6

Schritte weckten mich, die nach unten polterten. Ich hatte geträumt, irgendetwas Düsteres und Chaotisches, und ich brauchte eine hektische Sekunde, bis ich meine Gedanken entwirrt hatte und wusste, wo ich war. Ich wollte nach meiner Pistole greifen, doch sie lag nicht neben meinem Bett, und ich geriet in Panik, als es mir einfiel.

Ich setzte mich auf. Offenbar war doch nichts vergiftet gewesen; ich fühlte mich gut. Der Duft von Gebratenem drang unter der Tür hindurch, und ich konnte den flotten Morgenrhythmus von Stimmen hören, irgendwo weit unten. Verdammt: Ich hatte nicht mitgeholfen, Frühstück zu machen. Es war so lange her, seit ich es geschafft hatte, länger als bis sechs zu schlafen, dass ich Lexies Wecker gar nicht erst gestellt hatte. Ich klebte mir Mikro und Verband wieder an, schlüpfte in Jeans und ein T-Shirt und einen Mammutpullover, der aussah, als hätte er mal einem von den Jungs gehört – die Luft war eiskalt –, und ging nach unten.

Die Küche lag nach hinten raus, und sie hatte sich seit Lexies Gruselfilm deutlich verbessert. Keine Spur mehr von Schimmel und Spinnweben und dem schäbigen Linoleum. Stattdessen Fliesenboden, ein gescheuerter Holztisch, ein Topf mit struppigen Geranien auf der Fensterbank vor der Spüle. Abby, in einem roten Flanellmorgenmantel mit hochgezogener Kapuze, wendete Schinkenspeck und Würstchen. Daniel saß am Tisch, fertig angezogen, las ein Buch, das er unter den Rand seines Tellers geklemmt hatte, und aß Spiegeleier mit methodischem Genuss. Justin schnitt seinen Toast in Dreiecke und jammerte.

»Ehrlich, so was hab ich noch nicht erlebt. Letzte Woche hatten nur ganze zwei von ihnen die Lektüre vorbereitet. Der Rest hockte bloß da, starrte vor sich hin und kaute Kaugummi, wie eine Herde Kühe. Willst du wirklich nicht tauschen, nur heute? Du kriegst vielleicht mehr aus ihnen raus –«

»Nein«, sagte Daniel, ohne aufzublicken.

»Aber deine machen die Sonette. Ich kenn die Sonette. Ich bin gut in den Sonetten.«

»Nein.«

»Morgen«, sagte ich von der Tür aus.

Daniel nickte mir ernst zu und widmete sich wieder seinem Buch. Abby winkte mit dem Pfannenwender. »Morgen, du.«

»Hallo, Schätzchen«, sagte Justin. »Komm her. Lass dich anschauen. Wie fühlst du dich?«

»Prima«, sagte ich. »Tut mir leid, Abby. Ich hab total verschlafen. Komm, gib mir das Ding –«

Ich griff nach dem Pfannenwender, aber sie riss ihn weg. »Nein, ist schon in Ordnung. Du giltst noch als Verwundete. Morgen komm ich hoch und schmeiß dich aus dem Bett. Hinsetzen.«

Wieder dieser Sekundenbruchteil – Verwundete: Daniel und Justin schienen zu erstarren, mitten in der Kaubewegung. Dann setzte ich mich an den Tisch, Justin griff nach einer weiteren Scheibe Toast, und Daniel blätterte eine Seite um und schob eine rote Emaillekanne zu mir rüber.

Abby beförderte drei Speckscheiben und zwei Spiegeleier auf einen Teller, kam rüber und stellte ihn, ohne zu fragen, vor mich hin. »Brrr, ist das kalt«, sagte sie und eilte zurück zum Herd. »Mensch, Daniel, ich weiß, du hast was gegen Doppelverglasung, aber im Ernst, wir sollten zumindest mal drüber nachdenken –«

»Doppelverglasung ist die Ausgeburt des Satans. Einfach grässlich.«

»Ja, aber warm. Wenn wir hier unten schon keine Teppichböden kriegen –«

Justin knabberte an seinem Toast, Kinn in der Hand, und betrachtete mich so eindringlich, dass ich nervös wurde. Ich konzentrierte mich aufs Essen. »Du siehst blass aus. Du kommst doch heute nicht mit zur Uni, oder?«

»Ich denke nicht«, sagte ich. Ich fühlte mich nicht für einen ganzen Tag in meiner Rolle bereit, noch nicht. Und außerdem wollte ich eine Gelegenheit, das Haus in aller Ruhe unter die Lupe nehmen zu können. Ich wollte das Tagebuch oder den Terminkalender oder was immer es war finden. »Ich soll es in den ersten Tagen langsam angehen lassen. Aber da fällt mir ein: Was ist eigentlich mit meinen Tutorenkursen?« Die Tutorenkurse enden zu den Osterferien, aber ein paar ziehen sich aus irgendwelchen Gründen bis ins Sommersemester. Ich hatte noch zwei Kurse, einen dienstags und einen donnerstags. Ich freute mich weiß Gott nicht auf sie.

»Wir haben dich vertreten«, sagte Abby, lud sich einen Teller voll und setzte sich zu uns an den Tisch, »mehr oder weniger. Daniel hat mit deiner Donnerstagsgruppe Beowulf gelesen. Im Original.«

»Super«, sagte ich. »Wie haben sie reagiert?«

»Eigentlich nicht schlecht«, sagte Daniel. »Zuerst waren sie fassungslos, aber irgendwann haben ein paar von ihnen ganz intelligente Sachen dazu gesagt. Es war ziemlich interessant.«

Rafe kam hereingestolpert, die Haare ungekämmt, in T-Shirt und einer gestreiften Pyjamahose, und sah aus, als wäre er radargesteuert. Er winkte in die Runde, tastete nach einer Tasse, goss sich viel schwarzen Kaffee ein, klaute eine Hälfte Toast von Justins Teller und verschwand wieder.

»Zwanzig Minuten!«, rief Justin hinter ihm her. »Ich warte nicht auf dich!« Rafe winkte bloß mit einer Hand über der Schulter ab und ging weiter.

»Die Schreierei kannst du dir eigentlich sparen«, sagte Abby, die ein Würstchen zerteilte. »In fünf Minuten kann er sich nicht mal erinnern, dass er dich gesehen hat. Nach dem Kaffee. Bei Rafe immer erst nach dem Kaffee.«

»Ja, aber dann meckert er, ich hätte ihm nicht genug Zeit gegeben, sich fertig zu machen. Im Ernst, diesmal fahr ich ohne ihn, und wenn er zu spät kommt, dann ist das sein Problem. Soll er sich doch selbst ein Auto zulegen oder von mir aus zu Fuß gehen. Ist mir egal –«

»Jeden Morgen«, sagte Abby zu mir über Justin hinweg, der wütend mit seinem Buttermesser hantierte.

Ich verdrehte die Augen. Draußen vor der Terrassentür hinter Abbys Kopf mümmelte ein Kaninchen auf dem Rasen, hinterließ kleine dunkle Muster von Pfotenabdrücken im weißen Tau.



