknen. Ich brachte das Lexie-Material in eine gewisse Ordnung – das nervöse Gefühl kurz vor der entscheidenden Prüfung, wenn man seine Notizen endlich zusammenräumt, wenn ich es jetzt noch nicht kann –, packte es stapelweise in Plastiktüten, die in Franks Wagen bleiben würden. »Und das«, sagte Frank und zog die Lautsprecherstecker schwungvoll heraus, »wär’s dann wohl. Können wir?«

»Ich bin so weit«, sagte ich und nahm die Plastiktüten. Frank klemmte sich seine Ausrüstung unter einen Arm, nahm meinen Koffer und ging zur Tür.

»Den nehm ich«, sagte Sam barsch. »Sie haben schon genug zu tragen.« Er nahm Frank den Koffer aus der Hand und ging vor uns die Treppe hinunter, und die Rollen knallten mit harten dumpfen Schlägen auf jeder Stufe auf.

Auf dem Treppenabsatz drehte Frank sich um und blickte wartend über die Schulter zu mir hoch. Ich hatte eine Hand am Türknauf, als mich für eine kurze Sekunde wie aus dem Nichts Panik überfiel, blau lodernde Panik, die durch mich hindurchstürzte wie ein scharfkantiger schwarzer Stein. Ich hatte das schon öfter erlebt, in den Schwebemomenten, bevor ich aus dem Haus meiner Tante auszog, meine Jungfräulichkeit verlor, den Eid als Polizistin ablegte: die Augenblicke, wenn das Unwiderrufliche, das du dir so herbeigesehnt hast, plötzlich real und konkret wird, ganz nah ist und auf dich zurast, ein unergründlicher, anschwellender Fluss, und es gibt kein Zurück, sobald du ihn überquert hast. Ich musste mich beherrschen, um nicht wie ein kleines Kind, das in Angst versinkt, loszubrüllen, Ich will das nicht mehr.

In so einem Moment kannst du nichts anderes tun als die Zähne zusammenbeißen und abwarten, bis er vorüber ist. Der Gedanke daran, was Frank sagen würde, wenn ich jetzt tatsächlich einen Rückzieher machte, war eine große Hilfe. Ich warf einen letzten Blick in meine Wohnung – Licht aus, Heizung aus, Abfalleimer leer, Fenster geschlossen. Der Raum schloss sich bereits in sich, Stille drang überallhin, wo wir gewesen waren, schwebte auf wie Staub in den Ecken. Dann zog ich die Tür zu.