13

Von dem Moment an, als Sam sagte, er wolle die drei Männer vorladen, die er der mutwilligen Sachbeschädigung verdächtigte, hatte ich gewusst, dass das Folgen haben würde. Falls unser Wandbesprüher mit dabei war, dann wäre er überhaupt nicht glücklich darüber, von den Bullen vernommen zu werden, er würde uns die ganze Sache in die Schuhe schieben, und es war so sicher wie das Amen in der Kirche, dass er das nicht auf sich beruhen lassen würde. Was ich nicht bedacht hatte war, wie schnell der Schlag erfolgen würde und wie hart. So sicher, wie ich mich in dem Haus fühlte, hatte ich vergessen, dass mir schon diese Tatsache an sich hätte eine Warnung sein müssen.

Er brauchte bloß einen Tag. Wir waren im Wohnzimmer, Samstagabend, kurz vor Mitternacht. Abby und ich hatten uns mit Lexies silbernem Nagellack die Nägel lackiert, saßen auf dem Kaminvorleger und wedelten mit den Fingern, damit der Lack schneller trocknete. Rafe und Daniel lieferten das Gegengewicht zu dieser Östrogenwelle, indem sie Onkel Simons Webley säuberten. Der Revolver hatte zwei Tage lang draußen auf der Terrasse in einer Auflaufform mit Lösungsmittel gelegen, und Rafe hatte beschlossen, jetzt könnten sie loslegen. Er und Daniel hatten den Tisch in ihre Waffenkammerzone umgewandelt – Werkzeugkasten, Geschirrtücher, Lappen – und waren emsig dabei, die Waffe mit alten Zahnbürsten zu putzen: Daniel attackierte die Dreckkruste an den Griffschalen, während Rafe sich den eigentlichen Revolver vornahm. Justin lag ausgestreckt auf dem Sofa, redete halblaut auf seine Arbeitsnotizen ein und aß dabei kaltes Popcorn aus einer Schüssel neben sich. Irgendwer hatte Purcell aufgelegt, eine friedliche Ouvertüre in Moll. Der ganze Raum roch nach Lösungsmittel und Rost, ein strenger, beruhigender, vertrauter Geruch.

»Wisst ihr was?«, sagte Rafe, legte seine Zahnbürste weg und untersuchte den Revolver. »Unter dem ganzen Dreck ist er eigentlich noch in einem ganz passablen Zustand. Könnte durchaus sein, dass er wieder funktioniert.« Er griff über den Tisch nach der Patronenschachtel, legte ein paar Patronen ein und klappte die Trommel zu. »Irgendwer Lust auf eine kleine Partie russisches Roulette?«

»Hör auf«, sagte Justin und schüttelte sich. »Das ist makaber.«

»Gib her«, sagte Daniel, die Hand nach dem Revolver ausgestreckt. »Spiel nicht mit dem Ding rum.«

»Das war ein Witz, Menschenskind«, sagte Rafe und reichte ihn rüber. »Ich teste nur, ob alles funktioniert. Morgen früh geh ich damit auf die Terrasse und schieß uns ein Kaninchen zum Abendessen.«

»Nein«, sagte ich, fuhr hoch und sah ihn empört an. »Ich mag die Kaninchen. Lass sie in Frieden.«

»Wieso? Die machen doch nichts anderes als immer nur noch mehr Kaninchen und die Wiese vollkötteln. Die kleinen Biester wären als Frikassee oder Braten sehr viel nützlicher.«

»Du bist abartig. Hast du denn nie Unten am Fluss gelesen?«

»Du kannst dir nicht die Finger in die Ohren stecken, weil du sonst deine Maniküre ruinierst. Ich könnte dir ein Häschen au vin kochen, das –«

»Du kommst garantiert in die Hölle, weißt du das?«

»Ach, reg dich ab, Lex, das macht er sowieso nicht«, sagte Abby und pustete auf ihren Daumennagel. »Die Kaninchen kommen in aller Herrgottsfrühe raus. Und um die Zeit weilt Rafe noch längst nicht unter den Lebenden.«

»Ich kann nichts Abstoßendes daran finden, Tiere zu erlegen«, sagte Daniel und klappte den Revolver behutsam auf, »vorausgesetzt, du verzehrst, was du tötest. Letzten Endes sind wir Raubtiere. In einer idealen Welt fände ich es großartig, wenn wir völlig selbstgenügsam wären – von dem leben könnten, was wir anbauen und jagen, von niemandem abhängig. In der Realität wird das natürlich kaum zu erreichen sein, und ich würde auf jeden Fall nur ungern mit den Kaninchen anfangen. Die sind mir ans Herz gewachsen. Gehören irgendwie zum Haus.«

»Siehst du?«, sagte ich zu Rafe.

»Was soll ich sehen? Sei nicht so kindisch. Wie oft hab ich nicht schon erlebt, dass du dich mit Steaks vollstopfst oder –«

Ich war auf den Beinen und in Schießhaltung, eine Hand dort, wo meine Waffe hätte sein sollen, ehe ich überhaupt begriff, dass wir ein lautes Krachen gehört hatten. Neben Abby und mir auf dem Kaminvorleger lag ein scharfkantiger Stein, als wäre er schon die ganze Zeit da gewesen, umgeben von hellen Glassplittern wie Eiskristalle. Abbys Mund war zu einem erschrockenen kleinen O geöffnet, und ein langer kalter Luftzug fegte durch das geborstene Fenster herein, blähte die Vorhänge auf.