Eine halbe Stunde später brachen Rafe und Justin auf – Justin fuhr seinen Wagen vors Haus und wartete, hupend und unverständlich aus dem Fenster schimpfend, bis Rafe schließlich in die Küche gestürzt kam, den Mantel halb angezogen, in einer Hand seinen Rucksack, der wild hin und her pendelte, sich noch eine Scheibe Toast schnappte, sie zwischen die Zähne schob, wieder davonsprintete und die Haustür so laut zuknallte, dass die Wände wackelten. Abby machte den Abwasch und sang dabei leise in ihrer warmen Altstimme vor sich hin. Daniel rauchte eine filterlose Zigarette, dünne Rauchkringel schwebten in den hellen Sonnenstrahlen, die durchs Fenster hereinfielen. Sie hatten sich in meiner Gegenwart entspannt; ich war drin.

Ich hätte mich deshalb wesentlich besser fühlen sollen, als es der Fall war. Ich war gar nicht auf die Idee gekommen, dass ich die vier mögen könnte. Bei Daniel und Rafe war ich mir noch nicht sicher, aber Justin hatte eine Herzlichkeit, die umso einnehmender war, als sie so übereifrig und unbeholfen wirkte, und was Abby betraf, da hatte Frank richtiggelegen: Unter anderen Umständen hätte ich sie gern als Freundin gehabt.

Sie hatten jemanden aus ihrer Mitte verloren, und sie wussten es nicht einmal, und es bestand immer noch die Möglichkeit, dass ich der Grund dafür war. Und ich saß hier in ihrer Küche, frühstückte mit ihnen und machte ihnen was vor. Das Misstrauen vom Vorabend – Schierlingssteak, du liebe Zeit – kam mir auf einmal so albern und überkandidelt vor, dass ich am liebsten im Boden versunken wäre.

»Daniel, wir müssen langsam los«, sagte Abby schließlich mit einem Blick auf die Uhr an der Wand und wischte sich die Hände am Geschirrtuch ab. »Brauchst du irgendwas aus der Welt da draußen, Lex?«

»Zigaretten«, sagte ich. »Meine sind fast alle.«

Sie fischte eine Packung Marlboro Lights aus der Tasche ihres Morgenmantels und warf sie mir zu. »Nimm die. Ich kauf unterwegs neue. Was hast du heute vor?«

»Faul auf dem Sofa liegen und lesen und essen. Sind noch Kekse da?«

»Die mit Vanillecreme, die du so magst, in der Keksdose und Schokoplätzchen im Gefrierfach.« Sie faltete das Geschirrtuch ordentlich zusammen und hängte es über die Stange am Herd. »Wär dir nicht doch lieber, wenn einer von uns hier bei dir bleibt?«

Justin hatte mich bestimmt schon ein halbes Dutzend Mal gefragt. Ich schlug die Augen zur Decke. »Na-hein.«

Ich sah den kurzen Blick, den Abby Daniel über meinen Kopf hinweg zuwarf, aber er blätterte eine Seite um und achtete gar nicht auf uns. »Na gut«, sagte sie. »Fall bloß nicht auf der Treppe in Ohnmacht oder so. Fünf Minuten, Daniel?«

Daniel nickte, ohne aufzublicken. Abby lief flink auf Socken die Treppe hoch. Ich hörte, wie sie Schubladen öffnete und schloss und gleich darauf wieder anfing, vor sich hin zu singen.

Lexie rauchte mehr als ich, eine Packung am Tag, und sie fing nach dem Frühstück an. Ich nahm Daniels Streichhölzer und zündete mir eine Zigarette an.

Daniel sah auf die Seitenzahl seines Buches, klappte es zu und legte es beiseite. »Solltest du wirklich rauchen?«, fragte er. »Unter den Umständen.«

»Nee«, sagte ich kess und blies einen Rauchstrahl über den Tisch zu ihm rüber. »Du denn?«

Er musste schmunzeln. »Du siehst heute Morgen besser aus«, sagte er. »Gestern Abend hast du sehr müde gewirkt und ein bisschen verloren, fand ich. Was ja auch kein Wunder ist, denke ich, aber es ist schön, dass deine Energie langsam wiederkommt.«

Ich nahm mir vor, meinen Vitalitätslevel in den nächsten Tagen nach und nach zu erhöhen. »Die Ärzte haben gesagt, es würde eine Weile dauern und ich sollte nichts überstürzen«, sagte ich, »aber die können mir den Buckel runterrutschen. Ich hab’s satt, krank zu sein.«

Das Schmunzeln wurde breiter. »Kann ich mir gut vorstellen. Du warst bestimmt eine Traumpatientin.« Er beugte sich zum Herd, neigte die Kaffeekanne, um nachzusehen, ob noch etwas drin war. »Kannst du dich eigentlich noch an irgendwas von dem Vorfall erinnern?«

Er goss sich den letzten Rest Kaffee ein und beobachtete mich. Sein Gesicht war gelassen, interessiert, gelöst. »Null«, sagte ich. »Der ganze Tag ist futsch und Teile von davor auch. Ich dachte, die Bullen hätten euch das erzählt.«

»Haben sie auch«, sagte Daniel, »aber das musste ja nicht unbedingt stimmen. Könnte ja sein, dass du Gründe hattest, ihnen was vorzumachen.«

Ich blickte verständnislos. »Zum Beispiel?«

»Keine Ahnung«, sagte Daniel und stellte die Kaffeekanne vorsichtig zurück auf den Herd. »Ich hoffe aber, wenn du dich tatsächlich an was erinnerst und einfach unsicher bist, ob du es der Polizei erzählen sollst, dass du nicht meinst, du musst allein damit klarkommen. Dass du mit mir drüber redest oder mit Abby. Machst du das?«

Er trank seinen Kaffee, einen Fußknöchel lässig über das andere Knie gelegt, und betrachtete mich seelenruhig. Ich begriff langsam, was Frank damit gemeint hatte, dass die vier nur sehr wenig preisgaben. Daniels Miene verriet nichts. Er hätte gerade von einer Chorprobe zurückgekommen sein können oder ein Dutzend Waisenkinder mit der Axt erschlagen haben. »Ähm, ja, klar«, sagte ich. »Aber ich weiß nur noch, dass ich am Dienstagabend von der Uni nach Hause gekommen bin, und als Nächstes, dass ich mich übelst in eine Bettpfanne erbrochen hab, und das habe ich alles schon der Polizei erzählt.«

»Hmm«, sagte Daniel. Er schob den Aschenbecher auf meine Seite des Tisches. »Das Gedächtnis ist schon eine seltsame Sache. Ich möchte dich was fragen: Wenn du –« Doch in dem Augenblick kam Abby, noch immer singend, die Treppe heruntergetrappelt, und er schüttelte den Kopf und stand auf und klopfte seine Taschen ab.



Ich winkte von oben auf der Vordertreppe, während Daniel mit gekonntem Schwung aus der Einfahrt rollte und der Wagen zwischen den Kirschbäumen verschwand. Als sie ganz sicher weg waren, schloss ich die Tür und blieb in der Diele stehen, lauschte auf das leere Haus. Ich konnte spüren, wie es zur Ruhe kam, ein langgezogenes Wispern wie treibender Sand, und abwartete, was ich jetzt machen würde.

Ich setzte mich unten auf die Treppe. Der Treppenläufer war entfernt worden, aber weiter waren sie noch nicht gekommen; ein breiter unlackierter Streifen zog sich über jede Stufe, staubig und in der Mitte abgetreten von Generationen von Füßen. Ich lehnte mich gegen den Treppenpfosten, suchte nach der richtigen Position, bis mein Rücken es bequem hatte, und dachte über das Tagebuch nach.

