12
Am nächsten Tag machte ich mich nach dem Abendessen daran, Onkel Simons episches Meisterwerk nach einer toten Frau aus Glenskehy zu durchforsten. Es wäre wesentlich leichter gewesen, wenn ich das allein hätte tun können, aber dann hätte ich mich krankstellen müssen, um die Uni zu schwänzen, und ich wollte die anderen nicht beunruhigen, solange es nicht unbedingt erforderlich war. Also setzten Rafe, Daniel und ich uns oben in eines der Gästezimmer und breiteten den Stammbaum der Familie March zwischen uns aus, während Abby und Justin unten Piquet spielten.
Der Stammbaum war ein großes Blatt aus dickem ausgefransten Papier, auf dem allerlei Handschriften versammelt waren, von zarter, braun verfärbter Tinte ganz oben – James March, geb. ca. 1598, ehelichte Elizabeth Kempe 1619 – bis zu Onkel Simons Spinnengekrakel ganz unten: Edward Thomas Hanrahan, geb. 1975, und ganz zum Schluss Daniel James March, geb. 1979. »Das ist so ziemlich das Einzige hier im Raum, was halbwegs leserlich ist«, sagte Daniel und zupfte Spinnweben von einer Ecke, »wahrscheinlich, weil Simon es nicht selbst geschrieben hat. Der Rest … Wir können es ja versuchen, Lexie, wenn es dich wirklich so interessiert, aber ich hab den Eindruck, er hat das meiste im Vollrausch geschrieben.«
»He«, sagte ich, beugte mich vor und deutete auf eine Stelle. »Da ist dein William. Das schwarze Schaf.«
»William Edward March«, sagte Daniel und legte sacht einen Finger auf den Namen. »Geboren 1894, gestorben 1983. Ja, das ist er. Ich frage mich, wo er wohl am Ende abgeblieben ist.« William war einer der wenigen, die es geschafft hatten, über vierzig zu werden. Sam hatte recht gehabt, die Marchs starben jung.
»Mal sehen, ob wir ihn hier drin finden«, sagte ich und zog eine Kiste näher an mich ran. »Der Bursche macht mich neugierig. Ich möchte wissen, was das für ein Riesenskandal war.«
»Frauen«, sagte Rafe herablassend, »immer auf der Suche nach Klatsch und Tratsch«, aber er griff nach einer weiteren Kiste.
Daniel hatte recht, der Großteil der Saga war nahezu unleserlich – Onkel Simon hatte einen Hang zu Mehrfachunterstreichungen und dichtgedrängten Zeilen, ziemlich viktorianisch. Aber ich musste es auch nicht richtig lesen. Ich überflog es bloß und suchte nach den hohen Schwüngen eines großen W oder M. Ich weiß nicht recht, was ich zu finden hoffte. Nichts, vielleicht; oder etwas, das die Rathowen-Geschichte über den Haufen warf, das belegte, dass die junge Frau mit ihrem Baby nach London gezogen war, wo sie erfolgreich einen Miederwarenladen eröffnete und glücklich und zufrieden bis an ihr seliges Ende lebte.
Unten hörte ich Justin etwas sagen und Abby lachen, schwach und weit weg. Wir drei sprachen nicht. Das einzige Geräusch war das leise, stetige Rascheln von Papier. Das Zimmer war kühl und dämmrig, ein verschwommener Mond hing vor dem Fenster, und die Seiten hinterließen eine trockene Staubschicht an meinen Fingern.
»Ha, hier steht was«, sagte Rafe plötzlich. »›William March wurde Opfer eines großen ungerechten und‹ – sensationslüsternen? – irgendwas, das ihn letztlich ›sowohl seine Gesundheit als auch‹ … ? Mannomann, Daniel. Dein Onkel muss hackevoll gewesen sein. Was ist das überhaupt für eine Sprache?«
»Zeig mal«, sagte Daniel und beugte sich vor. »›Sowohl seine Gesundheit als auch seinen rechtmäßigen Platz in der Gesellschaft kostete‹, glaub ich.« Er nahm Rafe die Seiten weg und rückte seine Brille zurecht. »›Die Fakten‹«, las er langsam und fuhr dabei mit dem Finger an der Zeile entlang, »›von allem Geschwätz der Klatschmäuler entkleidet, sind wie folgt: Von 1914 bis 1915 diente William March im Weltkriege, wo er sich‹ – das muss ›wacker‹ heißen – ›schlug und später wegen Tapferkeit vor dem Feind mit dem Military Cross ausgezeichnet wurde. Schon dies allein hätte alles gemeine Geschwätz‹ – irgendwas. ›Im Jahr 1915 wurde William March aus der Armee entlassen, nachdem er durch ein Schrapnell an der Schulter verwundet worden war und einen Schützengrabenschock erlitten hatte –‹«
»Posttraumatischer Stress«, sagte Rafe. Er hatte sich gegen die Wand gelehnt und die Hände hinter dem Kopf verschränkt. »Armer Teufel.«
»Die Passage kann ich nicht lesen«, sagte Daniel. »Es geht um das, was er im Krieg gesehen hat, vermute ich. Das da soll wohl ›grausam‹ heißen. Dann steht da: ›Er löste seine Verlobung mit Miss Alice West und nahm keinerlei Anteil an den Vergnügungen seiner Kreise, sondern zog es vor, seine Zeit mit den einfachen Menschen im Dorf Glenskehy zu verbringen, was beide Seiten mit großer Sorge erfüllte. Allen Beteiligten war klar, diese‹ – unnatürliche, glaub ich – ›Verbindung konnte kein glückliches Ende nehmen.‹«
»Snobs«, sagte Rafe.
»Musst du gerade sagen«, konterte ich und rutschte über den Boden, um mein Kinn auf Daniels Schulter zu stützen und auf den Text zu starren. Bislang keine Überraschungen, aber ich wusste – konnte kein glückliches Ende nehmen –, das war’s.
»›Etwa um diese Zeit‹«, las Daniel und hielt die Seite schräg, um besser sehen zu können, »›stellte eine junge Frau aus dem Dorf fest, dass sie in anderen Umständen war, und benannte William March als den Vater ihres ungeborenen Kindes. Ungeachtet dessen, ob dies der Wahrheit entsprach oder nicht, waren die Menschen in Glenskehy, die damals, anders als heutzutage, einer hohen Moral anhingen‹« – Moral war doppelt unterstrichen –, »›ob ihres losen Lebenswandels entsetzt. Das ganze Dorf war einhellig der festen‹ – Überzeugung? –, ›dass die junge Frau ihre Schande aus ihrer Mitte entfernen und in ein Magdalenenkloster gehen sollte, und bis dies geschah, machten sie sie zu einer Ausgestoßenen unter ihnen.‹«
Kein Happy End, kein kleiner Miederwarenladen in London. Manche Mädchen entkamen den Wäschereien der Magdalenen nie mehr. Sie blieben Sklavinnen – weil sie schwanger geworden waren, vergewaltigt worden waren, verwaist oder zu hübsch waren –, bis sie in namenlosen Gräbern verschwanden.