Dann fuhr Rafe aus seinem Sessel hoch und hechtete Richtung Küche. Ich war einen halben Schritt hinter ihm, mit Justins panischem Schrei – »Lexie, deine Wunde!« – in den Ohren. Irgendwo rief Daniel etwas, aber ich stürmte gleich hinter Rafe nach draußen, und als er mit wehenden Haaren von der Terrasse sprang, hörte ich das Tor hinten im Garten scheppern.

Es schwang noch immer wie verrückt hin und her, als wir hindurchrannten. Auf dem Feldweg blieb Rafe abrupt stehen, den Kopf gereckt, und hielt mich mit einer Hand am Handgelenk fest: »Pssst.«

Wir lauschten, atmeten nicht. Ich spürte etwas hinter mir aufragen und wirbelte herum, aber es war Daniel, flink und lautlos wie eine große Katze auf dem Gras.

Wind in den Blättern. Dann rechts von uns, Richtung Glenskehy und nicht weit weg, das leise Knacken eines Zweiges.

Das letzte Licht vom Haus her verschwand hinter uns, und wir flogen in der Dunkelheit den Weg hinunter, Blätter peitschten unter meinen Fingerspitzen, als ich eine Hand zur Hecke streckte, um mich zu orientieren, eine plötzliche Explosion rennender Füße vor uns und ein heiserer Triumphschrei von Rafe neben mir. Sie waren schnell, Rafe und Daniel, schneller, als ich für möglich gehalten hätte. Unser Atem klang mir wild in den Ohren, wie bei einem jagenden Rudel, das harte Schlagen unserer Füße und mein Puls wie Kriegstrommeln, die mich weitertrieben. Der Mond verschwand immer wieder hinter dahinjagenden Wolken, und ich sah ganz kurz etwas Schwarzes, nur zwanzig oder dreißig Meter vor uns, gebückt und grotesk in dem seltsamen weißen Licht und im schnellen Lauf. Für eine Sekunde sah ich Frank über seinen Schreibtisch gebeugt, die Hände auf die Kopfhörer gepresst, und ich dachte so fest wie ein Faustschlag in seine Richtung: Wag es nicht, wag es bloß nicht, deine Gorillas loszuschicken, der hier gehört uns.

Wir schwangen um einen Knick im Weg, fassten nach der Hecke, um das Gleichgewicht zu halten, und bremsten scharf an einer Kreuzung ab. Im Mondlicht verliefen die Wege in alle Richtungen, leer und unbestimmt, verrieten nichts. Steinhaufen duckten sich in den Feldern wie verzauberte Wächter.

»Wo ist er hin?« Rafes Stimme war ein gebrochenes Flüstern. Er fuhr herum, witterte wie ein Jagdhund. »Wo ist das Schwein hin?«

»So schnell kann er nicht verschwunden sein«, murmelte Daniel. »Er ist irgendwo in der Nähe. Versteckt sich.«

»Scheiße!«, zischte Rafe. »Scheiße, so ein kleiner Wichser – so ein verdammter – Gott, ich bring ihn um –«

Der Mond glitt wieder davon. Die Jungs rechts und links von mir waren kaum noch Schatten und verblassten immer mehr. »Taschenlampe?«, flüsterte ich, reckte mich dabei, um den Mund dicht an Daniels Ohr zu bringen, und sah sein rasches Kopfschütteln vor dem Himmel.

Wer auch immer der Mann war, er kannte die Gegend wie seine Westentasche. Er könnte sich die ganze Nacht hier verkriechen, wenn er wollte, von einem Versteck zum nächsten huschen, wie Generationen seiner rebellischen Ahnen es vor ihm getan hatten, bloß schmale Augenschlitze, die aus dem Laub spähen und dann verschwunden sind.

Aber er ließ nach. Uns diesen Stein durchs Fenster zu werfen, wo er doch wissen musste, dass wir ihn verfolgen würden: Seine Selbstbeherrschung geriet ins Wanken, zerbröselte unter Sams Fragen und dem unaufhörlichen harten Druck seines eigenen Zorns. Er konnte sich endlos lange verstecken, wenn er wollte, aber genau da lag der Haken: Er wollte nicht.

Alle Detectives, überall auf der Welt, wissen, dass das unsere beste Waffe ist: die Begehrlichkeiten des Herzens. Heute, wo Daumenschrauben und glühende Zangen passé sind, haben wir keine Möglichkeit, jemanden zu zwingen, einen Mord zu gestehen, uns zu der Leiche zu führen, einen Freund zu verraten oder einen Verbrecherkönig zu verpfeifen, und dennoch tun Menschen das nach wie vor. Sie tun es, weil es irgendetwas gibt, was ihnen noch wichtiger ist als Sicherheit: ein reines Gewissen, die Chance zur Selbstdarstellung, das Ende der inneren Anspannung, ein Neuanfang, was auch immer, wir finden es. Wenn wir durchschauen, was du haben willst – insgeheim, so tief in dir verborgen, dass du selbst es vielleicht nie wahrgenommen hast –, und es dir vor die Nase halten, gibst du uns im Gegenzug alles, was wir wollen.

Dieser Typ hatte die Nase gestrichen voll davon, sich auf seinem eigenen Territorium zu verstecken, mit Sprühfarbe und Steinen herumzuschleichen wie ein rotznäsiger Teenager, der Aufmerksamkeit braucht. Im tiefsten Innern seines Herzens wollte er eine Chance haben, mal richtig zuzuschlagen.