Wenn es in Lexies Zimmer gewesen wäre, hätte die Spurensicherung es gefunden. Damit blieb der Rest des Hauses, der ganze Garten und die Frage, was darin stand, dass sie es sogar vor ihren besten Freunden hatte verbergen wollen. Eine Sekunde lang hörte ich wieder Franks Stimme bei der Besprechung im Morddezernat: … hatte offenbar Geheimnisse vor ihren engsten Freunden.

Die andere Möglichkeit war, dass Lexie es immer bei sich gehabt hatte, dass sie es in der Tasche hatte, als sie starb, und der Mörder es an sich genommen hatte. Das wäre die Erklärung, warum er die Zeit investiert hatte und das Risiko eingegangen war, ihr zu folgen (sie ins Trockene schleifen, schwarze Dunkelheit, seine Hände, die rasch über ihren schlaffen Körper gleiten, Taschen abtasten, glänzend von Regen und Blut): falls er dieses Tagebuch unbedingt hatte haben wollen.

Durchaus denkbar, aber praktisch hätte das bedeutet, dass es ein ziemlich kleines Tagebuch sein musste, wenn es in eine Hosen- oder Jackentasche passte, und sie hätte es jedes Mal umstecken müssen, wenn sie andere Sachen anzog. Ein gutes Versteck wäre einfacher und sicherer gewesen. Irgendein Ort, wo es vor Regen geschützt war und nicht per Zufall gefunden werden konnte. Irgendein Ort, wo sie ungestört war, selbst mit vier anderen Leuten im Haus. Irgendein Ort, wo sie jederzeit hinkonnte, ohne dass sich jemand wundern würde; nicht ihr Zimmer.

Im Erdgeschoss war eine Toilette und im ersten Stock ein richtiges Badezimmer. Ich überprüfte zuerst das Klo, aber der Raum war klein und eng, und nachdem ich im Spülkasten nachgesehen hatte, waren so gut wie alle Möglichkeiten erschöpft. Das Badezimmer war groß: Dreißiger-Jahre-Fliesen mit schwarz-weißer Bordüre, Wanne aus angeschlagener Emaille, Glasfenster mit zerfledderten Gardinen. Die Tür ließ sich verriegeln.

Nichts im Spülkasten oder dahinter. Ich setzte mich auf den Boden und zog die Holzverkleidung der Wanne ab. Es ging mühelos. Ein schabendes Geräusch, aber so leise, dass es sich ohne weiteres mit laufendem Wasser oder der Klospülung übertönen ließe. Dahinter waren Spinnweben, Mäusekot, Fingerspuren im Staub und versteckt in einer Ecke ein winziges rotes Notizbuch.

Mein Atem ging, als wäre ich gerannt. Das gefiel mir nicht. Es gefiel mir nicht, dass ich in diesem riesigen Haus zielstrebig auf Lexies Versteck zugesteuert war, als hätte ich keine andere Wahl gehabt. Es kam mir so vor, als wäre das Haus um mich herum enger geworden und näher gerückt, als würde es sich über meine Schulter beugen, zuschauen, aufpassen.

Ich ging nach oben in mein Zimmer – Lexies Zimmer – und holte meine Handschuhe und eine Nagelfeile. Dann hockte ich mich wieder auf den Badezimmerboden, fasste das Notizbuch ganz vorsichtig am Rand an und zog es heraus. Mit der Nagelfeile blätterte ich die Seiten um. Früher oder später würde das Labor es auf Fingerabdrücke untersuchen müssen.

Ich hatte ein Schütte-dein-Herz-aus-Tagebuch erhofft, aber ich hätte es besser wissen müssen. Das hier war nur ein Terminkalender, Umschlag aus rotem Lederimitat, eine Seite für jeden Tag. Die ersten Monate waren voll mit Terminen und Gedächtnisstützen in einer raschen, runden Schrift: Kopfsalat, Brie, Knoblauchsalz; 11 Tut R 3017; Stromrechn; D fragen wg. Ovid-Buch?? Normales, harmloses Zeug, und beim Lesen fühlte ich mich unwohler als je zuvor. Als Detective gewöhnst du dich daran, auf jede erdenkliche Weise in die Privatsphäre anderer Leute einzudringen, ich hatte in Lexies Bett geschlafen, und ich trug ihre Sachen, aber das hier, das hier waren die kleinen, alltäglichen Überbleibsel ihres Lebens, es war allein für sie bestimmt gewesen, und ich hatte kein Recht dazu.

In den letzten paar Märztagen jedoch veränderte sich etwas. Die Einkaufslisten und Tutorentermine verschwanden, und die Seiten wurden leer. Es gab nur drei Einträge, in einer harten, hingeworfenen Schrift. Am letzten Tag im März: 10.30 N. Am fünften April: 11.30 N. Und am elften, zwei Tage vor ihrem Tod: 11 N.

Kein N im Januar oder Februar; keine Erwähnung bis zu dem Termin am letzten Märztag. Die Liste mit Lexies BKs war nicht lang, und soweit ich mich entsinnen konnte, war keiner dabei, der mit N anfing. Ein Spitzname? Ein Ort? Ein Café? Irgendwer aus ihrem alten Leben, wie Frank gesagt hatte, jemand, der aus dem Nichts wieder aufgetaucht war und den Rest ihrer Welt leergewischt hatte?

Quer über die letzten zwei Tage war eine Liste mit Buchstaben und Zahlen, in dem gleichen furiosen Gekritzel. ams 79, lhr 34, edi 49, cdg 59, alc 104. Der Punktestand von irgendeinem Spiel, Geldsummen, die sie sich geliehen oder jemandem geborgt hatte? Abbys Initialen lauteten AMS – Abigail Marie Stone –, aber die anderen passten zu keinem auf der BK-Liste. Ich starrte sie lange an, doch das Einzige, woran sie mich erinnerten, waren die Nummernschilder von Oldtimern, und ich konnte mir Lexie beim besten Willen nicht als eingefleischten Oldtimerfan vorstellen, und falls doch, wieso sie daraus so ein Staatsgeheimnis hätte machen sollen.

Niemand hatte mit irgendeinem Wort erwähnt, dass sie sich in den letzten Wochen nervöser oder anders als sonst verhalten hatte. Es ging ihr anscheinend gut, wie alle, die von Frank und Sam vernommen worden waren, versichert hatten. Sie hatte fröhlich gewirkt. Sie hatte genau wie immer gewirkt. In dem letzten Videoclip, der drei Tage vor ihrem Tod aufgenommen worden war, kam sie eine Leiter vom Dachboden heruntergeklettert, ein rotes Halstuch um die Haare gebunden und über und über mit grauem Staub bedeckt, niesend und lachend, und hielt etwas in der freien Hand: »Nein, guck doch, Rafe, guck doch mal! Das ist« – Niesexplosion – »das ist ein Opernglas, ich glaube, aus Perlmutt, ist das nicht wunderschön?« Was immer ihr Geheimnis war, sie hatte es gut versteckt. Zu gut.

Der Rest des Kalenders war leer, bis auf den zweiundzwanzigsten August: Dads Gtag.

