20
Als die anderen zurückkamen, hatten sie noch immer schwere Lider und Kopfschmerzen und schlechte Stimmung. Der Film war ein Reinfall gewesen, sagten sie, irgend so ein Schwachsinn mit einem von den Baldwin-Brüdern, der pausenlos vermeintlich komische Missverständnisse erlebte, und mit einer Frau, die aussah wie Teri Hatcher, es aber nicht war. Das Kino war voll mit Jugendlichen gewesen, die deutlich jünger als erlaubt waren und die ganzen zwei Stunden damit zugebracht hatten, sich gegenseitig zu simsen und knisterndes Zeug zu futtern und gegen Justins Rückenlehne zu treten. Rafe und Justin redeten sehr offensichtlich noch immer nicht wieder miteinander, und Rafe und Abby jetzt offenbar auch nicht mehr. Das Abendessen – die Reste von der Lasagne vom Vortag, oben knusprig und unten angebrannt – verlief in angespanntem Schweigen. Niemand hatte sich die Mühe gemacht, einen Salat zu machen oder den Kamin anzuzünden.
Als ich schließlich kurz davor war loszuschreien, blickte Daniel auf und sagte in aller Ruhe: »Übrigens, Lexie, ich wollte dich um einen Gefallen bitten. In meinem Montagskurs würde ich gern Anne Finch besprechen, aber ich bin in der Materie nicht mehr ganz fit. Würde es dir was ausmachen, mir nach dem Essen ein bisschen auf die Sprünge zu helfen?«
Anne Finch hat ein Gedicht aus der Perspektive eines Vogels geschrieben, sie tauchte hier und da in Lexies Dissertationsnotizen auf, und da der Tag nun mal nur vierundzwanzig Stunden hat, war das praktisch alles, was ich über sie wusste. Rafe hätte so eine Nummer aus reiner Gehässigkeit abgezogen, nur um mich zu piesacken, aber Daniel öffnete den Mund niemals ohne einen triftigen Grund. Unsere kurze seltsame Allianz im Garten war zu Ende. Er wollte demonstrieren, dass er mir schon mit kleinen Dingen das Leben äußerst schwermachen konnte, wenn ich darauf beharrte, länger zu bleiben.
Ich wollte mich auf keinen Fall zum Idioten machen, indem ich den ganzen Abend über Stimme und Identität schwafelte, während mein Zuhörer genau wusste, dass ich Blödsinn redete. Zum Glück für mich war Lexie eine unberechenbare freche Göre gewesen – obwohl es vermutlich nichts mit Glück zu tun gehabt hatte: Ich war mir ziemlich sicher, dass sie sich diesen Charakterzug für Situationen zugelegt hatte, die meiner jetzigen nicht unähnlich waren. »Hab keine Lust«, sagte ich, hielt den Kopf gesenkt und stocherte mit der Gabel in meiner Lasagne herum.
Kurzes Schweigen trat ein. »Alles in Ordnung mit dir?«, fragte Justin.
Ich zuckte die Achseln, ohne aufzublicken. »Jaja.«
Mir war gerade etwas klargeworden. Dieses Schweigen und die haarfeine neue Anspannung in Justins Stimme und die kurzen Blicke, die über den Tisch hin und her huschten: Die anderen waren so schnell und so leicht zu beunruhigen. Da hatte ich mich all die Wochen bemüht, sie lockerer zu machen, damit sie nicht immer auf der Hut waren, und war dabei nie auf den Trichter gekommen, wie schnell ich sie in die andere Richtung katapultieren konnte und wie gefährlich diese Waffe war, wenn ich sie richtig einsetzte.
»Ich hab dir auch bei Ovid geholfen«, rief Daniel mir in Erinnerung. »Weißt du nicht mehr? Ich hab eine Ewigkeit nach dem Zitat gesucht, das du brauchtest – welches war das noch mal?«
Auch darauf ging ich natürlich nicht ein. »Ich würde eh nur alles durcheinanderbringen und dir am Ende was über Mary Barber erzählen oder Gott weiß wen. Ich kann heute keinen klaren Gedanken fassen. Ich muss andauernd … « Ich schubste Lasagnestücke ziellos auf dem Teller herum. »Egal.«
Keiner aß mehr. »Du musst was andauernd?«, fragte Abby.
»Lass gut sein«, sagte Rafe. »Ich hab jedenfalls keinen Bock auf Anne Finch. Wenn es ihr genauso geht –«
»Beunruhigt dich irgendwas?«, fragte Daniel höflich.