Daniel las weiter, ruhig und einförmig. Ich spürte die Vibration seiner Stimme an meiner Schulter. »›Die junge Frau jedoch nahm sich das Leben, entweder weil sie an ihrem Seelenheil verzweifelte oder nicht bereit war, die verlangte Buße zu tun. William March ging dies sehr nahe – mag sein, dass er tatsächlich in Sünde mit ihr vereint gewesen war, mag sein, dass er bereits zu viel Blutvergießen erlebt hatte. Sein Gesundheitszustand verschlechterte sich rapide, und als er sich wieder erholte, verließ er Familie, Freunde und Heimat, um irgendwo neu anzufangen. Über sein späteres Leben ist wenig bekannt. Diese Ereignisse mögen als Lehre verstanden werden, die uns vor den Gefahren der Begierde ebenso warnt wie vor dem Umgang mit Menschen außerhalb des Standes, dem wir angehören, ebenso wie … ‹« Daniel brach ab. »Den Rest kann ich nicht lesen. Aber das ist auch sowieso alles über William. Im nächsten Abschnitt geht’s um ein Rennpferd.«
»Meine Güte«, sagte ich leise. Auf einmal kam das Zimmer mir kalt vor, kalt und zugig, als wäre hinter uns ein Fenster aufgestoßen worden.
»Die haben sie wie eine Aussätzige behandelt, bis sie dran zerbrochen ist«, sagte Rafe. Er hatte ein nervöses kleines Zucken im Mundwinkel. »Und bis William einen Nervenzusammenbruch hatte und fortging. Dann ist Glenskehy also schon länger das reinste Irrenhaus.«
Ich spürte ein leichtes Schaudern über Daniels Rücken laufen. »Das ist eine böse Geschichte. Wahrhaftig. Manchmal frage ich mich, ob ›keine Vergangenheit‹ nicht auch für das Haus gelten sollte. Obwohl … « Er schaute sich um, sah den Raum voller staubiger, abgenutzter Dinge, die in Fetzen hängende Tapete an der Wand, den dunkelfleckigen Spiegel im Flur, der unser Bild in Blautönen und Schatten durch die offene Tür zurückwarf. »Ich glaube nicht«, sagte er fast zu sich selbst, »dass das überhaupt möglich wäre.«
Er klopfte die Ränder der Seiten bündig und legte den Packen sorgfältig wieder in die Kiste, schloss den Deckel. »Ich weiß nicht, wie ihr das seht«, sagte er, »aber ich habe für heute Abend genug. Gehen wir runter zu den anderen.«
»Ich glaub, ich hab jedes Blatt Papier in diesem Lande gesehen, auf dem irgendwo der Name Glenskehy vorkommt«, sagte Sam, als ich ihn später anrief. Er klang kaputt und verschwommen – schreibtischmüde, den Tonfall kannte ich gut –, aber zufrieden. »Ich weiß jetzt viel mehr über das Dorf, als irgendwem guttut, und ich habe drei Typen, auf die dein Profil passt.«
Ich hockte in meinem Baum, die Füße hochgezogen und gegen den Stamm gestützt. Das Gefühl, beobachtet zu werden, war inzwischen dermaßen stark geworden, dass ich mir tatsächlich wünschte, dieser Unbekannte würde mich überrumpeln, damit ich endlich wusste, woran ich war. Ich hatte Frank kein Wort davon erzählt, und erst recht nicht Sam. Soweit ich das einschätzen konnte, waren die wahrscheinlichsten Erklärungen meine blühende Phantasie, der Geist von Lexie Madison und ein mörderischer Stalker, dem es an Entschlusskraft mangelte, weshalb ich die Sache lieber noch für mich behielt. Tagsüber dachte ich meist, es sei meine Phantasie, vielleicht unterstützt von der hiesigen Tierwelt, aber nachts machte mir die Ungewissheit zu schaffen. »Bloß drei? Von vierhundert Leuten?«
»Glenskehy stirbt aus«, sagte Sam lapidar. »Fast die Hälfte der Bevölkerung ist über fünfundsechzig. Sobald die jungen Leute alt genug sind, packen sie ihre Sachen und ziehen nach Dublin, Cork, Wicklow, irgendwohin, wo ein bisschen Leben herrscht. Die Einzigen, die hierbleiben, haben eine Farm oder irgendeinen Familienbetrieb, den sie weiterführen müssen. Es gibt weniger als dreißig Männer zwischen fünfundzwanzig und fünfunddreißig. Ich hab alle ausgeschlossen, die auswärts arbeiten, keine Arbeit haben, allein leben oder tagsüber mal verschwinden könnten, wenn sie wollten. Am Ende sind drei übrig geblieben.«
»Meine Güte«, sagte ich. Ich dachte an den alten Mann, der über eine leere Straße humpelte, die müden Häuser, wo sich nur eine einzige Gardine bewegt hatte.
»Tja, die wunderbare Welt des Fortschritts. Aber wenigstens gibt es noch Arbeitsplätze, zu denen sie fahren können.« Papierrascheln. »Also, das sind meine drei Freunde. Declan Bannon, einunddreißig, bewirtschaftet außerhalb von Glenskehy mit seiner Frau und zwei kleinen Kindern eine Farm. John Naylor, neunundzwanzig, lebt bei seinen Eltern im Dorf und arbeitet auf der Farm eines anderen. Und Michael McArdle, sechsundzwanzig, wohnt bei seinen Eltern und hat die Tagschicht an der Tankstelle auf der Straße nach Rathowen. Bei keinem irgendwelche bekannten Verbindungen zu Whitethorn House. Sagen dir die Namen irgendwas?«
»Auf Anhieb nein«, sagte ich, »leider.« Und dann wäre ich fast vom Baum gefallen. »Ja klar«, sagte Sam abgeklärt, »wär ja auch zu schön, um wahr zu sein«, aber ich hörte ihn kaum. John Naylor: Endlich, und das wurde auch verdammt nochmal Zeit, hatte ich jemanden, der mit N anfing.
»Zu wem tendierst du?«, fragte ich. Ich gab mir Mühe, mich nicht zu verhaspeln. Von allen Detectives, die ich kenne, kann Sam am besten so tun, als wäre ihm etwas entgangen. So was ist nützlicher, als man meinen sollte.
»Ist noch zu früh zu sagen, aber vorläufig neige ich zu Bannon. Er ist der Einzige, der aktenkundig ist. Vor fünf Jahren haben zwei amerikanische Touristen eins von Bannons Toren zugeparkt und einen Spaziergang gemacht. Als Bannon deshalb seine Schafe nicht durch das Tor treiben konnte, hat er es mit der Wut gekriegt und eine dicke Beule ins Auto getreten. Sachbeschädigung und Feindseligkeit gegenüber Fremden. Diese Sachbeschädigung in Whitethorn House wäre ihm durchaus zuzutrauen.«
»Die anderen sind sauber?«
»Byrne sagt, er hat sie beide schon mal ziemlich besoffen gesehen, aber nicht so schlimm, dass er sie wegen Trunkenheit in der Öffentlichkeit hätte festnehmen müssen oder so. Jeder von ihnen könnte irgendwelche Sachen auf dem Kerbholz haben, von denen wir nichts wissen, wäre in Glenskehy ohne weiteres möglich, aber auf den ersten Blick sind sie sauber, ja.«
»Hast du schon mit ihnen gesprochen?« Irgendwie musste ich mir diesen John Naylor ansehen. Einfach in den Pub zu spazieren war natürlich ausgeschlossen, und ganz arglos auf der Farm aufzukreuzen, auf der er arbeitete, war wahrscheinlich keine gute Idee, aber wenn ich es irgendwie hinkriegen konnte, bei einer Vernehmung dabei zu sein –
Sam lachte. »Lass mir Zeit. Ich hab mich erst heute Nachmittag auf die drei eingeschossen. Ich will mich morgen früh mit ihnen unterhalten. Und da wollte ich dich fragen – meinst du, du könnest vielleicht auf einen Sprung vorbeischauen? Nur um mal einen Blick auf sie zu werfen? Vielleicht fällt dir ja irgendwas auf.«
Ich hätte ihn küssen können. »Äh, ja klar. Wo? Wann?«
»Wusste ich’s doch, dass du dir gern selbst ein Bild machen würdest.« Er lächelte. »Ich dachte an das Revier in Rathowen. Bei ihnen zu Hause wäre am besten, damit sie nicht gleich durchdrehen, aber da könnte ich dich ja wohl schlecht mit hinnehmen.«
»Klingt gut«, sagte ich. »Klingt toll, ehrlich gesagt.«
Das Lächeln in Sams Stimme vertiefte sich. »Finde ich auch. Kannst du dich von den anderen loseisen?«
»Ich werd ihnen sagen, ich hab einen Termin im Krankenhaus, zur Kontrolle der Naht. Hätte ich sowieso schon längst machen sollen.« Der Gedanke an die anderen versetzte mir einen seltsamen kleinen Stich. Falls Sam irgendein handfestes Indiz gegen einen der drei Männer fand – selbst wenn es noch nicht für eine Festnahme ausreichte –, dann wäre es vorbei. Ich wäre raus, müsste zurück nach Dublin und ins DHG.