Also doch kein Feenkind, keine kollektive Halluzination. Sie hatte einen Vater, irgendwo da draußen, und sie hatte seinen Geburtstag nicht vergessen wollen. Sie hatte wenigstens eine dünne Verbindung zu ihrem früheren Leben bewahrt.

Ich ging die Seiten noch einmal durch, diesmal langsamer, überprüfte, ob mir irgendetwas entgangen war. Zu Anfang waren hier und da ein paar Daten umkringelt: 2. Januar, 29. Januar, 25. Februar. Auf der ersten Seite war ein winziger Kalender für Dezember 2004 abgedruckt, und wie zu erwarten war der sechste umkringelt.

Jeweils siebenundzwanzig Tage Abstand. Lexies Periode kam auf den Tag genau, und sie hatte gewissenhaft Buch geführt. Der vierundzwanzigste März dagegen war nicht umkringelt, und sie musste den Verdacht gehabt haben, schwanger zu sein. Irgendwo – nicht zu Hause, im Trinity oder in einem Café, wo niemand die Packung im Mülleimer bemerken und stutzen könnte – hatte sie einen Schwangerschaftstest gemacht, und etwas hatte sich verändert. Aus ihrem Terminkalender war ein brennendes Geheimnis geworden, N hatte Einzug gehalten, und alles andere war weggefallen.

N. Ein Gynäkologe? Eine Klinik? Der Vater des Babys?

»Was zum Teufel hattest du vor?«, sagte ich leise in den leeren Raum. Hinter mir erklang ein Flüstern, und ich schreckte zusammen, doch es war nur der Wind, der die Gardinen aufplusterte.



Ich überlegte, den Terminkalender mit in mein Zimmer zu nehmen, entschied mich aber dann dagegen, da Lexie vermutlich Gründe gehabt hatte, ihn nicht in ihrem Zimmer aufzubewahren, und das Versteck hatte offenbar bislang gute Dienste getan. Ich schrieb die wichtigsten Einträge in mein eigenes Notizbuch ab, verstaute ihres wieder unter der Wanne und brachte die Abdeckung an. Dann ging ich durchs Haus, um es genauer kennenzulernen und gleichzeitig eine rasche, nicht allzu gründliche Durchsuchung vorzunehmen. Frank würde bestimmt hören wollen, dass ich etwas Nützliches mit meinem Tag angefangen hatte, und ich wusste bereits, dass ich ihm von meiner Entdeckung des Terminkalenders nichts erzählen würde, wenigstens vorläufig.

Ich fing unten an und arbeitete mich nach oben. Sollte ich etwas Brauchbares finden, hätten wir ein gewaltiges Problem, es als Beweismittel zugelassen zu bekommen. Ich war Hausbewohnerin, was bedeutete, dass ich mich in den Gemeinschaftsräumen nach Lust und Laune umsehen konnte, die Zimmer der anderen aber tabu waren, und überhaupt, ich hatte mir unter Vorspiegelung falscher Tatsachen Einlass verschafft. Mit so etwas verdienen Anwälte sich ihren neuen Porsche. Doch sobald du weißt, wonach du suchst, kannst du fast immer einen legalen Weg finden, es in die Hände zu bekommen.

Das Haus hatte irgendwie eine leicht phantastische Atmosphäre, wie aus einem Märchen – die ganze Zeit war ich darauf gefasst, eine geheime Treppe runterzufallen oder durch einen Raum in einen völlig neuen Korridor zu geraten, der nur jeden zweiten Montag existierte. Ich arbeitete schnell: Ich schaffte es nicht, mir mehr Zeit zu nehmen, wurde einfach das Gefühl nicht los, dass irgendwo auf dem Dachboden eine riesige Uhr ablief, die Sekunden eimerweise davonflossen.

Im Erdgeschoss lagen das Wohn- und Esszimmer, die Küche, die Toilette und Rafes Zimmer. Rafes Zimmer war ein Schlachtfeld – überall Berge von Kleidungsstücken in Kartons, klebrige Gläser und Stapel von Papier –, aber auf eine organisierte Art. Man hatte das Gefühl, dass er im Großen und Ganzen wusste, wo alles war, auch wenn sonst niemand da durchsteigen konnte. An einer Wand hatte er mit Zeichenkohle herumgekritzelt, schnelle und ziemlich beeindruckende Skizzen für eine Art Wandbild, mit einer Birke, einem Irish Setter und einem Mann mit Zylinderhut. Auf dem Kaminsims stand – Heureka! – das Kopfdings: eine Phrenologiebüste aus Porzellan mit ihren eingezeichneten Hirnarealen. Über Lexies rotes Halstuch hinweg starrte sie erhaben vor sich hin. Rafe wurde mir langsam sympathisch.

Im ersten Stock lagen Abbys Zimmer und das Badezimmer nach vorne raus, Justins Zimmer und ein Gästezimmer nach hinten raus – entweder war es zu kompliziert gewesen, das Gästezimmer zu entrümpeln, oder Rafe fühlte sich unten ganz wohl so allein. Ich fing mit dem Gästezimmer an. Bei dem Gedanken, in ein Zimmer der anderen zu gehen, spürte ich einen absurd unangenehmen Geschmack im Mund.

Großonkel Simon hatte offenbar nie, niemals etwas weggeworfen. Das Zimmer bot einen schizophrenen, traumähnlichen Anblick, eine Art verschollene Gerümpelkammer des Verstandes: drei Kupferkessel mit Löchern drin, ein verschimmelter Zylinderhut, ein zerbrochenes Steckenpferd, das mich anschielte wie der Pferdekopf im ersten Teil vom Paten, etwas, das aussah wie ein halbes Akkordeon. Ich verstehe nichts von Antiquitäten, aber nichts von alldem sah wertvoll aus, jedenfalls nicht wertvoll genug, um dafür zu töten. Es sah eher aus wie Kram, den man draußen vors Gartentor stellen würde in der Hoffnung, betrunkene Studenten mit einem Kitschfimmel würden es mit nach Hause nehmen.

Abby und Justin waren beide ordentlich, auf ganz unterschiedliche Weise. Abby hatte eine Schwäche für Nippsachen – eine winzige Alabastervase mit einer Handvoll Veilchen drin, ein Kerzenleuchter aus Bleikristall, eine alte Bonbondose mit dem Bild einer rotlippigen jungen Frau in grotesker ägyptischer Aufmachung auf dem Deckel, alles glänzend sauber und auf so gut wie jeder Abstellfläche akkurat angeordnet. Und sie liebte Farben – die Vorhänge bestanden aus zusammengenähten alten Stoffstreifen, roter Damast, Baumwolle mit Glockenblumenmuster, hauchdünne Spitze, und sie hatte Stoffflicken über die kahlen Stellen in der verschlissenen Tapete geklebt. Der Raum wirkte gemütlich und verschroben und ein bisschen unwirklich, wie die Höhle eines Waldgeschöpfes aus einem Kinderbuch, das eine Rüschenmütze trägt und Marmeladentörtchen backt.

Justin hatte zu meinem Erstaunen einen minimalistischen Geschmack. Neben seinem Nachttisch sah ich ein Nest aus Büchern und Fotokopien und beschriebenen Blättern, und die Rückseite seiner Tür war bedeckt mit Fotos von allen im Haus – symmetrisch angeordnet in offenbar chronologischer Reihenfolge und mit einer Art Klarsichtfixierung darüber –, aber alles andere war spartanisch und sauber und funktional: weiße Bettwäsche, weiße wehende Vorhänge, dunkle, glänzend polierte Holzmöbel, ordentliche Reihen zusammengehöriger Socken in den Schubladen und auf Hochglanz geputzte Schuhe unten im Kleiderschrank. Das Zimmer roch ganz schwach nach Zypresse und maskulin.

