17
Rafe tauchte am nächsten Vormittag in der Bibliothek auf, so gegen elf. Sein Mantel war falsch zugeknöpft, und sein Rucksack baumelte achtlos an einer Hand. Er stank nach Zigarrenrauch und schalem Guinness, und er war noch immer ziemlich unsicher auf den Beinen. »Na hallo«, sagte er, schwankte ein bisschen und starrte uns vier an. »Einen wunderschönen guten Morgen.«
»Wo bist du gewesen?«, zischte Daniel. In seiner Stimme schwang angespannter Zorn mit, mühsam unterdrückt. Er war viel besorgter um Rafe gewesen, als er sich hatte anmerken lassen.
»Hier und da«, erklärte Rafe. »Unterwegs. Wie geht’s denn so?«
»Wir dachten, dir ist was passiert.« Justins Flüstern schlug um in etwas zu Lautes und zu Schneidendes. »Wieso hast du nicht angerufen? Oder wenigstens eine SMS geschickt?«
Rafe wandte sich um und sah ihn an. »Ich war anderweitig beschäftigt«, sagte er nach kurzer Überlegung. »Und ich hatte keinen Bock drauf.« Einer von der Gorillatruppe, diese älteren Studenten, die sich unweigerlich selbst zur Bürgerwehr gegen Bibliotheksstörer erklären, spähte über seinen Stapel Philosophiebücher und machte »Schsch!«.
»Dein Timing ist beschissen«, sagte Abby kalt. »Das war ein schlechter Augenblick, um abzuhauen und Frauen anzubaggern, und das hättest selbst du dir denken können.«
Rafe wippte auf den Fußballen nach hinten und warf ihr einen bitterbösen Blick zu. »Leck mich«, sagte er laut und herablassend. »Ich entscheide, was ich tue und wann ich es tue.«
»Hör auf, so mit ihr zu reden«, sagte auch Daniel jetzt ungeniert laut. Die gesamte Gorillatruppe machte gleichzeitig »Schsch!«.
Ich zupfte Rafe am Ärmel. »Setz dich und sprich mit mir.«
»Lexie«, sagte Rafe und schaffte es, mich anzusehen. Seine Augen waren blutunterlaufen, und seine Haare hatten dringend eine Wäsche nötig. »Ich hätte dich nicht allein lassen sollen, was?«
»Mir geht’s gut«, sagte ich. »Bin rundum zufrieden. Setz dich doch und erzähl, wie deine Nacht gelaufen ist.«
Er streckte eine Hand aus. Seine Finger glitten über meine Wange zum Hals, strichen über den Ausschnitt meines Oberteils. Ich sah, wie sich hinter ihm Abbys Augen weiteten, hörte ein hastiges Rascheln von Justins Arbeitsplatz. »Gott, du bist so süß«, sagte Rafe. »Du bist gar nicht so zerbrechlich, wie du aussiehst, oder? Manchmal denke ich, bei uns anderen ist es umgekehrt.«
Einer von der Gorillatruppe hatte Attila alarmiert, den aggressivsten Wachmann im bekannten Universum. Er hat seine Berufswahl offensichtlich in der Hoffnung getroffen, gefährlichen Gangstern den Schädel einschlagen zu können, aber da selbige in Universitätsbibliotheken relativ rar gesät sind, begnügt er sich damit, verirrte Erstsemester zum Weinen zu bringen. »Belästigt Sie der Kerl?«, fragte er mich. Er versuchte, sich bedrohlich vor Rafe aufzubauen, was ihm aber aufgrund des Größenunterschiedes schwerfiel.
Sofort war die Wand da. Daniel und Abby und Justin nahmen schlagartig eine lässig entspannte Haltung ein, sogar Rafe stellte sich aufrechter hin, riss seine Hand weg und schaffte es von jetzt auf gleich, mühelos nüchtern zu wirken. »Alles bestens«, sagte Abby.