»Nicht zu fassen, der versteckt sich«, sagte ich mit meinem besten hochnäsigen Yuppie-Tonfall heiter und klar und amüsiert in die weite wartende Nacht hinein. Rafe und Daniel packten mich gleichzeitig, aber ich fasste ihre Arme und kniff zu, fest. »Gott, wie erbärmlich. Aus sicherer Entfernung macht er einen auf großen starken Mann, aber sobald wir ihm auf die Pelle rücken, hockt er sich schlotternd unter irgendeine Hecke, wie ein verängstigtes Karnickel.«

Daniels Hand um meinen Arm lockerte sich, und ich hörte ihn ausatmen, ein geisterhaftes Lachen – er war kaum außer Atem. »Ist auch besser so«, sagte er. »Der hat zwar nicht den Mumm zu kämpfen, aber immerhin genug Grips, um zu wissen, wann was eine Nummer zu groß für ihn ist.«

Ich griff blind nach Rafe und drückte erneut zu – wenn sich der Typ von irgendetwas aus der Deckung locken ließ, dann von dessen lässiger englischer Herablassung – und hörte ihn kurz und laut nach Luft schnappen, als der Groschen fiel. »Von Grips kann, glaube ich, keine Rede sein«, sagte er gedehnt. »Zu viele Schafe in der Ahnenreihe. Wahrscheinlich hat er uns schon vergessen und ist zu seiner Herde zurückgetrabt.«

Ein Rascheln, so leise und zu schnell abgebrochen, um es orten zu können. Dann nichts.

»Na komm, Miezekätzchen«, gurrte ich. »Na komm, Miez, Miez, Miez … «, und dann musste ich kichern.

»Zu Lebzeiten meines Urgroßvaters«, sagte Daniel kühl, »da wusste unsereins noch, was man mit Bauern macht, die die Nase zu hoch tragen. Ein paar Schläge mit der Pferdepeitsche, und die kapierten wieder, wo sie hingehören.«

»Aber dein Urgroßvater hat einen Fehler gemacht«, erklärte Rafe. »Die haben sich nämlich damals vermehrt wie die Karnickel. Man hätte ihre Fortpflanzung kontrollieren sollen, macht man ja auch mit anderen Nutzviechern.«

Wieder dieses Rascheln, lauter. Dann ein ganz kurzes deutliches Klicken, als würden Kieselsteine gegeneinanderstoßen, ganz nah.

»Nützlich waren sie uns schon«, sagte Daniel. Seine Stimme hatte einen vagen zerstreuten Tonfall, wie wenn er in ein Buch vertieft war und irgendwer ihm eine Frage stellte.

»Mag ja sein«, sagte Rafe, »aber jetzt sieh dir an, wohin das geführt hat. Die Evolution auf den Kopf gestellt. Das sumpfige Ende des Genpools. Ganze Horden von sabbernden, schwachsinnigen, halslosen, durch Inzucht entstandenen –«

Etwas brach nur wenige Meter entfernt aus der Hecke, schoss so dicht an mir vorbei, dass ich den Wind auf den Armen spürte, und krachte wie eine Kanonenkugel in Rafe hinein. Er stürzte mit einem Knurren zu Boden und schlug so hart auf, dass die Erde bebte. Für den Bruchteil einer Sekunde hörte ich die Geräusche eines Handgemenges, wild röchelnder Atem, das widerwärtige Klatschen einer Faust, die ihr Ziel fand, dann hechtete ich mitten hinein.

Wir wälzten uns in einem wirren Haufen, harte Erde unter meiner Schulter, Rafe, der nach Luft schnappte, Haare von irgendwem in meinem Mund, und ein Arm, der sich wie ein Stahlkabel aus meinem Griff wand. Der Kerl roch nach nassem Laub, er war stark und kämpfte mit allen Tricks, Finger, die nach meinen Augen tasteten, Füße, die hochschnellten und versuchten, sich in meinen Bauch zu bohren. Ich schlug zu, hörte jemanden Luft ausstoßen und spürte, dass seine Hand von meinem Gesicht glitt. Dann krachte jemand seitlich in uns hinein, hart wie eine Dampflok: Daniel.

Sein Gewicht schleuderte uns alle vier in die Büsche, Zweige zerkratzten mir den Nacken, heißer Atem an meinen Wangen und irgendwo der schnelle, gnadenlose Rhythmus von Fäusten, die auf etwas Weiches trafen, wieder und wieder. Es war ein böser, gemeiner, hässlicher Kampf, überall Arme und Beine, Stöße von knochigen Teilen, fürchterliche erstickte Laute wie wilde Hunde, die an ihrer Beute zerren. Es war drei gegen einen, und wir waren genauso wütend wie er, aber die Dunkelheit verschaffte dem Kerl einen Vorteil. Wir konnten nicht sehen, auf wen wir einschlugen. Er dagegen musste sich darum keine Gedanken machen, jeder Schlag, den er landete, war ein guter Schlag. Und er nutzte seinen Vorteil, wand und schlängelte sich, rollte uns alle vier immer wieder herum, so dass wir uns unmöglich orientieren konnten. Ich war benommen und aus der Puste und schlug wie verrückt in die Luft. Ein Körper plumpste auf mich drauf, und ich landete einen Treffer mit dem Ellbogen, hörte einen Schmerzensschrei, der von Rafe hätte sein können.