Ich konnte nichts Verdächtiges in den Zimmern feststellen, aber irgendetwas an allen dreien ließ mir keine Ruhe. Es dauerte eine Weile, bis ich wusste, was es war. Ich kniete gerade auf Justins Boden und lugte unter sein Bett wie ein Einbrecher (nichts, nicht mal Wollmäuse), als der Groschen fiel: Sie hatten etwas Dauerhaftes an sich. Ich hatte noch nie irgendwo gewohnt, wo ich an der Tapete herummachen oder Sachen ankleben konnte – meine Tante und mein Onkel hätten sicher nichts dagegen gehabt, aber in ihrem Haus herrschte eine Zehenspitzenatmosphäre, so dass mir so etwas wie hier gar nicht erst in den Sinn gekommen wäre, und alle meine Vermieter waren anscheinend dem Glauben verfallen, dass sie mir ein architektonisches Juwel vermieteten. Es hatte mich Monate gekostet, den Besitzer meiner derzeitigen vier Wände davon zu überzeugen, dass der Wert seiner Immobilie nicht in den Keller stürzen würde, wenn ich die Wände weiß strich statt bananen-kotzgelb und den LSD-Trip-Teppichboden in den Gartenschuppen verbannte. Das alles hatte mich bisher nicht gestört, doch hier, in diesem Haus voll fröhlichem, ungezwungenem Besitzerstolz – ich hätte auch gern ein Wandbild gehabt; Sam kann malen – kam es mir auf einmal äußerst seltsam vor, mit Duldung irgendeines Fremden zu wohnen, um Erlaubnis fragen zu müssen wie ein kleines Kind, ehe ich irgendeine Spur hinterließ.

Der obere Stock: mein Zimmer, das von Daniel, zwei weitere Räume. Der neben Daniels war voll mit alten Möbeln, die sich kunterbunt türmten, wie nach einem Erdbeben: diese gräulichen, viel zu kleinen Stühle, die eigentlich nie benutzt werden, ein Vitrinenschrank, der aussah, als hätte sich das gesamte Rokoko darauf übergeben, und so gut wie alles dazwischen. Das ein oder andere war offensichtlich herausgeholt worden – Schleifspuren, Leerstellen –, vermutlich, um die Räume zu möblieren, als die fünf einzogen. Was zurückgeblieben war lag unter zentimetertiefem klebrigen Staub. Der Raum neben meinem enthielt noch mehr Gerümpel (eine gesprungene steinerne Wärmflasche, lehmverkrustete grüne Gummistiefel, ein von Mäusen angefressenes Gobelinkissen mit Hirsch- und Blumenmotiv) und bedrohlich wankende Stapel Kartons und alte Lederkoffer. Irgendwer hatte vor nicht allzu langer Zeit angefangen, den ganzen Plunder durchzusehen: etliche helle Fingerabdrücke auf einigen Kofferdeckeln, einer sogar halb saubergewischt, rätselhafte Umrisse in Ecken und auf Kisten, wo Sachen weggenommen worden waren. Auf den verstaubten Dielen war ein Wirrwarr von schwachen Schuhabdrücken.

Um irgendetwas zu verstecken – eine Mordwaffe oder irgendein Beweismittel oder irgendeine kleine, unbezahlbare antike Kostbarkeit –, wäre dieser Raum ganz gut geeignet. Ich sah in allen Kisten nach, die geöffnet worden waren, und hielt mich dabei von den Fingerabdrücken fern, nur für alle Fälle, aber sie waren bis oben vollgestopft mit Seiten über Seiten, auf denen nur krakeliges Federhaltergekritzel war. Soweit ich das erkennen konnte, hatte irgendwer, vermutlich Großonkel Simon, an einer Geschichte der Familie March über mehrere Jahrhunderte hinweg gearbeitet. Die Marches lebten schon eine ganze Weile in der Gegend – die frühste Erwähnung stammte aus dem Jahr 1734, als das Haus gebaut worden war –, aber sie hatten anscheinend nichts Interessanteres zustande gebracht, als zu heiraten, das eine oder andere Pferd zu kaufen und nach und nach fast ihren ganzen Besitz zu verlieren.

Daniels Zimmer war abgeschlossen. Zu den lebenswichtigen Fertigkeiten, die ich von Frank gelernt hatte, gehörte das Knacken von Schlössern, und das hier sah ziemlich einfach aus, aber ich war schon kribbelig wegen des Terminkalenders, und die Tür da machte mich noch nervöser. Ich hatte keine Ahnung, ob Daniel sein Zimmer immer abschloss oder nur meinetwegen. Ich war mit einem Mal sicher, dass er irgendeine Falle gelegt hatte – ein Haar auf dem Rahmen, ein Glas Wasser gleich hinter der Tür –, die mich verraten würde, wenn ich das Zimmer betrat. Ich ließ es.

Zum Schluss nahm ich mir Lexies Zimmer vor – es war bereits durchsucht worden, aber ich wollte es selbst tun. Anders als Onkel Simon hatte Lexie so gut wie nichts aufbewahrt. Das Zimmer war nicht unbedingt ordentlich zu nennen – die Bücher auf den Regalen sahen aus wie hineingestopft, nicht wie aufgestellt, die Klamotten waren größtenteils in Haufen auf dem Schrankboden verteilt; unter dem Bett lagen drei leere Zigarettenpackungen, ein halber Schokoriegel und ein zerknülltes Blatt mit Notizen über Villette von Charlotte Brontë –, aber es war zu spärlich eingerichtet, um chaotisch zu sein. Keine Dekosachen, keine alten abgerissenen Kinokarten oder Geburtstagskarten oder getrocknete Blumen, keine Fotos. Die einzigen Andenken, die sie gewollt hatte, waren die Handyvideos. Ich blätterte jedes Buch durch und stülpte jede Tasche nach außen, aber das Zimmer offenbarte mir nichts.

Es hatte allerdings die gleiche Aura von Dauerhaftigkeit. An der Wand neben ihrem Bett hatte Lexie Anstrichfarben ausprobiert, mit breiten, schnellen Strichen: Ocker, Altrosa, Kobaltblau. Wieder verspürte ich einen neidischen Stich. Du kannst mich mal, sagte ich im Kopf zu Lexie, du hast länger hier gewohnt, okay, aber ich werd dafür bezahlt.

Ich setzte mich auf den Boden, kramte mein Handy aus dem Koffer und rief Frank an.

»Hey, Kleines«, sagte er beim zweiten Klingeln. »Schon aufgeflogen, ja?« Er war gut gelaunt.