»Lass sie in Frieden.«
»Ja klar«, sagte Daniel. »Leg dich ein bisschen hin, Lexie. Wir machen das ein andermal, wenn du dich besser fühlst.«
Ich riskierte einen raschen Blick. Er hatte wieder sein Besteck genommen und aß bedächtig, mit nichts als einem nachdenklich vertieften Ausdruck im Gesicht. Dieser Schuss war nach hinten losgegangen, und jetzt überlegte er sich seelenruhig und konzentriert den nächsten.
Ich entschied mich für einen Präventivschlag. Nach dem Essen saßen wir alle im Wohnzimmer und lasen oder taten jedenfalls so – niemand hatte irgendeine gemeinsame Aktivität wie Kartenspielen auch nur vorgeschlagen. Die Asche im Kamin vom Vorabend verbreitete eine feuchte Kühle in der Luft, ferne Teile des Hauses gaben gelegentlich ein jähes Knarren oder unheimliches Stöhnen von sich, was uns jedes Mal zusammenfahren ließ. Rafe kickte mit der Spitze eines Schuhs gegen das Schutzgitter vor dem Kamin, in einem stetigen, nervigen Rhythmus, und ich rutschte in meinem Sessel unruhig hin und her, veränderte alle paar Sekunden die Sitzposition. Justin und Abby, die zwischen uns saßen, wurden mit jeder Sekunde nervöser. Daniel, den Kopf über irgendetwas mit furchtbar vielen Fußnoten gebeugt, schien nichts zu bemerken.
Gegen elf ging ich wie immer in die Diele und zog mich für meinen Spaziergang an. Dann ging ich zurück und blieb in der Tür stehen, mit unschlüssiger Miene.
»Gehst du spazieren?«, fragte Daniel.
»Ja, sagte ich. »Beruhigt vielleicht meine Nerven. Justin, kommst du mit?«
Justin schreckte auf, starrte mich an wie ein Kaninchen im Scheinwerferlicht. »Ich? Wieso ich?«
»Wieso überhaupt jemand?«, fragte Daniel mit leichter Neugier.
Ich zuckte die Achseln, ein beklommener Ruck. »Ich weiß nicht, okay? Mein Kopf fühlt sich komisch an. Ich muss andauernd denken … « Ich drehte mir den Schal um den Finger, biss mir auf die Lippe. »Vielleicht hatte ich gestern Nacht böse Träume.«
»Alpträume«, sagte Rafe, ohne aufzusehen. »Nicht ›böse Träume‹. Du bist keine sechs mehr.«
»Was für böse Träume?«, fragte Abby. Sie hatte eine winzige besorgte Furche zwischen den Augenbrauen.
Ich schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht mehr. Nicht so richtig. Bloß … Mir ist einfach nicht danach, allein da draußen rumzulaufen.«
»Mir auch nicht«, sagte Justin. Er wirkte richtig aufgebracht. »Ich find’s furchtbar da draußen – richtig furchtbar, nicht bloß … Es ist entsetzlich. Gruselig. Kann nicht jemand anders mitgehen?«
»Oder, Lexie«, schlug Daniel hilfsbereit vor, »bleib doch zu Hause, wenn du Angst hast rauszugehen.«
»Nein, nein. Wenn ich hier noch länger rumhocke, dreh ich durch.«
»Ich komm mit«, sagte Abby. »Plausch unter Frauen.«
»Nichts für ungut«, sagte Daniel mit einem leichten, liebevollen Lächeln in Richtung Abby, »aber ich glaube, ein irrer Mörder wird sich von euch beiden nicht ganz so abschrecken lassen, wie es wünschenswert wäre. Wenn du ängstlich bist, Lexie, solltest du lieber jemanden mitnehmen, der groß und kräftig ist. Wie wär’s, wenn ich mitkomme?«
Rafe hob den Kopf. »Wenn du gehst«, sagte er zu Daniel, »dann komm ich auch mit.«
Angespannte Stille trat ein. Rafe starrte Daniel frostig an, Daniel erwiderte den Blick ungerührt. »Warum?«, fragte er.