Dann griffen die Finger wieder nach meinem Gesicht. Ich streckte die Hand aus, ertastete ein stoppeliges Kinn, bekam einen Arm frei und schlug mit aller Kraft zu. Etwas traf mich in die Rippen, fest, aber es tat nicht weh, nichts tat weh, der Kerl hätte mich aufschlitzen können, und ich hätte nichts gespürt, ich wollte bloß immer weiter zuschlagen. Eine dünne, kühle warnende Stimme irgendwo in meinem Hinterkopf: Ihr könntet ihn umbringen, ihr drei könntet ihn umbringen, aber das war mir egal. Meine Brust war ein großer blendend weißer Aufruhr, und ich sah die letzte verwegene Wölbung von Lexies Hals, ich sah das warme Licht des Wohnzimmers entweiht von diesem gezackten Scherbenregen, ich sah Robs Gesicht, kalt und verschlossen, und ich hätte in alle Ewigkeit weiterdreschen können, ich wollte, dass das Blut dieses Burschen meinen Mund füllte, ich wollte spüren, wie sein Gesicht unter meiner Faust zu Brei und Splittern zerplatzte, und immer noch weitermachen.

Er wand sich behände wie eine Katze, und meine Knöchel trafen auf Erde und Stein, ich konnte ihn nicht finden. Ich fasste ins Dunkle, erwischte irgendein Hemd und hörte es reißen, als er mich mit der Schulter wegstieß. Es gab ein verzweifeltes, wogendes Gerangel, Kiesel spritzten auseinander, ein dumpfer widerlicher Laut, als ein Fuß auf Fleisch traf, ein wütendes Tierfauchen, dann rennende Schritte, schnell und ungleichmäßig, schwächer werdend.

»Wo –« Eine Faust riss an meinen Haaren. Ich schlug den Arm weg und tastete hektisch nach dem Gesicht, dem rauen Stoppelkinn, fand Stoff und heiße Haut und dann nichts. »Mann, runter –« Ein angestrengtes Ächzen, ein Gewicht, das sich von meinem Rücken hob, dann, jäh und ohrenbetäubend wie eine Explosion: Stille.

»Wo –«

Der Mond kam hinter den Wolken hervor, und wir starrten einander an: die Augen weit aufgerissen, dreckig, keuchend. Einen Moment lang erkannte ich die anderen kaum. Rafe rappelte sich hoch, mit gebleckten Zähnen und dunkel schimmerndem Blut unter der Nase. Daniel hingen die Haare ins Gesicht, und quer über seine Wangen zogen sich Streifen aus Dreck und Blut, wie eine Kriegsbemalung. Seine Augen waren schwarze Löcher in dem trügerischen grauen Licht, und beide sahen sie aus wie gefährliche Fremde, Geisterkrieger aus der letzten Schlacht eines untergegangenen wilden Stammes. »Wo ist er?«, flüsterte Rafe, ein langer, bedrohlicher Atemhauch.

Nichts rührte sich. Bloß ein scheuer kleiner Lufthauch huschte durch den Weißdorn. Daniel und Rafe waren geduckt wie Kämpfer, die Hände locker zu Fäusten geballt und bereit, und ich merkte, dass ich ebenso dastand. In dem Moment hätten wir uns gegenseitig angreifen können.

Dann verschwand der Mond wieder. Irgendetwas schien aus der Luft zu entweichen, eine Art Surren, zu hell, um es zu hören. Plötzlich waren meine Muskeln wie Wasser, das in der Erde versickert. Wenn ich mir nicht eine Handvoll Hecke gepackt hätte, wäre ich umgefallen. Von einem der Jungs kam ein langes, zittriges Ausatmen, wie ein Schluchzen.

Schritte kamen hinter uns den Weg heraufgerannt – wir zuckten alle zusammen – und bremsten ein paar Meter von uns entfernt. »Daniel?«, flüstere Justin atemlos und ängstlich. »Lexie?«

»Wir sind hier«, sagte ich. Ich zitterte am ganzen Körper, so heftig, als hätte ich einen Krampfanfall. Mein Herz flatterte mir so hoch im Hals, dass ich kurz meinte, ich müsste brechen. Irgendwo neben mir würgte Rafe, krümmte sich und spuckte aus. »Überall Dreck –«

»Um Gottes willen. Seid ihr verletzt? Was ist passiert? Habt ihr ihn erwischt?«

»Wir haben ihn erwischt«, sagte Daniel mit einem tiefen harten Keuchen, »aber wir konnten die Hand nicht vor Augen sehen, und in dem Durcheinander ist er wieder entwischt. Hat keinen Sinn, ihn zu verfolgen, der ist inzwischen schon fast in Glenskehy.«

»Oh Gott. Hat er euch was getan? Lexie! Was ist mit deiner Naht?«

Justin war kurz davor, in Panik zu geraten. »Mir geht’s prima«, sagte ich laut und deutlich, damit das auch ja über das Mikro ging. Ich hatte zwar höllische Schmerzen an den Rippen, aber ich konnte nicht riskieren, dass irgendwer einen Blick darauf werfen wollte. »Mir tun bloß die Hände weh. Ich hab ein paar Volltreffer gelandet.«

»Ich glaub, einen davon hab ich abgekriegt, du Trottel«, sagte Rafe. Seine Stimme hatte einen überdrehten, albernen Ton angenommen. »Ich hoffe, deine Hände werden dick und blau.«