»Stimmt«, sagte ich. »Tut mir echt leid. Komm mich abholen.«

Frank lachte. »Wie läuft’s?«

Ich stellte ihn auf Freisprechfunktion, legte das Handy neben mich auf den Boden und verstaute Handschuhe und Notizbuch wieder im Koffer. »Ganz gut, schätz ich. Ich glaube nicht, dass einer von ihnen Verdacht geschöpft hat.«

»Warum auch? Kein vernünftiger Mensch würde so was Unwahrscheinliches für möglich halten. Hast du was Schönes für mich?«

»Sie sind alle an der Uni, deshalb hab ich mich schnell mal im Haus umgesehen. Kein blutiges Messer, keine blutigen Klamotten, keine Renoirs, keine unterschriebenen Geständnisse. Nicht mal ein Beutelchen Gras oder ein Pornoheft. Die sind ganz schön brav, für Studenten.« Meine Verbände waren in durchnummerierten Päckchen so angeordnet, dass die Flecken heller werden würden, je mehr die angebliche Wunde heilte, nur falls jemand die Abartigkeit besaß, den Abfalleimer zu kontrollieren – in diesem Job kalkuliert man immer ein gewisses Maß an Abartigkeit mit ein. Ich fand den Verband mit der Nummer 2 und entfernte die Verpackung. Wer auch immer die Flecken eingefärbt hatte, er liebte seine Arbeit.

»Irgendeine Spur von dem Tagebuch?«, fragte Frank. »Das berühmte Tagebuch, das Daniel netterweise dir gegenüber erwähnt hat, aber nicht uns gegenüber.«

Ich lehnte mich nach hinten gegen das Bücherregal, schob mein Oberteil ein Stück hoch und zog den alten Verband ab. »Wenn es im Haus ist«, sagte ich, »dann ist es jedenfalls gut versteckt.«

Ein unverbindlicher Laut von Frank. »Oder aber du hattest recht, und der Mörder hat es ihrer Leiche abgenommen. So oder so, es ist interessant, dass Daniel und Co. es für nötig befunden haben, deshalb zu lügen. Verhält sich irgendwer verdächtig?«

»Nein. Sie waren am Anfang etwas gehemmt im Umgang mit mir, aber kein Wunder. Grundsätzlich hab ich aber den Eindruck, dass sie froh sind, Lexie wiederzuhaben.«

»Den Eindruck hatte ich auch übers Mikro. Apropos«, sagte Frank. »Was war denn gestern Abend los, nachdem du rauf in dein Zimmer gegangen bist? Ich hab dich reden hören, aber ich konnte kaum was verstehen.«

Seine Stimme hatte einen anderen Ton angenommen, und keinen guten. Ich hörte auf, die Ränder des neuen Verbandes glattzustreichen. »Nichts. Alle haben gute Nacht gesagt.«

»Wie süß«, sagte Frank. »Ganz wie bei den Waltons. Schade, dass ich es nicht mitgekriegt hab. Wo war dein Mikro?«

»Im Koffer. Die Akkus drücken beim Schlafen.«

»Dann schlaf eben auf dem Rücken. Deine Tür lässt sich nicht abschließen.«

»Ich hab einen Stuhl davorgestellt.«

»Ach so, na dann. Das müsste dicke als Sicherheitsvorkehrung reichen. Du hast sie wohl nicht alle, Cassie!« Ich konnte förmlich sehen, wie er hin und her tigerte und sich mit einer Hand wild durchs Haar fuhr.

»Was regst du dich so auf, Frank? Beim letzten Mal hab ich das Mikro überhaupt nur benutzt, wenn ich wirklich was Interessantes gemacht habe. Ob ich im Schlaf rede, ist für diesen Fall nicht entscheidend.«

»Beim letzten Mal hast du nicht mit Verdächtigen zusammengewohnt. Auch wenn die vier nicht ganz oben auf unserer Liste stehen, wir haben sie noch lange nicht gestrichen. Das Mikro bleibt schön an deinem Körper, außer du stehst unter der Dusche. Und wo du schon von deinem letzten Einsatz sprichst? Wenn du da das Mikro im Koffer gehabt hättest, wo wir dich nicht hätten hören können, wärst du jetzt tot. Du wärst verblutet, ehe wir bei dir gewesen wären.«

»Ja, ja, ja«, sagte ich. »Ist ja schon gut.«

»Dann sind wir uns einig? Die ganze Zeit am Körper. Ohne Ausnahme.«

»Jaja.«

»Schön«, sagte Frank und wurde wieder ruhiger. »Ich hab ein kleines Geschenk für dich.« In seinen Worten schwang ein Grinsen mit: Er hatte sich etwas Gutes aufgespart, für nach der Standpauke. »Ich hab alle deine BKs von unserer ersten Lexie-Madison-Ausgabe aufgespürt. Erinnerst du dich an eine gewisse Victoria Harding?«

Ich biss ein Stück Wundpflaster ab. »Sollte ich?«

»Ziemlich groß, schlank, lange blonde Haare? Redet wie ein Wasserfall? Blinzelt nicht?«

»Oh Gott«, sagte ich und klebte den Verband fest. »Vicky die Klette. Ein echter Schatten der Vergangenheit.« Vicky die Klette war mit mir am UCD gewesen, studierte irgendwas Schwammiges. Sie hatte glasige blaue Augen, jede Menge passende Accessoires und eine verzweifelte, grenzenlose Gabe, sich an jedem festzusaugen, der ihr nützlich sein könnte, vor allem reiche Typen und Partygirls. Aus irgendeinem Grund hatte sie mich für so cool befunden, dass ich ihr die Mühe wert war, oder vielleicht hatte sie sich bloß Gratisdrogen erhofft.

»Genau die. Wann hast du zuletzt mit ihr gesprochen?«

Ich schloss den Koffer und schob ihn unters Bett, während ich überlegte. Vicky gehörte nicht zu der Sorte Mensch, die einen nachhaltigen Eindruck hinterlässt. »Vielleicht ein paar Tage bevor ich abgezogen wurde? Ich hab sie danach ein paarmal in der Stadt gesehen, bin aber immer rechtzeitig abgetaucht.«

»Eigenartig«, sagte Frank, und dieses wölfische Grinsen griff auf seine Stimme über, »weil sie nämlich eine ganze Ecke später mit dir geredet hat. Genaugenommen hattet ihr zwei Anfang Januar 2002 einen netten, langen Plausch – sie kann sich an den Zeitpunkt erinnern, weil sie da gerade beim Winterschlussverkauf gewesen war und so einen edlen Designermantel ergattert hatte, den sie dir gezeigt hat. Offenbar war das Ding aus, ich zitiere, ›einem absolut spitzenmäßigen Taupe-Wildleder‹, was immer Taupe auch für eine Tiergattung sein mag. Klingelt’s jetzt bei dir?«

»Nein«, sagte ich. Mein Herz schlug langsam und fest. Ich konnte es bis in die Fußsohlen spüren. »Das war ich nicht.«

»Hab ich mir irgendwie gedacht. Vicky erinnert sich dagegen lebhaft an das Gespräch, fast Wort für Wort – die Frau hat ein Gedächtnis wie ein Elefant, sie gibt eine traumhafte Zeugin ab, falls es je so weit kommen sollte. Willst du hören, worüber ihr gesprochen habt?«

Vickys Verstand arbeitete tatsächlich so: Da in ihrem Kopf im Grunde genommen keinerlei Aktivität stattfand, kamen Gespräche, die hineingingen, praktisch unberührt wieder heraus. Das war einer der Hauptgründe, warum ich überhaupt Kontakt zu ihr gehalten hatte. »Hilf mir auf die Sprünge«, sagte ich.