»Weil er ein Schwachkopf ist«, sagte Abby zu ihrem Buch. »Ignorier ihn, dann verschwindet er vielleicht oder hält zumindest die Klappe. Wäre das nicht mal toll?«
»Ich will euch zwei gar nicht dabeihaben«, sagte ich. Ich hatte damit gerechnet, dass Daniel vielleicht versuchen würde mitzukommen. Allerdings hatte ich nicht einkalkuliert, dass Justin eine seltsame, rätselhafte Phobie vor Feldwegen hatte. »Ihr motzt euch sowieso nur gegenseitig an, und darauf hab ich keinen Bock. Ich will, dass Justin mitgeht. Ich krieg ihn gar nicht mehr zu Gesicht.«
Rafe schnaubte. »Du kriegst ihn den ganzen Tag zu Gesicht, jeden Tag. Wie viel Justin kann ein Mensch verkraften?«
»Das ist was anderes. Wir haben seit einer Ewigkeit nicht mehr richtig miteinander geredet.«
»Lexie, ich kann da nicht raus, mitten in der Nacht«, sagte Justin. Er sah aus, als er litte er echte Schmerzen. »Ich würde ja, ehrlich, aber ich kann einfach nicht.«
»Na denn«, sagte Daniel und legte sein Buch hin. Ein Funkeln lag in seinen Augen, fast so etwas wie ein gequälter, müder Triumph: eins zu eins. »Gehen wir?«
»Vergesst es«, sagte ich und funkelte sie alle angewidert an. »Vergesst es einfach. Egal. Bleibt ruhig hier und motzt und meckert, ich geh allein, und wenn mir wieder einer ein Messer in den Bauch rammt, seid ihr hoffentlich zufrieden.«
Kurz bevor ich die Küchentür so laut zuknallte, dass die Scheiben klirrten, hörte ich, dass Rafe anfing, etwas zu sagen, und Abby ihm leise und heftig ins Wort fiel: »Halt die Klappe.« Als ich mich hinten im Garten umdrehte, hatten alle vier wieder die Köpfe über ihre Bücher gebeugt, jeder im Lichtkegel seiner Lampe, schimmernd, umschlossen, unberührbar.
Der Nachthimmel hatte sich zugezogen, die Luft war dick und unbeweglich wie eine nasse Bettdecke, die über die Hügel geworfen worden war. Ich ging schnell, um außer Atem zu kommen, damit ich mir irgendwann vormachen konnte, dass die Anstrengung der Grund war, warum mein Herz raste. Ich dachte an die große imaginäre Uhr, die ich in den ersten Tagen irgendwo im Hintergrund gespürt und die mich angetrieben hatte. Irgendwann danach hatte sie sich in nichts aufgelöst, und ich war den süßen, langsamen Rhythmen von Whitethorn House verfallen, hatte alle Zeit der Welt gehabt. Jetzt war sie wieder da, tickte unbarmherzig und wurde jede Minute lauter, raste auf irgendeine riesige, schattenhafte Stunde null zu.
Ich rief Frank von irgendwo auf einem der Feldwege an – schon der Gedanke, auf meinen Baum zu klettern, an ein und demselben Ort zu bleiben, machte mich völlig nervös. »Da bist du ja«, sagte er. »Was ist denn los, bist du einen Marathon gelaufen?«
Ich lehnte mich gegen einen Baumstamm und versuchte, möglichst wieder normal zu atmen. »Hab ein strammes Tempo vorgelegt, gegen meinen Kater. Um wieder einen klaren Kopf zu bekommen.«
»Immer eine gute Idee«, stimmte Frank zu. »Zunächst einmal, Kleines, gut gemacht, gestern Abend. Dafür spendier ich dir’n schicken Cocktail, wenn du nach Hause kommst. Ich glaube, du hast uns vielleicht genau den Durchbruch verschafft, den wir brauchen.«
»Vielleicht. Freuen wir uns lieber nicht zu früh. Könnte sein, dass Ned mich verscheißert. Er will Lexies Anteil am Haus kaufen, sie lässt ihn abblitzen, er beschließt, es noch einmal zu probieren, dann erwähne ich den Gedächtnisverlust, und er sieht seine Chance, mir weiszumachen, wir hätten uns schon geeinigt … Er ist kein Einstein, aber er ist auch kein Idiot, zumindest, wenn’s ums Verhandeln geht.«
»Kann sein«, sagte Frank. »Kann sein. Wie bist du überhaupt mit ihm in Kontakt getreten?«
Die Antwort darauf hatte ich mir bereits zurechtgelegt. »Ich hab das Cottage im Auge behalten, jede Nacht. Ich hab mir überlegt, dass Lexie bestimmt nicht ohne Grund dahin gegangen ist – und wenn sie sich mit jemandem getroffen hat, dann wäre das der logische Treffpunkt. Und ich hab mir gedacht, es könnte doch sein, dass der- oder diejenige irgendwann wieder da auftaucht.«