»Sie hab ich nicht gefragt«, entgegnete Attila. »Kennen Sie den Kerl?«
Er sprach mit mir. Ich setzte ein engelhaftes Lächeln auf und sagte: »Und wie, Officer, das ist mein Mann. Ich hatte eine einstweilige Verfügung gegen ihn erwirkt, aber ich hab’s mir anders überlegt, und wir wollten gerade für einen Quickie auf die Damentoilette.« Rafe kicherte.
»Männer dürfen nicht aufs Damenklo«, sagte Attila drohend. »Und was Sie hier machen, ist Ruhestörung.«
»Schon gut«, sagte Daniel. Er stand auf und umfasste Rafes Oberarm – der Griff wirkte beiläufig, aber ich sah, dass die Finger fest zupackten. »Wir gehen schon. Wir alle.«
»Loslassen«, fauchte Rafe und versuchte, Daniels Hand abzuschütteln. Daniel bugsierte ihn eilig an Attila vorbei und zwischen den langen Regalreihen hindurch, ohne sich umzusehen, ob wir anderen auch wirklich folgten.
Wir sammelten unsere Sachen ein, hasteten begleitet von Attilas finsteren Drohungen davon und fanden Daniel und Rafe im Foyer. Daniel ließ die Autoschlüssel an einem Finger baumeln, Rafe lehnte schief an einer Säule und schmollte.
»Gut gemacht«, sagte Abby zu Rafe. »Ehrlich. Das war super.«
»Lass mich in Ruhe.«
»Aber was machen wir denn jetzt?«, wollte Justin von Daniel wissen. Er schleppte Daniels Sachen und seine eigenen, und er sah besorgt und überlastet aus. »Wir können doch nicht einfach gehen.«
»Warum nicht?«
Ein kurzes verblüfftes Schweigen trat ein. Unser Tagesablauf war uns völlig in Fleisch und Blut übergegangen, und ich glaube, keiner von uns hatte daran gedacht, dass er ja kein Naturgesetz war, dass wir ihn auch durchbrechen konnten, wenn wir wollten. »Und was machen wir stattdessen?«, fragte ich.
Daniel warf seine Autoschlüssel in die Luft und fing sie wieder auf. »Wir fahren nach Hause und streichen das Wohnzimmer«, sagte er. »Wir haben schon viel zu viel Zeit in dieser Bibliothek verbracht. Ein bisschen Werkeln am Haus wird uns allen guttun.«
Für jeden Außenstehenden hätte das ziemlich merkwürdig geklungen – ich konnte Frank förmlich hören: Donnerlittchen, die vier leben ja echt wild und gefährlich. Kannst du da auf der Überholspur überhaupt noch mithalten? Aber alle nickten, nach einem Moment sogar Rafe. Ich hatte bereits erkannt, dass das Haus ihr sicherer Hafen war: Immer wenn sich Anspannung bemerkbar machte, lenkte einer von ihnen das Gespräch auf irgendetwas, das repariert oder umgeräumt werden musste, und prompt beruhigten sich alle wieder. Wir würden ernsthaft Probleme kriegen, wenn das Haus irgendwann ganz fertig war und wir Spachtelmasse und Holzbeize nicht mehr als Friedensstifter einsetzen konnten.
Und es klappte. Alte Laken über Möbel gebreitet und kalte, helle Luft, die durch offene Fenster strömte, verdreckte Klamotten und harte Arbeit und der Geruch nach Farbe, Ragtime als Hintergrundmusik, die klammheimliche Freude, die Uni zu schwänzen, und das Haus, das sich wie eine zufriedene Katze unter all der Aufmerksamkeit rekelte: Genau das hatten wir gebraucht. Als wir mit dem Raum fertig waren, sah Rafe eher kleinlaut als streitlustig aus, Abby und Justin waren entspannt genug, um eine lange friedliche Diskussion darüber zu führen, ob Scott Joplin grottenschlecht war, und unser aller Stimmung hatte sich erheblich aufgehellt.
»Ich darf zuerst unter die Dusche«, sagte ich.
»Lass Rafe den Vortritt«, sagte Abby. »Immer der, der’s am nötigsten hat.« Rafe streckte ihr die Zunge raus. Wir lagen ausgestreckt auf den Abdecklaken, bewunderten unsere Arbeit und versuchten, die Energie aufzubringen, uns von der Stelle zu bewegen.