»Ihr habt euch zufällig auf der Grafton Street getroffen. Sie sagt, du wärst ›irgendwie total weggetreten‹ gewesen, hättest dich anfänglich gar nicht an sie erinnern können, nicht gewusst, wann ihr euch zuletzt gesehen hattet. Du hast behauptet, du hättest einen üblen Kater, aber sie hat es sich mit dem schrecklichen Nervenzusammenbruch erklärt, von dem sie gehört hatte.« Frank genoss das: Seine Stimme hatte einen schnellen, konzentrierten Rhythmus, wie ein Raubtier auf der Jagd. Ich dagegen amüsierte mich deutlich weniger. Ich hatte ja gewusst, dass so etwas passiert sein musste, nur die Einzelheiten hatten noch gefehlt, und recht zu behalten war längst nicht so befriedigend, wie man meinen könnte. »Doch sobald du wieder wusstest, wer sie war, warst du sehr freundlich. Du hast sogar vorgeschlagen, einen Kaffee trinken zu gehen, um zu quatschen. Wer immer unser Mädel war, Nerven hatte sie.«

»Ja«, sagte ich. Ich merkte, dass ich in die Hocke gegangen war, wie ein Sprinter kurz vor dem Start. Lexies Zimmer um mich herum kam mir spöttisch und verschlagen vor, als wimmelte es von geheimen Schubladen und falschen Dielenbrettern und Schnappfallen. »Das kann man wohl sagen.«

»Ihr seid in das Café im Brown Thomas gegangen, sie hat dir ihre Schnäppchen gezeigt, und ihr beide habt eine Weile Weißt-du-noch? gespielt. Du warst erstaunlicherweise ziemlich still. Aber jetzt kommt’s: Irgendwann hat Vicky dich gefragt, ob du inzwischen am Trinity wärst. Offenbar hattest du ihr nicht lange vor deinem Nervenzusammenbruch erzählt, du wärst das UCD leid. Du würdest überlegen, die Uni zu wechseln, vielleicht ans Trinity zu gehen, vielleicht ins Ausland. Kommt dir das bekannt vor?«

»Ja«, sagte ich. Ich setzte mich vorsichtig auf Lexies Bett. »Ja, tut es.«

Das war gegen Semesterende. Frank hatte mir nicht erzählt, ob die Operation nach den Sommerferien weitergehen würde, und ich wollte eine Ausstiegsgeschichte vorbereiten, falls ich eine brauchte. Vickys andere Eigenschaft: Sie verbreitete Klatsch und Tratsch in Windeseile an der ganzen Uni, und darauf war hundertprozentig Verlass.

Mir drehte sich der Kopf, seltsam geformte Puzzlesteine ordneten sich neu und rasteten mit leisen Klickgeräuschen woanders wieder ein. Diesen Zufall mit dem Trinity – dass die Unbekannte schnurstracks auf meine alte Uni zugesteuert war, da weitergemacht hatte, wo ich aufgehört hatte –, den fand ich schon die ganze Zeit gruselig, aber das hier war fast schlimmer. Der einzige Zufall war, dass zwei junge Frauen einander über den Weg liefen, in einer kleinen Großstadt, und Vicky die Klette hängt ohnehin fast ständig in der Stadt herum in der Hoffnung, irgendwelchen nützlichen Leuten über den Weg zu laufen. Lexie war nicht per Zufall am Trinity gelandet oder weil sie aufgrund irgendeiner dunklen magnetischen Anziehungskraft nicht anders konnte, als meinem Schatten zu folgen, sich in meine Ecken zu drängen. Ich hatte es ihr vorgeschlagen. Wir hatten nahtlos zusammengearbeitet, sie und ich. Ich hatte sie in dieses Haus gelockt, dieses Leben, in jeder Hinsicht genauso klar und sicher, wie sie mich gelockt hatte.

Frank redete unverdrossen weiter. »Unser Mädel hat gesagt, nein, sie wäre zurzeit nicht an der Uni, sie wäre länger verreist gewesen. Wo genau sie war, hat sie nicht gesagt – Vicky vermutete, in der Klapsmühle. Aber jetzt wird’s interessant: Vicky tippte auf eine Klapsmühle in Amerika oder vielleicht Kanada. Zum Teil, weil ihr einfiel, dass deine erfundene Familie in Kanada lebte, aber vor allem, weil du dir in der Zwischenzeit einen ziemlich eindeutigen amerikanischen Akzent angewöhnt hattest. Wir wissen also nicht nur, wie unser Mädel an Lexie Madisons Identität gekommen ist und wo, sondern wir haben jetzt auch eine ziemlich gute Vorstellung, wo wir mit der Suche nach ihr anfangen können. Ich denke, wir sind Vicky der Klette ein oder zwei Cocktails schuldig.«

»Eher du als ich«, sagte ich. Ich wusste, dass meine Stimme merkwürdig klang, aber so aufgekratzt, wie Frank war, fiel es ihm nicht auf.

»Ich hab die Jungs vom FBI angerufen und maile ihnen gleich Fingerabdrücke und Fotos. Gut möglich, dass unsere Unbekannte wegen irgendwas auf der Flucht war. Könnte also durchaus sein, dass die was über sie haben.«

Lexies Gesicht beobachtete mich argwöhnisch in dreifacher Ausgabe aus dem Kommodenspiegel. »Halt mich auf dem Laufenden, ja?«, sagte ich. »Egal, was du hast.«

»Mach ich. Willst du mit deinem Freund sprechen? Er ist hier.«

Sam und Frank zusammen in einem SOKO-Raum. Auch das noch. »Ich ruf ihn später an«, sagte ich.

Das tiefe Murmeln von Sams Stimme im Hintergrund, und für den Bruchteil einer Sekunde war der Wunsch, mit ihm zu sprechen, so heftig und jäh wie ein Schlag in die Magengrube. »Er sagt, er ist mit deinen letzten sechs Monaten im Morddezernat durch«, sagte Frank, »und von all den Leuten, die sauer auf dich sein könnten, kommt absolut niemand in Frage. Er nimmt sich jetzt peu à peu die älteren Fälle vor und hält dich auf dem Laufenden.«

Mit anderen Worten, die Sache hier hatte nichts mit dem Knocknaree-Fall zu tun. Himmel, Sam. Indirekt und aus der Ferne versuchte er, mich zu beruhigen: Leise und verbissen konzentrierte er sich auf die einzige Bedrohung, die er sich vorstellen konnte. Ich fragte mich, wie viel er letzte Nacht geschlafen hatte. »Danke«, sagte ich. »Sag ihm danke, Frank. Sag ihm, ich melde mich bald bei ihm.«



Ich musste nach draußen – einerseits wegen der optischen Reizüberflutung, all die vielen seltsamen staubigen Gegenstände, und andererseits, weil das Haus anfing, sich auf meinen Nacken auszuwirken. Die Luft um mich herum fühlte sich zu intim und zu wissend an, wie eine hochschnellende Augenbraue bei jemandem, den du niemals zum Narren halten könntest. Ich ging zum Kühlschrank, machte mir ein Putenwurstsandwich – die vier legten Wert auf guten Senf –, eins mit Marmelade und eine Thermoskanne Kaffee und nahm alles mit auf einen langen Spaziergang. Irgendwann in nächster Zeit würde ich mich im Dunkeln durch Glenskehy bewegen, möglicherweise beobachtet von einem Mörder, der die Gegend kannte wie seine Westentasche. Ich fand es ratsam, mir einen Überblick zu verschaffen.