»Und schon kommt der doofe Eddie anspaziert«, sagte Frank verbindlich, »kaum dass ich dir die Sache von dem Haus erzählt hab, da hattet ihr zwei ja gleich was zu bereden. Er hat ein gutes Timing. Wieso hast du mich nicht angerufen, nachdem er weg war?«
»Mir schwirrte der Kopf, Frankie. Ich konnte an nichts anderes denken, als was die Sache für unseren Fall bedeutet, wie ich es nutzen kann, was ich als Nächstes tun soll, wie ich rausfinden kann, ob Ned mich verarscht … ich wollte dich anrufen, aber dann hab ich es einfach vergessen.«
»Besser spät als gar nicht. Und, wie war dein Tag?«
Seine Stimme war freundlich, absolut neutral, verriet nichts. »Ich weiß, ich weiß, ich bin eine faule Kuh«, sagte ich bemüht kleinlaut. »Ich hätte versuchen müssen, was aus Daniel rauszukriegen, als ich mit ihm allein zu Hause war, aber ich konnte mich einfach nicht aufraffen. Ich hatte einen echten Brummschädel, und du weißt ja, Daniel ist nicht gerade seichte Unterhaltung. Tut mir leid.«
»Hmm«, sagte Frank nicht sonderlich beruhigend. »Und was sollte die Pampige-Zicke-Nummer? Ich nehm an, das war Theater.«
»Ich will sie nervös machen«, sagte ich, was auch stimmte. »Wir haben versucht, sie in Sicherheit zu wiegen, damit sie reden, und es hat nicht funktioniert. Jetzt, mit den neuen Infos, wird es Zeit, einen Gang höher zu schalten, finde ich.«
»Und du bist nicht auf die Idee gekommen, vorher mit mir darüber zu sprechen, statt einfach so zur Tat zu schreiten?«
Ich legte eine kleine verdutzte Pause ein. »Ich hab gedacht, du könntest dir schon denken, was ich vorhabe.«
»Okay«, sagte Frank, mit einer sanften Stimme, die in meinem Kopf die Sirenen losheulen ließ. »Tolle Arbeit, Cass. Ich weiß, du wolltest erst nicht mitmachen, und ich bin froh, dass du trotzdem ja gesagt hast. Du bist eine gute Polizistin.«
Ich hatte das Gefühl, als hätte ich einen Schlag in den Magen bekommen. »Was ist los, Frank?«, sagte ich, aber ich wusste es bereits.
Er lachte. »Nur die Ruhe, es ist eine gute Nachricht. Zeit, die Sache zu beenden, Kleines. Ich will, dass du nach Hause gehst und anfängst zu jammern, du hättest das Gefühl, du kriegst die Grippe – Schwindel, Fieber, Gliederschmerzen. Sag nicht, dir tut die Wunde weh, sonst wollen sie einen Blick drauf werfen. Du fühlst dich einfach beschissen. Du kannst auch einen von ihnen in der Nacht wach machen – Justin ist doch der, der sich ständig Sorgen macht, nicht? – und sagen, es wird schlimmer. Wenn sie dich morgen früh noch nicht ins Krankenhaus gefahren haben, mach ihnen Dampf. Ab jetzt übernehme ich.«
Meine Fingernägel bohrten sich mir in die Hand. »Wieso?«
»Ich dachte, du würdest dich freuen.« Frank tat erstaunt und leicht beleidigt. »Du wolltest doch erst gar nicht –«
»Ich wollte erst gar nicht mitmachen. Ich weiß. Aber jetzt mache ich mit, und ich bin ganz nah dran. Wieso zum Teufel willst du mich plötzlich abziehen? Weil ich dich nicht gefragt hab, bevor ich die vier aufgemischt hab?«
»Du liebe Zeit, nein«, sagte Frank, noch immer die Überraschung in Person. »Das hat nichts damit zu tun. Du bist da rein, um rauszufinden, in welche Richtung wir ermitteln sollen, und das hast du wunderbar gemacht. Glückwunsch, Kleines. Deine Arbeit hier ist erledigt.«
»Nein«, sagte ich, »ist sie nicht. Du hast mich reingeschickt, damit ich einen Verdächtigen finde, das waren genau deine Worte, und bislang hab ich nicht mehr als ein mögliches Motiv plus vier mögliche Verdächtige gefunden – fünf, wenn du nicht ausschließt, dass Ned vielleicht lügt wie gedruckt. Inwiefern bringt das die Ermittlungen weiter? Die vier bleiben bei ihrer Geschichte, genau wie du am Anfang gesagt hast, und du bist wieder da, wo du angefangen hast. Lass mich meine verdammte Arbeit machen.«