»Ich knall dir noch eine, wenn du nicht aufpasst«, sagte ich. Ich tastete meine Rippen ab. Da meine Hand stark zitterte, war ich mir zwar nicht ganz sicher, aber ich glaubte nicht, dass eine gebrochen war. »Justin, du hättest Daniel hören sollen. Er war genial.«

»Ja, echt«, sagte Rafe und fing an zu lachen. »Ein paar Schläge mit der Pferdepeitsche? Wie bist du denn da drauf gekommen?«

»Pferdepeitsche?«, fragte Justin bestürzt. »Wieso Pferdepeitsche? Wer hatte eine Pferdepeitsche?«

Rafe und ich konnten nicht antworten vor Lachen. »Menschenskind«, brachte ich schließlich heraus. »›Zu Lebzeiten meines Urgroßvaters … ‹«

»›Als die Bauern noch wussten, wo sie hingehören … ‹«

»Welche Bauern? Wovon redet ihr denn?«

»In dem Moment hatte das für mich Hand und Fuß«, sagte Daniel. »Wo ist Abby?«

»Sie ist beim Tor geblieben, für den Fall, dass er zurückkommt und – oh Gott, das wird er doch wohl nicht gemacht haben, oder?«

»Kann ich mir kaum vorstellen«, sagte Daniel. Auch in seiner Stimme klang ein Lachen an, das hervorbrechen wollte. Adrenalin: Wir knisterten förmlich davon. »Ich denke, dem reicht’s für heute. Alle unverletzt?«

»Nein, und das geht auf das Konto von unserer kleinen Kampfmaschine hier«, sagte Rafe. Er wollte mich an den Haaren ziehen, erwischte aber mein Ohr.

»Ich bin in Ordnung«, sagte ich und schlug Rafes Hand weg. Justin murmelte im Hintergrund noch immer: »Oh Gott, oh Gott, oh Gott … «

»Gut«, sagte Daniel. »Gehen wir nach Hause.«



Am hinteren Tor war keine Spur von Abby. Nichts außer den bebenden Weißdornbüschen und dem langsamen, gespenstischen Quietschen der Angeln in dem leichten Wind. Justin fing schon an zu hyperventilieren, als Daniel »Abby, wir sind’s« in die Dunkelheit rief und sie wie aus dem Nichts auftauchte, ein weißes Oval und ein schwingender Rock und ein bronzefarbener Strich. Sie hielt den Schürhaken in beiden Händen.

»Habt ihr ihn erwischt?«, flüsterte sie, ein leises, leidenschaftliches Zischen. »Habt ihr ihn erwischt?«

»Himmel, ich bin von wilden Kriegerinnen umgeben«, sagte Rafe. »Ich hoffe, ihr werdet niemals sauer auf mich.« Seine Stimme klang gedämpft, als würde er sich die Nase halten.

»Johanna von Orléans und Boudicca«, sagte Daniel lächelnd. Ich spürte kurz seine Hand auf meiner Schulter und sah die andere über Abbys Haar streichen. »Im Kampf, um ihr Heim zu verteidigen. Wir haben ihn erwischt. Nur einen Moment lang, aber ich glaube, wir haben ihm klargemacht, was Sache ist.«

»Ich hätte ihn am liebsten hergeschleift, um ihn ausgestopft über den Kamin zu hängen«, sagte ich, während ich versuchte, mit den Handgelenken Schmutz von meiner Jeans zu wischen, »aber er ist leider abgehauen.«

»Dieser kleine Wichser«, sagte Abby. Sie stieß laut pustend die Luft aus und ließ den Schürhaken sinken. »Ich hab ehrlich gehofft, dass er zurückkommt.«

»Lasst uns reingehen«, sagte Justin mit einem Blick über die Schulter.

»Was hat er eigentlich geworfen?«, wollte Rafe wissen. »Ich hab nicht mal hingesehen.«

»Einen Stein«, sagte Abby. »Und irgendwas ist mit Klebeband dran befestigt.«



»Um Gottes willen«, sagte Justin entsetzt, sobald wir die Küche betraten. »Wie seht ihr drei denn bloß aus!«

»Donnerwetter«, sagte Abby und zog die Augenbrauen hoch. »Beeindruckend. Ich würde zu gern sehen, wie euer Gegner aussieht.«

Wir sahen fast so schlimm aus, wie ich erwartet hatte. Zittrig und mit fahrigem Blick, völlig verdreckt und verkratzt, große dramatische Blutflecke an unerwarteten Stellen. Daniel hinkte stark, und sein Hemd war zerfetzt, ein Ärmel hing lose herab. Rafes Hose hatte an einem Knie einen Riss, durch das Loch war glänzendes Rot zu sehen, und er würde am nächsten Morgen ein prächtiges Veilchen haben.

»Eure Kratzer müssen desinfiziert werden«, sagte Justin. »Weiß der Himmel, was man sich auf diesen Wegen alles einfangen kann. Der ganze Dreck, Kühe und Schafe und alle möglichen –«

»Später«, sagte Daniel und schob sich die Haare aus den Augen. Dabei bekam er einen kleinen Zweig zwischen die Finger, betrachtete ihn verwundert und legte ihn sorgfältig auf den Küchentisch. »Ich finde, wir sollten erst mal nachsehen, was an dem Stein klebt.«

Es war ein gefaltetes Stück Papier, liniert, wie aus einem Schulheft gerissen. »Wartet«, sagte Daniel – Rafe und ich waren beide darauf zugegangen. Er nahm zwei Kugelschreiber vom Tisch, ging vorsichtig über die Scherben zu dem Stein und löste mit den Stiften das Blatt ab.