»Wenn alles getrocknet ist«, sagte Daniel, »müssen wir entscheiden, ob wir was an die Wände hängen, und wenn ja, was.«
»Ich hab oben in einem der Gästezimmer so richtig alte Blechschilder gesehen«, sagte Abby.
»Ich wohne nicht in einem Achtziger-Pub«, sagte Rafe. Er war inzwischen nüchtern, oder aber wir anderen waren von den Farbdämpfen so high, dass wir das glaubten. »Gibt’s keine Gemälde oder irgendwas Normales?«
»Die noch da sind, sind alle scheußlich«, sagte Daniel. Er lehnte mit dem Rücken an der Sofakante, weiße Farbspritzer im Haar und auf seinem alten karierten Hemd, und sah so glücklich und entspannt aus, wie ich ihn seit Tagen nicht mehr erlebt hatte. »›Landschaft mit röhrendem Hirsch‹ und so, und noch nicht mal besonders gut gemacht. Irgendeine Urgroßtante mit künstlerischen Ambitionen, glaub ich.«
»Du hast kein Herz«, sagte Abby zu ihm. »Dinge mit sentimentalem Wert dürfen nicht auch noch einen künstlerischen Wert haben. Sie müssen schauerlich sein. Ansonsten ist es reine Angeberei.«
»Wir könnten die alten Zeitungen nehmen«, sagte ich. Ich lag flach auf dem Rücken mitten im Raum und reckte die Beine in die Luft, um die frischen Farbspritzer auf Lexies Blaumann zu inspizieren. »Die ganz alten, mit dem Artikel über die Dionne-Fünflinge und mit der Anzeige für das Zeug, von dem man zunimmt. Wir könnten sie auf die Wände verteilen und dann versiegeln, wie die Fotos an Justins Tür.«
»Die sind in meinem Schlafzimmer«, sagte Justin. »Ein Wohnzimmer sollte Eleganz haben. Würde. Keine Anzeigen.«
»Wisst ihr was?«, sagte Rafe aus heiterem Himmel und stützte sich auf einen Ellbogen. »Ich muss mich bei euch entschuldigen. Ich hätte nicht einfach so verschwinden sollen, ohne euch Bescheid zu sagen. Meine einzige Entschuldigung, und das ist keine besonders gute, ist die, dass ich stinksauer war, weil dieser Kerl ungestraft davonkommt. Es tut mir leid.«
Er zeigte sich von seiner charmantesten Seite, und Rafe konnte richtig charmant sein, wenn er wollte. Daniel nickte ihm kurz und ernst zu. »Du bist ein Idiot«, sagte er, »aber wir lieben dich trotzdem.«
»Du bist ganz in Ordnung«, sagte Abby, während sie sich nach ihren Zigaretten auf dem Kartentisch reckte. »Ich find’s auch nicht besonders toll, dass der Kerl wieder frei rumläuft.«
»Wisst ihr, was ich mich frage?«, sagte Rafe. »Ich frage mich, ob Ned ihn angeheuert hat, um uns zu verjagen.«
Einen Moment lang herrschte absolute Stille, Abbys Hand verharrte mit der Zigarette halb aus der Packung, Justin, der sich gerade aufsetzen wollte, erstarrte mitten in der Bewegung.
Daniel schnaubte. »Ich bezweifle ernsthaft, dass Ned die Intelligenz für etwas so Komplexes besitzt«, sagte er spitzzüngig.
Ich hatte schon den Mund geöffnet, um zu fragen: Wer ist Ned?, ihn aber schnell wieder geschlossen. Nicht bloß, weil ich das natürlich hätte wissen müssen, sondern weil ich es wusste. Ich hätte mich in den Hintern beißen können, dass ich nicht schon früher darauf gekommen war. Frank erfindet immer irgendwelche Spitznamen für Leute, die er nicht leiden kann – Danny-Boy, unser Sammy –, und ich Vollidiotin war gar nicht auf die Idee gekommen, dass er falsch getippt haben könnte. Sie sprachen über den doofen Eddie. Der doofe Eddie, der nachts über die Feldwege gestreift war und nach jemandem gesucht hatte, Eddie, der behauptet hatte, Lexie nie begegnet zu sein, war N. Ich war sicher, dass Frank mein Herzklopfen über das Mikro hören konnte.