»Ich pass auf dich auf. Das ist meine Arbeit. Durch das, was du rausgefunden hast, könntest du in Gefahr sein, und ich kann nicht einfach ignorieren –«
»Schwachsinn, Frank. Wenn einer von den vieren sie umgebracht hat, bin ich seit dem ersten Tag in Gefahr, und das hat dich bis jetzt einen Scheiß beunruhigt –«
»Nicht so laut! Geht es darum? Bist du sauer, weil ich dich nicht genug beschütze?«
Ich konnte förmlich sehen, wie er empört mit den Händen fuchtelte, die gekränkten blauen Augen weit aufgerissen. »Jetzt mach aber mal halblang, Frank. Ich bin schon groß, ich kann auf mich selbst aufpassen, und damit hattest du noch nie ein Problem. Also, warum zum Teufel willst du mich abziehen?«
Schweigen. Schließlich seufzte Frank. »Na schön«, sagte er. »Du willst wissen, warum, na schön. Ich habe nicht mehr das Gefühl, dass du die Objektivität wahrst, die für die Ermittlungen erforderlich ist.«
»Was redest du da?« Mein Herz hämmerte. Wenn er das Haus doch überwachen ließ oder wenn er gemerkt hatte, dass ich das Mikro abgenommen hatte – Ich hätte es nicht so lange ablassen sollen, dachte ich hektisch, ich Idiot, ich hätte alle paar Minuten reingehen und irgendein Geräusch machen sollen –
»Du bist emotional viel zu betroffen. Ich bin nicht blöd, Cassie. Ich kann mir ungefähr vorstellen, was gestern Abend gewesen ist, und ich weiß, du erzählst mir längst nicht alles. Das sind Warnzeichen, und ich werde sie nicht ignorieren.«
Er war auf den Fauré reingefallen, er wusste nicht, dass ich aufgeflogen war. Mein Herzschlag verlangsamte sich wieder.
»Du verlierst aus den Augen, wo deine Grenzen sind. Vielleicht hätte ich dich nicht drängen sollen mitzumachen. Ich weiß nicht, was da im Einzelnen passiert ist, als du im Morddezernat warst, und ich frag auch nicht, aber es hat dir offensichtlich einen Knacks verpasst, und du warst offensichtlich noch nicht wieder so weit, so eine Sache zu übernehmen.«
Ich habe ein aufbrausendes Temperament, und wenn ich jetzt die Beherrschung verlor, war die Diskussion zu Ende, dann hätte ich Franks Argument bestätigt. Genau darauf spekulierte er vermutlich sogar. Stattdessen trat ich gegen den Baumstamm, so fest, dass ich einen Moment lang dachte, ich hätte mir den Zeh gebrochen. Als ich wieder sprechen konnte, sagte ich kühl: »Ich habe keinen Knacks bekommen, mir geht es gut, Frank, und ich weiß, wo meine Grenzen sind. Alles, was ich bisher gemacht habe, geschah einzig und allein zu dem Zweck, das Ziel dieser Ermittlungen zu erreichen, nämlich einen Hauptverdächtigen für den Mord an Lexie Madison zu finden. Und ich möchte die Arbeit zu Ende führen.«
»Tut mir leid, Cassie«, sagte Frank, sanft, aber ausgesprochen resolut. »Diesmal nicht.«
Über einen Aspekt bei der Undercoverarbeit spricht kein Mensch, niemals. Die Regel lautet, dass der Einsatzleiter die Bremse in der Hand hat: Er allein entscheidet, wann du es vorsichtiger angehen oder abgezogen werden musst. Schließlich ist er derjenige, der den Überblick hat, er verfügt vielleicht über Informationen, die du nicht hast, und du tust besser, was er sagt, wenn dir dein Leben oder deine Laufbahn lieb ist. Aber jetzt kommt der Teil, über den wir niemals reden, die Handgranate, die du immer bei dir hast: Er kann dich nicht zwingen. Ich hatte noch nie gehört, dass schon mal jemand diese Handgranate geworfen hat, aber jeder von uns weiß, dass sie da ist. Wenn du nein sagst, kann der Einsatzleiter – zumindest für kurze Zeit, und mehr brauchst du vielleicht nicht – nicht das Geringste dagegen tun.
Ein solcher Vertrauensbruch lässt sich nicht mehr kitten. In diesem Moment hatte ich die Flughafen-Kürzel in Lexies Terminkalender vor Augen, das harte, wilde Gekritzel.
»Ich bleibe«, sagte ich. Ein jäher Windstoß fuhr durch die Bäume, und ich spürte den Stamm zittern, ein tiefes Beben, das mir bis in die Knochen fuhr.