»Dann wollen wir uns den Schaden mal ansehen«, sagte Justin munter, eine Schüssel Wasser in der einen Hand, einen Lappen in der anderen. »Ladies first. Lexie, was ist mit deinen Händen?«

»Gleich«, sagte ich. Daniel hatte das Stück Papier zum Tisch getragen und faltete es behutsam mit den Kugelschreiberspitzen auseinander.

»Oh«, sagte Justin. »Oh.«

Wir stellten uns um Daniel, Schulter an Schulter. Sein Gesicht blutete – eine Platzwunde auf seinem Wangenknochen, entweder von einer Faust oder dem Rand seiner Brille –, aber er schien es nicht zu merken.

Es war eine Nachricht in wütenden Großbuchstaben, so kraftvoll geschrieben, dass der Stift sich an manchen Stellen durch das Papier gedrückt hatte. »WIR WERDEN EUCH AB-FACKELN.«

Für einen Moment trat absolute Stille ein.

»Mein lieber Mann«, sagte Rafe. Er ließ sich rückwärts aufs Sofa fallen und lachte laut auf. »Stark. Echte fackelschwingende Dorfbewohner. Was sagt man dazu?«

Justin schnalzte missbilligend mit der Zunge. »Idiotie«, sagte er. Jetzt, wo er wieder im Haus war, uns vier sicher in seiner Nähe hatte und etwas Sinnvolles tun konnte, hatte er sich beruhigt. »Lexie, deine Hände.«

Ich hielt sie ihm hin. Sie waren übel zugerichtet, dreck- und blutverschmiert, die Knöchel aufgeplatzt und die Hälfte der Nägel abgebrochen – schade um den schönen Silbernagellack. Justin sog zischend die Luft ein. »Großer Gott, was habt ihr denn bloß mit dem armen Kerl angestellt? Aber verdient hat er’s natürlich. Komm her, damit ich was sehen kann.« Er bugsierte mich in Abbys Sessel unter der Stehlampe und kniete sich neben mir auf den Boden. Von der Schüssel stieg eine Dampfwolke auf, die nach Desinfektionsmittel roch, ein warmer, wohltuender Duft.

»Sollen wir die Polizei anrufen?«, wollte Abby von Daniel wissen.

»Bloß nicht«, sagte Rafe, betupfte sich die Nase und sah dann nach, ob er Blut an den Fingern hatte. »Bist du verrückt geworden? Die ziehen doch wieder bloß ihre alte Masche ab: Danke, dass Sie das gemeldet haben, ausgeschlossen, dass wir den Täter je ausfindig machen, schaffen Sie sich einen Hund an, und tschüs. Könnte sogar sein, dass sie uns diesmal verhaften – ein Blick genügt, und die wissen, dass wir uns geprügelt haben. Denkst du etwa, Laurel und Hardy interessiert’s, wer angefangen hat? Justin, kann ich mal kurz den Lappen haben?«

»Moment noch.« Justin drückte den feuchten Lappen so sanft auf meine Knöchel, dass ich kaum etwas spürte. »Brennt das?« Ich schüttelte den Kopf.

»Ich blute gleich das Sofa voll«, drohte Rafe.

»Untersteh dich. Leg den Kopf in den Nacken und warte.«

»Eigentlich«, sagte Daniel, der noch immer nachdenklich auf den Zettel starrte, »wäre es jetzt vielleicht gar keine so schlechte Idee, die Polizei zu verständigen.«

Rafe setzte sich auf, seine Nase war vergessen. »Daniel. Spinnst du? Die haben einen Heidenschiss vor diesen Halbaffen unten im Dorf. Die würden alles tun, um sich bei denen einzuschmeicheln, und uns wegen Körperverletzung einzubuchten, wäre ein großer Schritt in die richtige Richtung.«

»Ehrlich gesagt, ich hab gar nicht an die hiesige Polizei gedacht«, sagte Daniel. »Nein. Ich dachte an Mackey oder O'Neill – einen von den beiden, je nachdem. Was meinst du?«, fragte er an Abby gewandt.

»Daniel«, sagte Justin. Seine Hand hatte aufgehört, sich auf meiner zu bewegen, und der hohe, panische Tonfall kroch erneut in seine Stimme. »Nein. Ich will nicht – seit Lexie wieder hier ist, lassen sie uns doch in Ruhe –«

Daniel betrachtete Justin einen Moment lang forschend über seine Brille hinweg. »Das stimmt, ja«, sagte er. »Aber das heißt mit Sicherheit nicht, dass sie die Ermittlungen eingestellt haben. Ich denke, sie suchen weiterhin mit großem Energieaufwand nach einem Verdächtigen, weshalb ich mir gut vorstellen kann, dass sie sehr dran interessiert wären, von unserem Freund von vorhin zu erfahren. Ich finde daher, wir sind verpflichtet, es ihnen zu erzählen, ob uns das nun passt oder nicht.«

»Ich will einfach, dass alles wieder normal wird.« Justins Stimme klang beinahe weinerlich.