»Die wollen dich doch bestimmt dahin begleiten?«
»Wahrscheinlich, aber das werde ich verhindern. Ich lass mich von Justin oder Daniel am Krankenhaus in Wicklow absetzen. Kannst du mich da abholen, oder soll ich mir ein Taxi nach Rathowen nehmen?«
Er lachte. »Meinst du, die Chance lass ich mir entgehen? Sagen wir halb zehn?«
»Perfekt«, sagte ich. »Und Sam – ich weiß ja nicht, wie hart du die drei rannehmen willst, aber ehe du anfängst, mit ihnen zu reden, hab ich noch ein paar Informationen für dich. Über die Frau mit dem Baby.« Wieder erfasste mich dieses widerliche Verrätergefühl, aber ich rief mir in Erinnerung, dass Sam nicht wie Frank war, er würde nicht mit einem Durchsuchungsbeschluss und einem Haufen absichtlich unverschämter Fragen in Whitethorn House auftauchen. »Anscheinend ist die ganze Sache 1915 passiert. Name der Frau unbekannt, aber ihr Liebhaber war William March, geboren 1894.«
Kurzes verblüfftes Schweigen. Dann: »Du bist ein Goldstück«, sagte Sam begeistert. »Wie hast du das angestellt?«
Also hörte er doch nicht die Bänder von der Mikroübertragung ab – zumindest nicht alle. Es erschreckte mich selbst, wie erleichtert ich darüber war. »Onkel Simon hat eine Familienchronik geschrieben. Die Sache mit dem Baby ist darin erwähnt. Die Details stimmen nicht ganz überein, aber es ist dieselbe Geschichte, keine Frage.«
»Moment«, sagte Sam. Ich hörte, wie er eine leere Seite in seinem Notizbuch suchte. »Fertig. Schieß los.«
»Laut Onkel Simon wurde William 1914 Soldat im Ersten Weltkrieg. Ein Jahr später kam er als nervliches Wrack zurück. Er löste seine Verlobung mit irgendeiner netten standesgemäßen Lady, brach alle Kontakte zu alten Freunden ab und fing an, sich viel im Dorf aufzuhalten. Wenn man zwischen den Zeilen liest, spürt man, dass die Bewohner von Glenskehy nicht gerade begeistert darüber waren.«
»Viel konnten sie nicht dagegen tun«, sagte Sam trocken. »Einer aus der Familie des Großgrundbesitzers … der konnte doch tun und lassen, was er wollte.«
»Dann wurde diese junge Frau schwanger«, sagte ich. »Sie behauptete, William wäre der Vater – Simon scheint da skeptisch gewesen zu sein, aber wie dem auch sei, ganz Glenskehy war entsetzt. Sie behandelten sie wie den letzten Dreck. Die herrschende Meinung war, dass sie in eine Wäscherei bei den Magdalenen gehörte. Aber ehe sie weggeschickt werden konnte, nahm sie sich den Strick.«
Ein Windstoß durch die Bäume, Regentröpfchen auf bebenden Blättern.
»Also«, sagte Sam nach einem Moment, »laut Simons Version tragen nicht die Marchs die Schuld am Tod der jungen Frau, sondern die verrückten Bauern aus dem Dorf.«
Auf die jähe Wut, die in mir aufstieg, war ich nicht gefasst. Fast hätte ich ihn angeschnauzt. »William March ist auch nicht völlig ungeschoren davongekommen«, sagte ich und hörte die Aggression in meiner Stimme. »Er hatte eine Art Nervenzusammenbruch; Genaueres weiß ich nicht, aber er landete in einer Einrichtung, die sich stark nach Nervenklinik anhört. Und vielleicht war es noch nicht mal sein Kind.«
Wieder Schweigen, diesmal länger. »Richtig«, sagte Sam. »Stimmt. Außerdem hab ich nicht vor, mich heute über irgendwas zu streiten. Dafür freu ich mich viel zu sehr darauf, dich wiederzusehen.«
Ich schwöre, ich brauchte eine Sekunde, bis ich verstand, was er meinte. Ich war völlig auf meine Chance fixiert gewesen, diesen mysteriösen N zu sehen, und hatte gar nicht registriert, dass ich ja auch Sam sehen würde. »Keine zwölf Stunden mehr«, sagte ich. »Ich bin die Frau, die aussieht wie Lexie Madison und nichts anhat außer weißer Spitzenunterwäsche.«
»Ah, quäl mich nicht«, sagte Sam. »Das Treffen ist rein beruflich«, aber als wir auflegten, konnte ich noch immer das Schmunzeln in seiner Stimme hören.
Daniel saß in einem Sessel am Kamin und las T.S. Eliot, die anderen drei spielten Poker. »Uff«, sagte ich und ließ mich auf dem Kaminvorleger nieder. Der Griff meines Revolvers drückte genau unter meine Rippen, und ich versuchte nicht, das leise Aufstöhnen zu unterdrücken. »Wieso spielst du nicht mit? Du fliegst doch nie als Erster raus.«
»Ich hab ihn fertiggemacht«, rief Abby herüber und hob ihr Weinglas.