»Nein«, sagte Frank, »kommt nicht in Frage. Mach mir hier keine Schwierigkeiten, Cassie. Die Entscheidung steht, es ist überflüssig, darüber zu streiten. Geh nach Hause, pack deine Sachen und mach einen auf krank. Wir sehen uns morgen.«
»Du hast mich hierhergeschickt, um einen Job zu erledigen«, sagte ich. »Ich gehe nicht eher, bis ich ihn erledigt habe. Ich streite nicht mir dir darüber, Frank. Ich sag’s dir bloß.«
Diesmal begriff Frank. Seine Stimme wurde nicht schärfer, doch sie nahm einen Unterton an, bei dem sich meine Schultern hoben. »Soll ich dich auf der Straße festnehmen lassen, Drogen bei dir finden lassen und dich in den Knast stecken, bis du Vernunft angenommen hast? Denn das mach ich.«
»Nein, machst du nicht. Die anderen wissen, dass Lexie keine Drogen nimmt, und wenn sie wegen eines fingierten Verdachts festgenommen wird und dann in Polizeigewahrsam stirbt, werden die anderen so einen Aufstand machen, dass die ganze Ermittlung in Flammen aufgeht und du noch Jahre damit beschäftigt bist, die Trümmer wegzuräumen.«
Schweigen, während Frank die Situation abschätzte. »Das könnte das Ende deiner Karriere bedeuten, das ist dir doch klar, oder?«, sagte er endlich. »Du missachtest eine direkte Anweisung eines Vorgesetzten. Du weißt, ich könnte dich abholen lassen, dir Ausweis und Waffe abnehmen und dich auf der Stelle feuern.«
»Ja«, sagte ich. »Ich weiß.« Aber das würde er nicht tun, nicht Frank, und ich wusste, dass ich das ausnutzte. Ich wusste noch etwas, ich bin mir nicht sicher, wieso, vielleicht weil seine Stimme nicht zutiefst schockiert klang. Irgendwann in seiner Laufbahn hatte er selbst das Gleiche getan.
»Und du weißt, dass ich deinetwegen mein Wochenende mit Holly verpasse. Sie hat morgen Geburtstag. Willst du ihr erklären, warum ihr Daddy nun doch keine Zeit hat?«
Ich verzog das Gesicht, aber ich rief mir in Erinnerung, dass ich es mit Frank zu tun hatte, bis zu Hollys Geburtstag waren es wahrscheinlich noch Monate. »Dann fahr hin. Lass die Mikroaufnahmen von jemand anderem überwachen.«
»Keine Chance. Selbst wenn ich wollte, ich hab sonst niemanden. Wir haben das Budget für die Überwachung ausgeschöpft. Denen da oben ist es zu teuer, Beamte dafür abzustellen, dass sie rumsitzen und dir beim Weintrinken und Tapetenabreißen zuhören.«
»Kann ich ihnen nicht verdenken«, sagte ich. »Was du mit den Aufnahmen machst, ist deine Entscheidung; dann hört eben zwischendurch mal keiner mit. Du machst deine Arbeit, ich mache meine.«
»Okay«, sagte Frank mit einem schwer geprüften Seufzer. »Okay. Wir machen Folgendes. Du hast achtundvierzig Stunden, von jetzt an gerechnet, um die Sache abzuschließen –«
»Zweiundsiebzig.«
»Zweiundsiebzig, unter drei Bedingungen: Du machst keine Dummheiten, du meldest dich regelmäßig, und du trägst die ganze Zeit das Mikro. Ich will dein Wort.«
Ich spürte ein Prickeln in mir. Vielleicht wusste er doch Bescheid, bei Frank kann man nie wissen. »Alles klar«, sagte ich. »Versprochen.«
»In drei Tagen, von jetzt an gerechnet, bist du da raus, auch wenn du ganz knapp von der Lösung des Falles entfernt bist. Das heißt also« – Uhrenvergleich –, »um fünfzehn Minuten vor Mitternacht am Montag hast du das Haus verlassen und bist in der Notaufnahme eines Krankenhauses oder zumindest auf dem Weg dorthin. Bis dahin kleb ich weiter an der Tonüberwachung. Wenn du dich an die Bedingungen hältst und wie vereinbart den Rückzug angetreten hast, lösche ich das Band, und niemand wird je was von unserer kleinen Unterhaltung erfahren. Wenn du mir noch einmal irgendwelche Sperenzchen machst, verfrachte ich deinen Hintern eigenhändig hierher, egal wie und egal, was es für Folgen hat, und ich schmeiß dich raus. Ist das klar?«
»Ja«, sagte ich. »Absolut klar. Ich will keine Spielchen mit dir treiben. Darum geht’s wirklich nicht.«
»Cassie«, sagte Frank, »das war eine richtig, richtig schlechte Idee. Hoffentlich weißt du das.«
Ein Piepsen ertönte, und dann nichts mehr, bloß statisches Wellenrauschen. Meine Hände zitterten so stark, dass ich das Telefon zweimal fallen ließ, ehe ich es schaffte, es einzustecken.