»Jaja, das wollen wir alle«, sagte Daniel leicht gereizt. Er verzog das Gesicht, massierte seinen Oberschenkel, verzog erneut das Gesicht. »Und je schneller das hier vorüber ist und jemand zur Verantwortung gezogen wird, desto schneller wird es auch wieder so werden. Lexie beispielsweise würde sich bestimmt um einiges wohler fühlen, wenn der Typ in Gewahrsam wäre. Hab ich recht, Lexie?«

»Von wegen Gewahrsam, ich würde mich um einiges wohler fühlen, wenn uns das Arschloch nicht so schnell entwischt wäre«, sagte ich. »Das hat richtig Spaß gemacht.« Rafe grinste und beugte sich vor, um mit mir abzuklatschen.

»Mal abgesehen von Lexie«, sagte Abby, »das hier ist eine echte Drohung. Ich weiß ja nicht, wie du das siehst, Justin, aber ich bin nicht besonders scharf drauf, abgefackelt zu werden.«

»Ach Quatsch, das macht der nie im Leben«, sagte Rafe. »Brandstiftung erfordert ein gewisses Maß an Organisationstalent. Der würde sich selbst in die Luft jagen, ehe er auch nur in unsere Nähe kommt.«

»Und wenn nicht, ist das Haus futsch. Willst du das riskieren?«

Die Stimmung im Raum war umgeschlagen. Die überdrehte, fröhliche Verbundenheit war weg, mit einem bösartigen Zischen verpufft, wie Wasser auf einer heißen Kochplatte. Keiner amüsierte sich noch.

»Die Blödheit von diesem Kerl ist mir lieber als die Intelligenz der Bullen. Wir können sie nicht gebrauchen. Falls der Idiot wiederkommt – und das wird er nicht, nicht nach heute Abend –, dann werden wir allein mit ihm fertig.«

»Weil wir ja bis jetzt«, sagte Abby schroff, »so wahnsinnig gut darin gewesen sind, unsere Probleme selbst zu lösen.« Sie schnappte sich mit einer knappen, wütenden Bewegung die Popcornschüssel vom Boden und hockte sich hin, um die Scherben aufzulesen.

»Nein, lass das. Die Polizei wird alles so sehen wollen, wie es war«, sagte Daniel und ließ sich schwer in einen Sessel fallen. »Aua.« Er verzog das Gesicht, zog Onkel Simons Revolver aus der Gesäßtasche und legte ihn auf den Sofatisch.

Justins Hand erstarrte mitten in der Bewegung. Abby, die gerade aufstand, wäre fast nach hinten gekippt.

Bei jedem anderen hätte ich nicht mit der Wimper gezuckt. Aber Daniel: Etwas Kaltes rauschte über meinen ganzen Körper wie Meerwasser, verschlug mir den Atem. Es war, wie wenn man seinen Vater im Vollrausch erlebt oder seine Mutter bei einem Nervenzusammenbruch: dieses Absacken des Magens, das Zerreißen der Kabel, ehe der Lift Hunderte von Stockwerken in die Tiefe saust, unaufhaltsam, schon verloren.

»Das kann nicht dein Ernst sein«, sagte Rafe. Er war kurz vor einem neuen Lachanfall.

»Was zum Henker«, fragte Abby sehr leise, »hattest du damit vor?«

»Ehrlich«, sage Daniel und warf einen leicht verwunderten Blick auf die Waffe, »ich weiß es nicht. Ich hab ganz instinktiv danach gegriffen. Als wir draußen waren, war es natürlich viel zu dunkel und chaotisch, um irgendwas Sinnvolles damit anzustellen. Es wäre gefährlich gewesen.«

»Ach nee«, sagte Rafe.

»Hättest du das Ding benutzt?«, wollte Abby wissen. Sie starrte Daniel aus großen Augen an und hielt die Schüssel so, als wollte sie damit werfen.

»Ich weiß nicht«, sagte Daniel. »Ich glaube, ich wollte ihn wohl damit bedrohen, damit er nicht wegläuft, aber ich schätze, wozu man fähig ist, weiß man immer erst, wenn man in die entsprechende Situation gerät.«

Dieses Klicken, auf dem dunklen Feldweg.

»Oh Gott«, flüsterte Justin, ein zittriger Atemhauch. »Was für ein Wahnsinn.«

»Aber es hätte noch viel schlimmer kommen können«, stellte Rafe vergnügt klar, »ein richtiges Gemetzel, Blut und Gedärme, meine ich.« Er zog sich einen Schuh aus und schüttelte eine kleine Lawine aus Sand und Steinchen auf den Boden. Nicht mal Justin sah hin.

»Halt die Klappe«, fauchte Abby. »Halt bloß die Klappe. Das ist kein Witz mehr. Das alles läuft völlig aus dem Ruder. Daniel –«

»Alles in Ordnung, Abby«, sagte Daniel. »Ehrlich. Alles unter Kontrolle.«

Rafe sank auf dem Sofa zurück und lachte erneut auf. Es klang spitz und spröde, beinahe hysterisch. »Und du behauptest, das hier wäre kein Witz?«, fragte er Abby. »›Unter Kontrolle. ‹ Meinst du wirklich, die Formulierung passt, Daniel? Würdest du allen Ernstes sagen, wir haben die Situation unter Kontrolle?«

»Das habe ich bereits gesagt«, erwiderte Daniel. Seine Augen ruhten auf Rafe, wachsam und sehr kalt.