»Keine Häme bitte«, sagte Justin. Er klang, als würde er verlieren. »Die macht Menschen so unattraktiv.«
»Hat sie aber wirklich«, sagte Daniel. »Sie blufft immer besser. Hast du wieder Schmerzen an der Naht?«
Ein ganz kurzes Verharren am Tisch, wo Rafe gerade seinen Vorrat an Münzen durch die Finger gleiten ließ. »Bloß, weil ich dran denke«, sagte ich. »Ich hab morgen einen Kontrolltermin, damit die Ärzte mich noch ein bisschen mehr begrapschen können, um mir dann zu sagen, dass alles bestens ist, was ich sowieso schon weiß. Fährst du mich hin?«
»Klar«, sagte Daniel und legte sein Buch auf den Schoß. »Wann?«
»Zehn Uhr im Krankenhaus Wicklow. Ich nehm dann hinterher den Zug zur Uni.«
»Aber du kannst doch da nicht allein hin«, sagte Justin. Er hatte sich auf seinem Platz umgedreht, dachte gar nicht mehr an Poker. »Ich kann dich hinfahren. Hab morgen sonst nichts vor. Ich komme mit, und dann fahren wir zusammen zur Uni.«
Er klang ehrlich besorgt. Falls ich ihn nicht loswurde, hätte ich ein Problem. »Ich will aber nicht, dass einer mitkommt«, sagte ich. »Ich will da allein hin.«
»Aber Krankenhäuser sind schrecklich. Und die lassen einen stundenlang warten, wie Vieh, eingepfercht in diesen grässlichen Wartezimmern –«
Ich hielt den Kopf gesenkt und kramte in meiner Jackentasche nach Zigaretten. »Dann nehm ich mir eben ein Buch mit. Es reicht, wenn ich da hinmuss, da brauch ich nicht noch jemanden, der mir die ganze Zeit auf der Pelle hängt. Ich will das einfach bloß hinter mich bringen und vergessen, okay? Meinst du, du kannst damit leben?«
»Es ist ihre Entscheidung«, sagte Daniel. »Sag Bescheid, falls du es dir doch noch anders überlegst, Lexie.«
»Tausend Dank«, sagte ich. »Ich bin schon erwachsen, wisst ihr. Ich kann schon ganz allein zum Onkel Doktor.«
Justin zuckte die Achseln und drehte sich wieder zum Tisch um. Ich wusste, dass ich seine Gefühle verletzt hatte, aber das war nicht zu ändern. Ich machte mir eine Zigarette an. Daniel reichte mir den Aschenbecher, der auf seiner Sessellehne gestanden hatte. »Rauchst du in letzter Zeit mehr?«, erkundigte er sich.
Mein Gesicht war mit Sicherheit völlig ausdruckslos, aber mein Gehirn lief auf Hochtouren. Wenn überhaupt, hatte ich weniger geraucht, als ich hätte rauchen sollen – um die fünfzehn bis sechzehn am Tag, was die Mitte zwischen meinen üblichen zehn und Lexies zwanzig war –, und gehofft, sie würden sich die geringere Menge mit meinem noch angeschlagenen Zustand erklären. Mir war gar nicht in den Sinn gekommen, dass Frank sich bei diesen zwanzig Zigaretten am Tag nur auf die Aussage der anderen gestützt hatte. Daniel war nicht auf die Komageschichte hereingefallen. Gott allein wusste, was er sonst noch alles vermutete. Es wäre so einfach, so erschreckend einfach für ihn gewesen, bei seinen Gesprächen mit Frank bloß die ein oder andere Fehlinformation einzubauen, sich entspannt zurückzulehnen – seine ruhigen grauen Augen ohne eine Spur von Ungeduld auf mich gerichtet – und abzuwarten, ob sie ihr Ziel erreichten.
»Keine Ahnung«, sagte ich verwirrt. »Hab ich noch nicht drüber nachgedacht. Rauch ich echt mehr?«
»Früher hast du keine Zigaretten mit auf deine Spaziergänge genommen«, sagte Daniel. »Vor dem Zwischenfall. Jetzt schon.«
Die Erleichterung raubte mir fast den Atem. Ich hätte drauf kommen müssen – bei der Leiche waren keine Zigaretten gefunden worden –, aber eine Nachlässigkeit unsererseits war sehr viel leichter zu verkraften als der Gedanke, dass Daniel spielte, mit Unschuldsmiene, eine Handvoll Trümpfe in der Hand. »Wollte ich immer«, sagte ich. »Hab ich bloß dauernd vergessen. Jetzt, wo ihr mich ständig dran erinnert, mein Handy mitzunehmen, denk ich auch an meine Zigaretten. Und außerdem« – ich setzte mich auf und sah Daniel beleidigt an –, »wieso redest du mir ins Gewissen? Rafe pafft mindestens zwei Packungen am Tag, und ihn lässt du in Ruhe.«
»Ich rede dir nicht ins Gewissen«, sagte Daniel. Er lächelte mich über sein Buch hinweg an. »Ich finde bloß, man soll seine Laster genießen. Wozu hat man sie sonst? Wenn du aus Nervosität rauchst, dann genießt du es nicht.«
»Ich bin nicht nervös«, entgegnete ich. Zum Beweis ließ ich mich nach hinten auf die Ellbogen sinken und stellte mir den Aschenbecher auf den Bauch. »Mir geht’s prima.«
»Wenn du zurzeit nervös bist«, sagte Daniel, »ist das nur verständlich. Aber du solltest eine andere Form finden, Stress abzubauen, anstatt ein bewährtes Laster so zu verschwenden.« Wieder dieses angedeutete Lächeln. »Falls du das Bedürfnis hast, mit jemandem zu reden … «
»Meinst du etwa, mit einem Therapeuten?«, fragte ich. »Igitt. Im Krankenhaus haben sie auch davon angefangen, aber ich hab gesagt, sie sollen mich bloß damit in Ruhe lassen.«
»Mhm, ja«, sagte Daniel. »Kann ich mir vorstellen. Ich glaube, das war eine gute Entscheidung. Ich hab noch nie verstanden, welche Logik dahintersteckt, einen fremden Menschen von fragwürdiger Intelligenz dafür zu bezahlen, dass er sich deine Probleme anhört. Für so was hat man doch Freunde. Falls du drüber reden willst, sind wir alle –«
»Gott verdammt nochmal«, donnerte Rafe los. Er klatschte seine Karten auf den Tisch und schob sie weg. »Ich brauch gleich’ne Kotztüte. Magst du der Gruppe deine Gefühle erzählen? Lasst uns alle drüber reden! Hab ich da was nicht mitgekriegt? Sind wir auf einmal in Kalifornien, und keiner hat’s mir gesagt?«
»Was hast du eigentlich für ein Scheißproblem?«, fragte Justin bissig.
»Ich kann dieses Psychogetue nicht ab. Lexie geht’s gut. Gibt es irgendeinen bestimmten Grund, warum wir sie nicht einfach in Ruhe lassen können?«
Ich hatte mich aufgesetzt. Daniel hatte sein Buch hingelegt. »Das hast ja wohl nicht nur du zu entscheiden«, sagte Justin.
»Wenn ich mir diesen Stuss anhören muss, dann doch, dann kann ich das entscheiden. Ich steig aus. Justin, hast gewonnen. Abby, neue Karten.« Rafe griff an Justin vorbei nach der Weinflasche.
»Wo wir gerade von Lastern zur Stressbewältigung sprechen«, sagte Abby unterkühlt, »meinst du nicht, du hast für heute Abend genug intus?«
»Nein«, erwiderte Rafe und sah sie an, »das mein ich ganz und gar nicht.« Er goss sich sein Glas so voll, dass ein Tropfen überschwappte und auf den Tisch lief. »Und ich erinnere mich nicht, dich um deinen Rat gebeten zu haben. Teil endlich die Karten aus.«
»Du bist betrunken«, sagte Daniel kalt. »Und du benimmst dich unmöglich.«
Rafe fuhr herum und starrte ihn an. Seine Hand umklammerte den Rand des Glases, und für eine Sekunde dachte ich, er würde es werfen. »Ja«, sagte er leise und bedrohlich. »Ich bin tatsächlich betrunken. Und ich beabsichtige, noch sehr viel betrunkener zu werden. Möchtest du darüber reden, Daniel? Ja, möchtest du das? Möchtest du, dass wir alle uns mal so richtig ausquatschen?« Irgendetwas lag in seiner Stimme, etwas Beunruhigendes wie Benzingeruch, darauf lauernd, sich beim ersten Funken zu entzünden.