Das Absurde an der Sache: Er war so unglaublich dicht an der Wahrheit dran. Noch vierundzwanzig Stunden zuvor hatte ich den Fall nicht bearbeitet, ich hatte mich von ihm steuern lassen, war kopfüber hineingesprungen und tiefer und tiefer getaucht. Unzählige Worte und Blicke und Gegenstände waren in diesem Fall verstreut worden wie Brotkrumen, und ich hatte sie übersehen und keine Verbindungen hergestellt, weil ich Lexie Madison sein wollte – oder zumindest hatte ich das geglaubt –, und zwar so sehr viel mehr, als ich den Mord an ihr aufklären wollte. Was Frank nicht wusste und was ich ihm nicht erzählen konnte war, dass ausgerechnet Ned, ohne es auch nur zu ahnen, mich wieder zur Besinnung gebracht hatte. Ich wollte diesen Fall abschließen, und ich war bereit – und so etwas sage ich nicht leichtfertig –, alles dafür zu tun.
Wahrscheinlich könnte man sagen, dass mein Kampfgeist wieder zum Leben erwachte, weil ich mich hatte einwickeln lassen, beinahe verhängnisvoll, und weil das jetzt meine letzte Chance war, es wiedergutzumachen, oder weil ich meine Karriere nur retten konnte – Ich mache das, weil es mein Job ist, hatte ich zu Daniel gesagt, ehe ich wusste, dass mir die Worte über die Lippen kommen würden –, wenn ich diesen Fall aufklärte, oder weil unser gescheiterter Knocknaree-Fall die Luft um mich herum vergiftet hatte und ich ein Gegengift brauchte. Vielleicht ein wenig von allem. Aber vor einer Sache konnte ich nicht die Augen verschließen: Egal, was diese Frau gewesen war oder getan hatte, wir waren seit unserer Geburt miteinander verwoben. Wir hatten uns gegenseitig in dieses Leben geführt, an diesen Ort. Ich wusste Dinge über sie, die sonst niemand auf der Welt wusste. Ich konnte sie jetzt nicht verlassen. Niemand sonst konnte durch ihre Augen sehen und ihre Gedanken lesen, die silbrigen Runenzeichnungen aufspüren, die sie hinterlassen hatte, die einzige Geschichte erzählen, die sie je beendet hatte.
Ich wusste lediglich, dass ich das Ende der Geschichte brauchte, dass ich diejenige sein musste, die sie zu Ende erzählte, und dass ich Angst hatte. Ich bin kein furchtsamer Mensch, aber genau wie Daniel habe ich immer gewusst, dass es einen Preis zu zahlen gilt. Und was Daniel nicht wusste oder nicht erwähnt hatte war, dass der Preis etwas ist, was seine Form unaufhörlich und rasend schnell verändert, und nicht immer kannst du entscheiden, nicht immer darfst du im Voraus wissen, was der Preis sein wird.
Das andere, was mir immer wieder durch den Kopf schoss, so vehement, dass mir jedes Mal fast schwindelig wurde, war die Erkenntnis, dass sie vielleicht genau deshalb nach mir gesucht hatte, dass sie es sich vielleicht genauso gewünscht hatte. Jemanden, der die Plätze mit ihr tauscht. Jemanden, der sich nach der Gelegenheit sehnt, sein eigenes kaputtes Leben wegzuwerfen, es verdunsten zu lassen wie Morgennebel über einer Wiese, jemanden, der sich mit Freude auflösen würde in einen Glockenblumenduft und einen grünen Trieb, während diese Frau wieder erstarkte und aufblühte und wieder feste Form annahm und lebte.