Abby knallte die Schüssel auf den Tisch, Popcorn spritzte. »Schwachsinn. Rafe führt sich bescheuert auf, aber er hat recht, Daniel. Wir haben das hier nicht mehr unter Kontrolle. Vorhin hätte jemand sterben können. Ihr drei rennt da raus in die Dunkelheit und jagt irgendeinem psychopathischen Brandstifter hinterher –«

»Und als wir zurückkamen«, stellte Daniel fest, »hattest du den Schürhaken in der Hand.«

»Das ist etwas völlig anderes. Der war nur zur Verteidigung gedacht, für den Fall, dass er zurückkommt. Ich hab’s nicht drauf angelegt, wie ihr. Was wäre denn gewesen, wenn er dir das Ding irgendwie hätte entreißen können? Was dann?«

Jeden Augenblick würde einer hier das Wort »Revolver« aussprechen. Und sobald Frank oder Sam spitzkriegten, dass Onkel Sams Revolver von einem kuriosen kleinen Familienerbstück zu Daniels Lieblingswaffe mutiert war, wären wir auf einer ganz neuen Ebene, einer Ebene, wo ein Sondereinsatzkommando mit kugelsicheren Westen und Sturmgewehren auf Abruf bereitstand. Bei dem Gedanken zog sich mir der Magen zusammen. »Möchte vielleicht irgendwer hören, was ich denke?«, warf ich ein und schlug auf die Armlehne meines Sessels.

Abby fuhr herum und starrte mich an, als hätte sie vergessen, dass ich auch noch da war. »Ja klar«, sagte sie nach einem Moment dumpf. »Gott.« Sie setzte sich schwer auf den Boden zwischen die Glasscherben und verschränkte die Hände im Nacken.

»Ich denke, wir sollten auf jeden Fall die Polizei anrufen«, sagte ich. »Diesmal schnappen sie den Kerl vielleicht tatsächlich. Davor hatten sie nicht einen konkreten Anhaltspunkt, aber jetzt müssen sie bloß nach einem suchen, der aussieht, als wäre er durch den Fleischwolf gedreht worden.«

»In diesem Kaff«, sagte Rafe, »grenzt das die Auswahl nicht unbedingt ein.«

»Ausgezeichnetes Argument«, sagte Daniel zu mir. »Daran hatte ich nicht gedacht. Es wäre außerdem eine gute vorbeugende Maßnahme, für den Fall, dass der Typ auf die Idee kommt, uns wegen Körperverletzung anzuzeigen – was ich zwar für unwahrscheinlich halte, aber man kann nie wissen. Also, sind wir uns einig? Es bringt nicht viel, die Detectives um diese Uhrzeit noch herkommen zu lassen, aber morgen früh rufen wir sie an, ja?«

Justin war wieder dabei, meine Hände zu säubern, aber sein Gesicht war angespannt und verschlossen. »Von mir aus, Hauptsache wir bringen die Sache hinter uns«, sagte er gepresst.

»Ich denke, du bist total irrsinnig«, sagte Rafe, »aber das denke ich ja schon eine ganze Weile. Und überhaupt, es spielt keine große Rolle, was ich denke, nicht? Du tust so oder so, was du willst.«

Daniel ging nicht auf ihn ein. »Mackey oder O’Neill?«

»Mackey«, sagte Abby, ohne vom Boden aufzuschauen.

»Interessant«, sagte Daniel und griff nach seinen Zigaretten. »Ich hätte mich instinktiv für O’Neill entschieden, zumal er anscheinend derjenige ist, der untersucht, wie unser Verhältnis zu den Leuten im Dorf ist, aber vielleicht hast du recht. Hat einer Feuer?«

»Darf ich einen Vorschlag machen?«, fragte Rafe zuckersüß. »Wenn wir mit unseren Freunden und Helfern plaudern, wäre es vielleicht ratsam, das Ding da unerwähnt zu lassen.« Er nickte Richtung Revolver.

»Selbstverständlich«, sagte Daniel geistesabwesend. Er suchte noch immer nach einem Feuerzeug. Ich sah Abbys auf dem Tisch neben mir und warf es ihm zu. »Es spielt bei der Geschichte ja sowieso keine Rolle. Also kein Grund, davon anzufangen. Ich leg’s weg.«

»Mach das«, sagte Abby tonlos zum Boden. »Und dann können wir alle so tun, als wäre es nie passiert.«

Keiner sagte etwas darauf. Justin war mit meinen Händen fertig und klebte Pflaster auf die verletzten Knöchel, die Ränder genau parallel. Rafe schwang die Beine vom Sofa, ging in die Küche und kam mit einer Handvoll nasser Papiertücher zurück. Er rieb sich damit flüchtig die Nase ab und warf die Tücher in den Kamin. Abby rührte sich nicht. Daniel rauchte nachdenklich, während das Blut auf seiner Wange trocknete, und blickte irgendwo ins Leere.

Der Wind wurde stärker, rauschte unterm Dach und kam heulend den Kamin herab, wirbelte herum und fegte durchs Wohnzimmer wie ein längst erkalteter Geisterzug. Daniel drückte seine Zigarette aus, ging die Treppe hoch – Schritte oben, ein langgezogenes schabendes Geräusch, ein Knall – und kam mit einem verschrammten, schartigen Stück Holz wieder runter, vielleicht vom Kopfteil eines Bettes. Abby hielt es für ihn fest, während er es über das zerbrochene Fenster nagelte. Die Hammerschläge hallten scharf durchs Haus und hinaus in die Nacht.