»Mit jemandem in deinem Zustand zu diskutieren halte ich für sinnlos«, sagte Daniel. »Reiß dich zusammen, trink einen Kaffee und hör auf, dich wie ein verwöhntes Balg aufzuführen.« Er hob erneut sein Buch und drehte sich von den anderen weg. Ich war die Einzige, die sein Gesicht sehen konnte. Es war vollkommen ruhig, aber seine Augen bewegten sich nicht: Er las kein einziges Wort.
Selbst mir war klar, dass er völlig falsch reagierte. Wenn Rafe sich erst mal in so eine Stimmung reingesteigert hatte, wusste er nicht, wie er da wieder rauskommen sollte. Dann brauchte er jemanden, der ihm dabei half, der die Stimmung im Raum auf heiter umstellte oder auf friedlich oder sachlich, damit er sich dem anschließen konnte. Der Versuch, ihn rumzukommandieren, musste ihn nur noch mehr reizen, und bei dem Gedanken, dass Daniel einen so untypischen Fehler gemacht hatte, durchfuhr mich ein Ruck: Verwunderung und noch etwas anderes, Angst vielleicht oder Aufregung. Ich hätte Rafe im Handumdrehen beruhigen können (Oha, denkt ihr, ich hätte eine posttraumatische Belastungsstörung? Wie ein Vietnamveteran? Ruf doch mal einer »Granate«, dann seht ihr ja, ob ich in Deckung geh … ), und fast hätte ich es auch getan, es fiel mir schwer, mich zu bremsen. Aber ich wollte sehen, wie die Sache weiterging.
Rafe holte Luft, als wollte er etwas sagen, aber dann überlegte er es sich anders, schüttelte angeekelt den Kopf und stieß heftig seinen Stuhl zurück. Er nahm sein Glas in die eine Hand, die Flasche in die andere und stakste aus dem Raum. Einen Augenblick später knallte seine Tür.
»Ach du Schande«, sagte ich nach einem Moment. »Ich glaub, ich geh doch noch zum Psychiater und erzähl ihm, dass ich mit lauter Spinnern zusammenwohne.«
»Hör jetzt auf«, sagte Justin. »Hör bloß auf.« Seine Stimme zitterte.
Abby legte die Karten hin, stand auf, rückte ihren Stuhl ordentlich unter den Tisch und verließ das Zimmer. Daniel rührte sich nicht. Ich hörte, dass Justin irgendwas umstieß und unflätige Flüche vor sich hin murmelte, aber ich schaute nicht auf.
Das Frühstück am nächsten Morgen verlief in beklemmender Stille. Justin schwieg mich an. Abby bewegte sich mit einer kleinen Sorgenfalte zwischen den Augenbrauen durch die Küche, bis wir mit dem Abwasch fertig waren und sie Rafe aus seinem Zimmer geeist hatte und die drei zur Uni fuhren.
Daniel saß am Tisch und blickte aus dem Fenster, ganz in seine eigene Welt versunken, während ich abtrocknete und alles wegräumte. Schließlich bewegte er sich und atmete tief durch. »Okay«, sagte er und blinzelte verwundert, als er die abgebrannte Zigarette zwischen seinen Fingern bemerkte. »Wir müssen dann mal los.«
Auch auf der Fahrt zum Krankenhaus sagte er kein Wort. »Danke«, murmelte ich, als ich ausstieg.
»Keine Ursache«, sagte er geistesabwesend. »Ruf mich auf jeden Fall an, wenn sich bei der Kontrolle rausstellt, dass irgendwas nicht stimmt, was ich aber nicht glaube. Oder wenn du deine Meinung änderst und doch gern jemanden dabeihättest.« Er winkte über die Schulter, als er davonfuhr.
Als ich mich vergewissert hatte, dass er auch wirklich weg war, holte ich mir einen Styroporbecher mit Muckefuck aus der Krankenhauscafeteria und lehnte mich draußen gegen die Wand, um auf Sam zu warten. Ich sah ihn, wie er einparkte und ausstieg, um den Parkplatz abzusuchen, ehe er mich erblickte. Für den Bruchteil einer Sekunde erkannte ich ihn nicht. Er sah müde aus und dicklich und alt, lächerlich alt, und in diesem kurzen Moment dachte ich bloß: Wer ist der Typ? Dann entdeckte er mich und lächelte, mein Verstand stellte sich wieder scharf ein, und Sam sah wieder aus wie er selbst. Ich sagte mir, dass Sam während einer größeren Ermittlung immer ein paar Pfund zulegt – zu viel Junkfood –, und da ich die letzte Zeit ständig mit Leuten unter dreißig zusammen gewesen war, musste ein Fünfunddreißigjähriger natürlich greisenhaft wirken. Ich warf meinen Becher in den Mülleimer und ging rüber.
»Ah, Gott«, sagte Sam und drückte mich fest an sich, »tut das gut, dich zu sehen.« Sein Kuss war warm und stark und unvertraut. Sogar sein Geruch, Seife und frischgebügelte Baumwolle, kam mir fremd vor. Ich brauchte eine Sekunde, ehe ich dahinterkam, wie sich das alles anfühlte: wie jener erste Abend in Whitethorn House, wo von mir erwartet worden war, dass ich alles um mich herum in- und auswendig kannte.
»Hi«, sagte ich und lächelte zu ihm hoch.
Er zog meinen Kopf an seine Schulter. »Gott«, seufzte er noch einmal. »Komm, wir vergessen diesen ganzen beknackten Fall und nehmen uns den Tag frei, ja?«
»Das Treffen ist rein beruflich«, rief ich ihm in Erinnerung. »Schon vergessen? Du warst es, der mir verboten hat, die weiße Spitzenwäsche zu tragen.«
»Ich hab’s mir anders überlegt.« Er ließ seine Hände über meine Arme gleiten. »Du siehst toll aus, weißt du das? Ganz entspannt und hellwach und längst nicht mehr so dünn. Der Fall tut dir gut.«
»Landluft«, sagte ich. »Außerdem kocht Justin immer wie für zwölf. Wie geht’s denn jetzt weiter?«
Sam seufzte noch einmal, ließ meine Hände los und lehnte sich gegen das Auto. »Meine drei Jungs kommen aufs Revier nach Rathowen, jeweils mit einer halben Stunde Abstand. Die Zeit müsste reichen. Vorläufig will ich nur ein Gefühl für sie kriegen, ohne sie aufzuscheuchen. Es gibt da keinen Beobachtungsraum, aber im Aufnahmebereich kannst du alles hören, was im Vernehmungszimmer passiert. Du kannst hinten warten, während ich sie reinführe, dich dann nach vorne zur Aufnahme schleichen und mithören.«
»Ich würde auch gern einen Blick auf sie werfen«, sagte ich. »Lass mich doch einfach vorn rumsitzen. Könnte nicht schaden, wenn sie mich sehen. Wenn einer von ihnen unser Mann ist – für den Mord oder auch nur für die Sachbeschädigung –, dann wird er ziemlich heftig auf mich reagieren.«
Sam schüttelte den Kopf. »Das macht mir ja gerade Sorgen. Weißt du noch neulich Nacht, als wir telefoniert haben und du dachtest, du hättest jemanden gehört? Falls einer von denen dich verfolgt und dann denkt, du redest mit uns … Wir wissen sowieso schon, dass er ziemlich aufbrausend ist.«
»Sam«, sagte ich sanft und schob meine Finger zwischen seine, »genau das ist meine Aufgabe. Dafür sorgen, dass wir näher an ihn rankommen. Wenn du mich das nicht machen lässt, bin ich völlig überflüssig, nur jemand, der dafür bezahlt wird, gut zu essen und Schundromane zu lesen.«
Nach einem Moment lachte Sam, ein kurzes, widerwilliges Ausatmen. »Stimmt«, sagte er. »In Ordnung. Schau dir die Jungs an, wenn ich sie wieder rausbringe.«
Er drückte sacht meine Finger und ließ los. »Ehe ich’s vergesse« – er griff in sein Jackett –, »Mackey schickt dir die hier.« Es war eine Tablettendose wie die, die ich mit ins Whitethorn House gebracht hatte und auf der das Apothekenetikett unübersehbar verkündete, dass es sich um Amoxicillin handelte. »Ich soll dir von ihm bestellen, dass deine Wunde noch nicht ganz verheilt ist und der Arzt befürchtet, du könntest doch noch eine Infektion bekommen. Deshalb sollst du noch welche von denen hier nehmen.«
»Na, wenigstens krieg ich genug Vitamin C«, sagte ich und steckte die Dose ein. Sie fühlte sich zu schwer an, zerrte seitlich an meiner Jacke. Der Arzt befürchtet … Frank bereitete langsam meinen Ausstieg vor.