Ich denke, erst in diesem Augenblick glaubte ich, dass sie tot war, diese junge Frau, die ich nie lebendig gesehen hatte. Ich werde nie frei von ihr sein. Ich trage ihr Gesicht, es bleibt ihr sich verändernder Spiegel mit jedem Jahr, das ich älter werde, der Blick auf all die Altersstufen, die sie nie erreicht hat. Ich lebte ihr Leben, ein paar seltsame, strahlende Wochen lang. Ihr Blut ist in das eingegangen, was ich bin, genauso wie es in die Glockenblumen und den Weißdornbusch eingegangen ist. Doch als ich die Chance hatte, den letzten Schritt über die Grenze zu gehen, mich mit Daniel in den Efeu und den Klang des Wassers zu betten, mein Leben loszulassen mit all seinen Narben und all seinen Trümmern und neu anzufangen, lehnte ich sie ab.
Die Luft war so still. Jeden Augenblick würde ich zurückgehen müssen und alles tun, um Whitethorn House zu zerstören.
Wie aus dem Nichts verspürte ich ein solches Verlangen, mit Sam zu reden, dass es sich anfühlte wie ein Schlag in den Magen, als gäbe es für mich nichts Dringenderes auf der Welt, als ihm zu sagen, ehe es zu spät war, dass ich nach Hause kommen würde, dass ich in gewisser Weise, in entscheidender Weise, bereits zu Hause war, dass ich Angst hatte, panische Angst, wie ein Kind im Dunkeln, und dass ich seine Stimme hören musste.
Sein Handy war ausgestellt. Ich erreichte nur die Mailbox-Frau, die mich neckisch aufforderte, eine Nachricht zu hinterlassen. Sam arbeitete, war vielleicht gerade an der Reihe, Naylors Haus zu überwachen, ging zum x-ten Mal Zeugenaussagen durch, für den Fall, dass er irgendetwas übersehen hatte. Wäre ich nah am Wasser gebaut, hätte ich losgeheult.
Ehe ich richtig begriff, was ich tat, aktivierte ich die Nummernunterdrückung meines Handys und rief Rob an. Ich presste die freie Hand flach aufs Mikro und spürte, wie mein Herz langsam und hart unter der Handfläche schlug. Ich wusste, das war möglicherweise das Dümmste, was ich je im Leben getan hatte, aber ich wusste nicht, wie ich es nicht tun sollte.
»Ryan«, sagte er nach dem zweiten Klingeln, hellwach. Rob hatte schon immer Schlafstörungen. Als ich nicht antworten konnte, sagte er mit einer plötzlichen Unruhe: »Hallo?«
Ich legte auf. In der Sekunde, ehe mein Daumen den Knopf drückte, meinte ich zu hören, dass er schnell und beschwörend »Cassie« sagte, aber es war zu spät, den Daumen zu stoppen, selbst wenn ich gewollt hätte. Ich rutschte an dem Baumstamm herunter und blieb lange Zeit sitzen, die Arme fest um mich geschlungen.
Da war diese eine Nacht gewesen, während unseres letzten Falles. Um drei Uhr morgens war ich auf meine Vespa gestiegen und raus zum Tatort gefahren, um Rob abzuholen. Auf der Fahrt zurück gehörten die Straßen uns zu so später Stunde ganz allein, und ich fuhr schnell. Rob legte sich mit mir zusammen in die Kurven, und der Roller schien das zusätzliche Gewicht kaum zu spüren. Zwei aufgeblendete Scheinwerfer kamen um eine Biegung auf uns zu, das helle Licht wurde größer, bis es die Straße ausfüllte: ein Lkw, halb auf der Mittellinie, steuerte direkt auf uns zu, aber der Roller wich mit einem Schwenk leicht wie ein Grashalm aus, und der Lkw brauste mit einem rauschenden Windzug und grellem Licht an uns vorbei. Robs Hände auf meiner Taille zitterten hin und wieder, ein kurzes, heftiges Beben, und ich dachte an zu Hause und Wärme und ob ich etwas im Kühlschrank hatte.
Keiner von uns beiden wusste es, aber wir fuhren durch die letzten paar Stunden, die wir hatten. Ich stützte mich locker und gedankenlos auf diese Freundschaft, als wäre sie eine zwei Meter dicke Mauer, doch nicht einmal einen Tag später fing sie an, zu zerbröckeln und einzubrechen, und ich hätte sie durch nichts auf der Welt noch zusammenhalten können. In den Nächten danach wachte ich oft auf, den Kopf voll mit diesen Scheinwerfern, heller und tiefer als die Sonne. Auf dem dunklen Feldweg sah ich sie erneut, hinter den Augenlidern, und da begriff ich, dass ich einfach hätte weiterfahren können. Ich hätte wie Lexie sein können. Ich hätte Vollgas geben können, bis wir von der Straße abgehoben hätten, hinein in die gewaltige Stille im Herzen der Lichter und hinaus auf die andere Seite, wo uns nichts je berühren konnte.