Die Gegend war der reinste Irrgarten, Dutzende von schmalen Wegen, die sich zwischen Hecken und Wiesen und Wald hindurchwanden, scheinbar nirgends anfingen und nirgends endeten, aber wie sich herausstellte, fand ich mich besser zurecht, als ich gedacht hatte. Ich verirrte mich nur zweimal. Ich fing an, Frank auf einer ganz neuen Ebene schätzen zu lernen. Als ich Hunger bekam, setzte ich mich auf eine Mauer, trank Kaffee und aß die Sandwichs, blickte dabei über die Berghänge und hob im Geist den Mittelfinger in Richtung DHG und Maher mit seinem Mundgeruchsproblem. Es war ein sonniger, frischer Tag, Schleierwolken hoch oben an einem kühlen, blauen Himmel, aber ich war auf dem ganzen Weg keiner Menschenseele begegnet. Irgendwo weit weg bellte ein Hund, und jemand pfiff nach ihm, aber das war’s auch schon. Ich entwickelte die Theorie, dass Glenskehy durch einen Millennium-Todesstrahl ausgelöscht worden war und keiner etwas gemerkt hatte.

Auf dem Rückweg erkundete ich eine Weile das zu Whitethorn House gehörende Grundstück. Die Marchs mochten ja ihren Besitz größtenteils verloren haben, aber auch der Rest war noch immer ganz schön beeindruckend. Steinmauern höher als mein Kopf, gesäumt von Bäumen – überwiegend Weißdorn, nach dem das Haus benannt worden war, aber ich sah auch Eichen, Eschen, einen Apfelbaum, dessen Blüten sich gerade öffneten. Ein halbverfallener Stall, diskret außer Riechweite des Hauses, in dem Daniel und Justin ihre Autos unterstellten. Er musste sechs Pferden Platz geboten haben, damals vor langer Zeit. Jetzt enthielt er haufenweise verstaubtes Werkzeug und Planen, aber nichts sah so aus, als wäre es in letzter Zeit angefasst worden, daher ersparte ich mir eine genauere Inspektion.

Auf der Rückseite des Hauses erstreckte sich die weite Grasfläche, die gut hundert Meter lang war, begrenzt von dichtem Baumbestand und Steinmauern und Efeu. Am Ende war ein rostiges Eisentor – das Tor, durch das Lexie in jener Nacht gegangen war, als sie sich zur letzten Grenze ihres Lebens aufmachte – und versteckt in einer Ecke ein breites, halbangelegtes Beet mit kleinen Sträuchern. Ich erkannte Rosmarin und Lorbeer: der Kräutergarten, den Abby am Vorabend erwähnt hatte. Es kam mir bereits so vor, als wäre das Monate her.

Aus der Entfernung sah das Haus zart und entrückt aus, wie etwas aus einem alten Aquarell. Dann drückte ein flinker, kleiner Wind das Gras nieder, hob die langen Efeuranken an, und die Wiese sackte mir unter den Füßen weg. An einer der Seitenmauern, nur zwanzig oder dreißig Schritte von mir entfernt, war jemand hinter dem Efeu; jemand, der schmächtig und dunkel wie ein Schatten auf einem Thron saß. Meine Nackenhaare sträubten sich, eine langsame Welle.

Mein Revolver klebte noch immer an der Rückseite von Lexies Nachttisch. Ich biss mir fest auf die Lippe und hob einen dicken, abgefallenen Ast aus dem Kräutergarten auf, ohne die Augen von dem Efeu zu nehmen, der jetzt wieder harmlos herabhing wie zuvor – die Brise hatte sich gelegt, der Garten war still und sonnig wie ein Traum. Ich ging an der Mauer entlang, lässig, aber schnell, drückte mich schließlich flach dagegen, umfasste meinen Ast fest und schlug den Efeu mit einer jähen Bewegung hoch.

Es war niemand da. Die Baumstämme und überwucherten Zweige und Efeuranken formten eine Nische an der Mauer, eine kleine sonnenbesprenkelte Blase. Darin standen zwei Steinbänke, und zwischen ihnen rieselte ein Rinnsal Wasser durch ein Loch in der Mauer und an flachen Stufen hinab in einen kleinen, trüben Tümpel; sonst nichts. Schatten flossen ineinander, und für einen kurzen Moment nahm ich die Illusion erneut wahr, die Bänke bekamen hohe Rückenlehnen und streckten sich, die schlanke Gestalt saß aufrecht da. Dann ließ ich den Efeu fallen, und sie war fort.

Anscheinend hatte nicht bloß das Haus eine ganz eigene Persönlichkeit. Sobald ich wieder ruhig atmen konnte, sah ich mir die Nische genauer an. Auf der Sitzfläche der Bänke hatte sich in den Ritzen Moos gebildet, das aber überwiegend weggekratzt worden war: Irgendwer kannte diesen Platz. Er eignete sich vorzüglich als Treffpunkt für ein Rendezvous, wie ich fand, aber er lag zu nah am Haus, um Fremde aus der Gegend anzulocken, und die dichte Matte aus Blättern und Zweigen um den kleinen Teich herum sah aus, als wäre schon länger keiner mehr hier gewesen. Ich wühlte sie mit dem Fuß ein wenig auf, und zum Vorschein kamen große, glatte Steinplatten. Metall funkelte in der Erde, und mein Herz machte einen Sprung – Messer –, aber dafür war es zu klein. Ein Knopf: Löwe und Einhorn, verkratzt und eingedrückt. Jemand, vor langer Zeit, war in der britischen Armee gewesen.

Das Loch in der Gartenmauer, durch das das Wasser floss, war mit Dreck verstopft. Ich steckte den Knopf in die Tasche, kniete mich auf die Steinplatten und machte das Loch mit dem Ast und mit bloßen Händen frei. Es dauerte eine Weile; die Mauer war dick. Als ich es geschafft hatte, murmelte ein Miniwasserfall fröhlich vor sich hin, und meine Hände rochen nach Erde und vermodertem Laub.

Ich spülte sie ab und setzte mich eine Weile auf eine der Bänke, rauchte und lauschte dem Wasser. Es war schön da drin, warm und still und verborgen, wie die Höhle eines Tieres oder das Versteck eines Kindes. Der Teich füllte sich, winzige Insekten schwebten über der Oberfläche. Das überschüssige Wasser lief durch einen kleinen Abfluss in den Boden. Ich fischte schwimmende Blätter heraus, und nach einer Weile war der Teich so klar, dass ich mein sich kräuselndes Spiegelbild darin sehen konnte.

Nach Lexies Uhr war es halb fünf. Ich hatte vierundzwanzig Stunden überstanden, womit vermutlich eine ganze Reihe von Leuten im SOKO-Raum ihre Wette verloren hatten. Ich steckte meinen Zigarettenstummel zurück in die Packung, tauchte unter dem Efeu her nach draußen und ging ins Haus, um mich ein wenig in die Dissertationsunterlagen einzulesen. Die Haustür öffnete sich widerstandslos, als ich den Schlüssel drehte, die Luft in der Diele regte sich, als ich eintrat, und sie fühlte sich nicht mehr übermäßig intim an. Sie fühlte sich an wie ein leises Lächeln und eine kühle, kurze Berührung der Wange, als würde sie mich willkommen heißen.