Das Polizeirevier von Rathowen war trostlos. Ich hatte schon viele in der Art gesehen, in irgendwelchen abgelegenen Winkeln des Landes verteilt: kleine Reviere, die in einem Teufelskreis stecken, weil sie sowohl von den Leuten, die Gelder vergeben, mit Verachtung gestraft werden als auch von den Leuten, die Posten vergeben, und überdies noch von jedem, der irgendwo im Universum eine andere Stellung ergattern kann. Der Aufnahmebereich bestand aus einem wackeligen Stuhl, einer Plakatwerbung für Fahrradhelme und einer Schaltertheke, hinter der Byrne stand, blicklos zur Tür hinausstarrte und Kaugummi kaute. Das Vernehmungszimmer diente offenbar gleichzeitig auch als Lagerraum: Es enthielt einen Tisch, zwei Stühle, einen Aktenschrank – nicht abschließbar –, einen Stapel mit Formularen für Zeugenaussagen und aus mir unerfindlichen Gründen in einer Ecke einen ramponierten Einsatzschild aus den achtziger Jahren. Der Bodenbelag war vergilbtes Linoleum, und an der Wand klebte eine zerquetschte Fliege. Kein Wunder, dass Byrne so aussah, wie er aussah.
Ich blieb bei Byrne hinter dem Schalter, außer Sicht, während Sam versuchte, das Vernehmungszimmer ein bisschen auf Vordermann zu bringen. Byrne schob seinen Kaugummi in eine Backe und musterte mich mit einem langen, deprimierten Blick. »Das klappt nie«, erklärte er.
Ich wusste nicht, was ich darauf erwidern sollte, aber anscheinend war gar keine Antwort erforderlich. Byrne holte seinen Kaugummi aus der Backe hervor und glotzte wieder nach draußen. »Da kommt Bannon«, sagte er. »Dieser hässliche dicke Klotz.«
Wenn Sam will, hat er eine angenehm leichte Hand bei Vernehmungen, und an dem Tag wollte er. Er führte sie wie eine lockere Unterhaltung, beiläufig, unangestrengt. Fällt Ihnen vielleicht irgendjemand ein, auch wenn es nur so ein Gefühl ist, der Miss Madison angegriffen haben könnte? Wie sind die denn so, die fünf oben im Whitethorn House? Haben Sie in letzter Zeit irgendjemanden in Glenskehy gesehen, den Sie nicht kannten? Er vermittelte den Eindruck, subtil, aber unmissverständlich, dass die Ermittlung allmählich im Sande verlief.
Bannon antwortete hauptsächlich mit gereiztem Brummen. McArdle war weniger bärbeißig und dafür gelangweilter. Beide behaupteten, nicht die geringste Ahnung zu haben, von gar nichts. Ich hörte nur mit halbem Ohr hin. Falls es da irgendetwas gab, würde Sam es finden. Ich wollte bloß einen Blick auf John Naylor werfen und sein Gesicht sehen, wenn er mich erblickte. Ich ließ mich auf dem wackeligen Stuhl nieder, Beine ausgestreckt, versuchte so auszusehen, als wäre ich zu einer weiteren sinnlosen Befragung herzitiert worden, und wartete.
Bannon war tatsächlich ein hässlicher dicker Klotz: beachtlicher Bierbauch, muskelbepackt und gekrönt von einem Kartoffelgesicht. Als Sam ihn aus dem Vernehmungszimmer führte und er mich sah, stutzte er und betrachtete mich mit einem bösen, angewiderten Grinsen. Oh ja, er wusste, wer Lexie Madison war, und er konnte sie nicht leiden. McArdle dagegen – er war ein langes, mageres Hemd mit einem zotteligen Möchtegernbart – nickte mir halbherzig zu und trottete von dannen. Ich ging wieder hinter die Theke und wartete auf Naylor.
Seine Vernehmung lief so ähnlich ab wie bei den beiden anderen: nichts gesehen, nichts gehört, nichts zu sagen. Er hatte eine nette Stimme, einen flotten Bariton mit diesem Glenskehy-Einschlag, der mir allmählich vertraut wurde – rauer als der von Wicklow, wilder – und einem angespannten Unterton. Dann kam Sam zum Schluss und öffnete die Tür.
Naylor war mittelgroß, drahtig, trug Jeans und einen Schlabberpullover von unbestimmter Farbe. Er hatte volles rotbraunes Haar und ein markantes Gesicht: hohe Wangenknochen, breiter Mund, schmale grüne Augen unter buschigen Brauen. Ich wusste nicht, was für einen Männergeschmack Lexie gehabt hatte, aber dieser Bursche war gutaussehend, keine Frage.
Dann bemerkte er mich. Seine Augen weiteten sich, und sein starrer Blick warf mich fast auf meinem Stuhl nach hinten. Was für eine Intensität! Es hätte Hass sein können, Liebe, Wut, Entsetzen, alles auf einmal, jedenfalls war es nicht mit Bannons gehässiger Häme zu vergleichen. Das war Leidenschaft, hell und lodernd wie eine Leuchtfackel.
»Was denkst du?«, fragte Sam, während er hinter Naylor herschaute, wie er die Straße überquerte und auf einen verdreckten’89er Ford zuging, der beim Schrotthändler mit etwas Glück noch fünfzig Euro bringen würde.
Ich dachte vor allem, dass ich jetzt ziemlich sicher war, woher das Prickeln bei mir im Nacken rührte. »Falls McArdle kein Schauspieltalent besitzt«, sagte ich, »kannst du ihn auf deiner Liste nach ganz unten schieben, denke ich. Ich wette, er hatte keine Ahnung, wer ich bin – und dein Vandale hat das Haus gut beobachtet, selbst wenn er nicht unser Mann ist. Er würde mein Gesicht kennen.«
»Was auf Bannon und Naylor auch zutrifft«, sagte Sam. »Und sie haben sich kein bisschen gefreut, dich zu sehen.«
»Die sind aus Glenskehy«, sagte Byrne düster hinter uns. »Die freuen sich nie, irgendwen zu sehen, echt. Und es freut sich auch nie einer, sie zu sehen.«
»Ich hab Hunger«, sagte Sam. »Gehen wir was essen?«
Ich schüttelte den Kopf. »Geht nicht. Rafe hat mich schon angesimst und gefragt, ob alles in Ordnung ist. Ich hab geantwortet, ich wäre noch im Wartezimmer, aber wenn ich nicht bald zur Uni komme, fahren die bestimmt zum Krankenhaus und suchen mich.«
Sam holte tief Luft, nahm die Schultern zurück. »Richtig«, sagte er. »Immerhin haben wir einen mehr oder weniger ausgeschlossen. Bleiben bloß noch zwei. Ich fahr dich in die Stadt.«
Keiner stellte Fragen, als ich in die Bibliothek kam. Die anderen nickten mir zu, als hätte ich bloß eine Zigarettenpause gemacht. Meine genervte Reaktion auf Justin am Vorabend war bei allen angekommen.
Er war noch immer sauer auf mich. Ich ignorierte ihn den ganzen Nachmittag. Das beleidigte Schweigen machte mir zu schaffen, aber Lexies Dickköpfigkeit wäre nicht angekratzt worden, höchstens ihre Konzentrationsfähigkeit. Erst beim Abendessen – Schmortopf, so dick, dass er kaum noch als Flüssigkeit gelten konnte – sagte ich etwas. Das ganze Haus duftete wunderbar, satt und warm. »Reicht’s noch für einen Nachschlag?«, fragte ich Justin.
Er zuckte die Achseln, ohne mich anzusehen. »Primadonna«, sagte Rafe halblaut.
»Justin«, sagte ich. »Bist du noch immer böse, weil ich gestern Abend so rumgezickt habe?«
Wieder ein Achselzucken. Abby, die mir gerade die Schüssel hatte reichen wollen, stellte sie wieder hin.
»Ich hatte Schiss, Justin. Ich hatte Angst, ich gehe heute dahin, und die Ärzte sagen mir, dass irgendwas nicht stimmt und ich nochmal operiert werden muss oder so.« Er schaute auf, ein kurzer, nervöser Blick, ehe er sich wieder darauf konzentrierte, sein Brot zu zerbröseln. »Ich bin nicht damit klargekommen, dass du auch Angst hast. Es tut mir ehrlich leid. Verzeihst du mir?«
»Na ja«, sagte er nach kurzem Zögern mit einem ganz leisen Lächeln. »Ich glaub schon.« Er beugte sich vor und stellte die Schüssel neben meinen Teller. »Und jetzt. Iss das auf.«
»Was haben die Ärzte denn nun gesagt?«, fragte Daniel. »Du musst doch nicht noch mal operiert werden, oder?«
»Nein, nein«, sagte ich und lud meinen Teller voll. »Nur weiter Antibiotika nehmen. Die meinen, ich könnte immer noch eine Infektion bekommen.« Als ich es laut aussprach, durchzuckte mich etwas, irgendwo unter dem Mikro.
»Haben sie irgendwelche Tests gemacht? Dich geröntgt?«
Ich hatte keinen Schimmer, was Ärzte in meinem Fall getan hätten. »Mir geht’s gut«, sagte ich. »Können wir aufhören, darüber zu reden?«
»Braves Mädchen«, sagte Justin und deutete mit dem Kinn auf meinen Teller. »Heißt das, wir dürfen jetzt öfter als bloß einmal im Jahr was mit Zwiebeln machen?«
Auf einmal hatte ich das entsetzliche Gefühl, dass mir der Magen absackte. Ich starrte Justin verständnislos an.
»Na ja, wenn du noch mal nachnimmst«, sagte er geziert, »wird dir wenigstens nicht mehr schlecht davon, oder?«
Scheißescheißescheiße. Da ich selbst so ziemlich alles esse, war ich gar nicht auf die Idee gekommen, dass Lexie vielleicht bestimmte Sachen nicht mochte, und so etwas hätte Frank nicht unbedingt bei einem beiläufigen Gespräch herausfinden können. »Ich hab sie nicht mal rausgeschmeckt«, sagte ich. »Ich glaub, mein Geschmackssinn leidet unter den Antibiotika. Alles schmeckt gleich.«
»Ich dachte, du magst die Konsistenz nicht«, sagte Daniel.
Scheiße. »Ich mag den Gedanken nicht, Zwiebeln zu essen. Und jetzt, wo ich weiß, dass welche drin sind –«
»Das ist meiner Oma passiert«, sagte Abby. »Die hat Antibiotika genommen und den Geruchssinn verloren. Darüber solltest du mit deinem Arzt sprechen.«
»Um Gottes willen, nein«, sagte Rafe. »Jetzt, wo wir endlich was gefunden haben, damit sie nicht mehr über Zwiebeln meckert, sollten wir der Natur ihren Lauf lassen, finde ich. Nimmst du den Rest noch oder kann ich?«
»Ich will meinen Geschmackssinn nicht verlieren und dann Zwiebeln essen«, sagte ich. »Da nehme ich lieber eine Infektion in Kauf.«
»Gut. Dann her mit der Schüssel.«
Daniel widmete sich wieder seinem Teller. Ich stocherte argwöhnisch auf meinem herum. Rafe verdrehte die Augen. Mein Herz raste. Früher oder später, dachte ich, unterläuft mir ein Fehler, aus dem ich mich nicht mehr rausreden kann.
»Gute Reaktion bei den Zwiebeln«, sagte Frank am selben Abend. »Und wenn es so weit ist, dich abzuziehen, ist alles bestens vorbereitet: Die Antibiotika machen deinen Geschmackssinn kaputt, du hörst auf, sie zu nehmen, und voilà, schon hast du eine Infektion. Hätte ich auch selbst draufkommen können.«
Ich saß oben in meinem Baum, die Gemeinschaftsjacke um mich gewickelt – es war eine bewölkte Nacht, feiner Nieselregen besprühte die Blätter und drohte, jeden Moment in einen richtigen Schauer überzugehen –, und lauschte angestrengt auf John Naylor. »Du hast mitgehört? Gehst du denn nie nach Hause?«
»In letzter Zeit kaum. Wenn wir unseren Mann haben, kann ich noch lange genug schlafen. Apropos, mein Wochenende mit Holly ist demnächst. Deshalb wäre ich nicht traurig, wenn wir die Sache bald beenden könnten.«
»Ich auch nicht«, sagte ich, »das kannst du mir glauben.«
»Ach ja? Ich hatte so das Gefühl, dass du dich da pudelwohl fühlst.«
Ich wusste seine Stimme nicht zu deuten, keiner kann so gleichmütig tun wie Frank. »Es könnte sehr viel schlimmer sein, klar«, sagte ich vorsichtig. »Aber das heute Abend war ein Weckruf. Ich kann das nicht ewig durchhalten. Hat sich bei dir irgendwas ergeben?«
»Noch immer kein Hinweis, warum May-Ruth auf und davon ist. Chad und ihre Freunde erinnern sich nicht, dass in dieser Woche irgendwas Ungewöhnliches passiert wäre. Aber das muss nicht unbedingt was heißen. Ist schließlich viereinhalb Jahre her.«
Ich war nicht überrascht. »Na ja«, sagte ich. »War den Versuch wert.«
»Aber wir haben was anderes rausgefunden«, sagte Frank. »Hat wahrscheinlich nichts mit unserem Fall zu tun, aber es ist eigenartig, und in dieser Phase sollten wir uns über alles Eigenartige Gedanken machen. Mal ganz vordergründig betrachtet, was für eine Persönlichkeit hatte Lexie, deiner Meinung nach?«
Ich zuckte die Achseln, obwohl er mich nicht sehen konnte. Ich fand die Frage irgendwie unangenehm, als wollte er, dass ich mich selbst beschreibe. »Ich weiß nicht. Lebhaft, würde ich sagen. Fröhlich. Selbstbewusst. Voller Energie. Vielleicht ein bisschen kindlich.«
»Genau. Sehe ich auch so. So wirkt sie auf den Videoclips und in den Darstellungen ihrer Mitbewohner. Aber mein FBI-Kumpel hat von May-Ruths Freunden eine ganz andere Beschreibung bekommen.«
Etwas Kaltes glitt durch meinen Bauch. Ich stemmte die Füße höher gegen den Baum und fing an, an meinen Fingerknöcheln zu kauen.
»Sie beschreiben sie als schüchtern, sehr still. Chad dachte, das käme daher, dass sie aus irgendeinem Kaff in den Appalachen stammte. Er hat gesagt, Raleigh wäre für sie ein Riesenabenteuer gewesen. Sie hätte gern dort gelebt, sich aber auch ein bisschen überfordert gefühlt. Sie war sanft, verträumt, liebte Tiere, hatte mit dem Gedanken gespielt, Sprechstundenhilfe in einer Tierarztpraxis zu werden. Jetzt frag ich dich: Klingt das auch nur annähernd nach unserer Lexie?«
Ich fuhr mir mit der Hand durchs Haar und wünschte, ich hätte festen Boden unter den Füßen. Ich brauchte Bewegung. »Was willst du damit sagen? Denkst du, wir haben es mit zwei verschiedenen Frauen zu tun, die zufällig beide so aussehen wie ich? Eins kann ich dir nämlich sagen, Frank, in diesem Fall ist mir der Appetit auf Zufälle vergangen.« Ich hatte die verrückte Vorstellung, dass immer mehr Doppelgängerinnen aus dem Nichts auftauchten, lauter identische Cassies, die überall auf dem Globus aus der Erde wuchsen, ein Ich in jedem Hafen. Das hab ich jetzt davon, dass ich mir als Kind eine Schwester gewünscht habe, dachte ich irre und unterdrückte ein hysterisches Kichern.
Frank lachte. »Nein, nein. Du weißt, ich liebe dich, Kleines, aber zwei von euch sind mehr als genug. Außerdem stimmen die Fingerabdrücke von unserer Unbekannten mit denen von May-Ruth überein. Ich finde es nur eigenartig. Kollegen von mir haben schon mal mit Leuten zu tun gehabt, die ihre Identität gewechselt haben – Menschen im Zeugenschutzprogramm, erwachsene Ausreißer, wie unsere Lexie –, und sie sagen alle das Gleiche: Diese Leute waren hinterher dieselben wie vorher. Ein neuer Name und ein neues Leben sind nicht gleichbedeutend mit einer neuen Persönlichkeit. Selbst für einen gut ausgebildeten Undercovercop ist das eine Dauerbelastung. Du weißt selbst, wie es war, rund um die Uhr Lexie Madison sein zu müssen – und wie es jetzt ist, natürlich. Es ist nicht leicht.«
»Ich komme klar«, sagte ich. Wieder hatte ich den wilden Drang loszulachen. Diese Frau, wer immer sie war, hätte eine großartige Undercoverbeamtin abgegeben. Vielleicht hätten wir unsere Leben schon früher tauschen sollen.
»Das weiß ich doch«, sagte Frank sofort. »Aber unsere Unbekannte ist eben auch klargekommen, und da sollten wir mal nachhaken. Vielleicht war sie einfach ein Naturtalent, aber vielleicht ist sie auch irgendwo ausgebildet worden, für Undercovereinsätze oder als Schauspielerin. Ich bin dabei, mich umzuhören. Denk du mal drüber nach und achte drauf, ob du irgendwelche Hinweise in die eine oder andere Richtung findest. Was hältst du davon?«
»Klingt nicht schlecht«, sagte ich und lehnte mich langsam gegen den Stamm. »Gute Idee.«
Mir war nicht mehr nach Lachen zumute. Plötzlich stand mir wieder jener erste Nachmittag in Franks Büro vor Augen, so klar, dass ich einen Moment lang Staub und Leder und Kaffee mit einem Schuss Whiskey roch, und zum ersten Mal beschlich mich der Verdacht, dass ich gar nicht richtig gemerkt hatte, was in diesem kleinen sonnendurchfluteten Raum passiert war. Dass ich unbekümmert und arglos an dem eigentlich entscheidenden Augenblick vorbeigehüpft war. Ich hatte stets angenommen, dass ich in den ersten paar Minuten geprüft worden war, mit dem Pärchen auf der Straße oder als Frank fragte, ob ich Angst hätte. Nie war ich auf die Idee gekommen, dass das lediglich die äußeren Tore gewesen waren und die wahre Herausforderung erst sehr viel später erfolgte, als ich schon glaubte, sicher drin zu sein. Dass der geheime Handschlag, mit dem ich die Sache besiegelte, ohne es zu wissen, die Leichtigkeit war, mit der ich bei der Erfindung von Lexie Madison mitgeholfen hatte.
»Weiß Chad Bescheid?«, fragte ich unvermittelt, als Frank schon auflegen wollte. »Dass May-Ruth nicht May-Ruth war.«
»Ja«, sagte Frank fröhlich. »Tut er. Ich hab ihm seine Illusionen gelassen, solange es ging, aber diese Woche hat einer von den FBIlern es ihm gesagt. Ich musste wissen, ob er noch was verschweigt, aus Loyalität oder sonst was. Offenbar hatte er nichts verschwiegen.«
Der arme Teufel. »Wie hat er es aufgenommen?«
»Er wird’s überleben«, sagte Frank. »Bis morgen.« Und damit legte er auf. Ich blieb noch lange in meinem Baum sitzen und kratzte mit dem Fingernagel Muster in die Rinde.
Ich begann mich zu fragen, ob ich nicht den Mörder, sondern das Opfer unterschätzt hatte. Ich wollte diesen Gedanken nicht zu Ende denken, war davor zurückgeschreckt, aber ich wusste: Irgendetwas hatte mit Lexie nicht gestimmt, irgendetwas tief in ihr. Ihre Härte, die Art, wie sie Chad ohne ein Wort zurückließ und lachte, wie sie Vorbereitungen traf, Whitethorn House zu verlassen, wie ein Tier, das seine eigene gefangene Pfote mit einem Biss und ohne Wimmern abbeißt, all das hätte pure Verzweiflung sein können. Das verstand ich, ganz und gar. Aber das jetzt, dieser nahtlose Übergang von der lieben, schüchternen May-Ruth zu der quirligen Spaßmacherin Lexie: Das war etwas anderes, etwas Falsches. Es gab keine Angst und keine Verzweiflung, die das erforderlich gemacht hätten. Sie hatte es getan, weil sie es wollte. Eine Frau mit so vielen Geheimnissen und so viel Dunklem in sich wäre durchaus fähig gewesen, bei anderen einen bodenlosen Zorn zu wecken.
Es ist nicht leicht, hatte Frank gesagt. Aber das war es ja gerade: Für mich ist es immer leicht gewesen. Beide Male war mir die Rolle der Lexie Madison so leichtgefallen wie atmen. Ich war in sie hineingeschlüpft wie in eine bequeme alte Jeans, und genau das hatte mir die ganze Zeit Angst gemacht.
Erst als ich mich in jener Nacht schlafen legte, erinnerte ich mich: Der Tag im Garten, als es plötzlich klick machte und ich die fünf als eine Familie sah, Lexie als die freche kleine Nachzüglerin. Lexies Verstand hatte sich auf denselben Gleisen bewegt wie meiner, nur tausendmal schneller. Ein Blick hatte genügt, und sie wusste, was die anderen waren und was ihnen fehlte, und dann hatte sie sich schnell wie ein Wimpernschlag dazu gemacht.