»Wahrscheinlich nicht«, sagte Rafe, stützte sich auf beide Ellbogen und betrachtete die Wände. »Wenn wir hier alles fertig haben, sollten wir ihn zum Essen einladen.«
»Nur über meine Leiche«, sagte Abby. Ihre Stimme klang gepresst. »Du musstest dich nicht mit ihm rumschlagen. Wir schon.«
»Und über meine«, sagte Justin. »Der Mann ist ein Banause. Den ganzen Abend hat er Heineken getrunken, klar, und dann hat er immer wieder gerülpst und fand das natürlich zum Schreien komisch, jedes Mal. Und dann das ganze Gelaber über Einbauküchen und Steuerersparnisse und Förderungsmaßnahmen. Einmal hat gereicht, vielen herzlichen Dank.«
»Ihr seid gefühllos«, erklärte Rafe. »Ned liebt dieses Haus. Das hat er doch auch dem Richter erzählt. Ich finde, wir sollten ihm die Gelegenheit geben, sich mit eigenen Augen davon zu überzeugen, dass der alte Familiensitz in guten Händen ist. Gib mal die Zigaretten rüber.«
»Das Einzige, was Ned liebt«, sagte Daniel sehr schneidend, »ist die Vorstellung von sechs mit allem Zipp und Zapp ausgestatteten ›Luxuswohnungen in weitläufiger Umlage mit dem Potential zur weiteren Erschließung‹. Und die Chance, das je zu realisieren, kriegt er nur über meine Leiche.«
Justin machte eine jähe, ruckartige Bewegung, die er überspielte, indem er nach dem Aschenbecher griff und ihn zu Abby rüberschob. Eine aufgeladene, angespannte Stille trat ein. Abby zündete ihre Zigarette an, löschte das Streichholz und warf Rafe die Packung zu, der sie mit einer Hand auffing. Keiner sah den anderen an. Eine Hummel kam durchs Fenster hereingebrummt, schwebte kurz in einem Sonnenstreifen über dem Klavier und taumelte schließlich wieder nach draußen.
Ich wollte etwas sagen – es war schließlich mein Part, Momente wie diesen zu entschärfen –, aber ich wusste, dass wir in irgendeinen heimtückischen und komplizierten Sumpf geraten waren, wo ein Fehltritt mich in große Schwierigkeiten bringen könnte. Ned hörte sich mehr und mehr nach einem echten Kotzbrocken an, doch das, was ich jetzt und hier spürte, war sehr viel weitreichender und dunkler.
Abby beobachtete mich mit kühlen, forschenden Augen über ihre Zigarette hinweg. Ich warf ihr einen gequälten Blick zu, was mir nicht schwerfiel. Nach einem Moment griff sie nach dem Aschenbecher und sagte: »Wenn wir nichts Passendes für die Wände haben, könnten wir doch was anderes ausprobieren. Rafe, wenn wir Fotos von alten Wandgemälden fänden, meinst du, so was würdest du hinkriegen?«
Rafe zuckte die Achseln. Ein erster Anflug des streitlustigen Schiebt-mir-nicht-die-Schuld-in-die-Schuhe-Blicks schlich sich wieder in sein Gesicht. Die dunkle Gewitterwolke hatte sich wieder über den Raum gesenkt.
Schweigen kam mir gerade recht. Meine Gedanken überschlugen sich – nicht bloß weil Lexie sich aus irgendeinem Grund mit dem Erzfeind eingelassen hatte, sondern auch weil das Thema Ned ganz offensichtlich tabu war. In den letzten drei Wochen war sein Name kein einziges Mal gefallen, bei seiner ersten Erwähnung drehten alle durch, und ich konnte mir einfach nicht erklären, wieso. Schließlich hatte er doch verloren. Das Haus gehörte Daniel, sowohl Onkel Simon als auch ein Richter hatten das verfügt, also hätte Ned höchstens ein Lachen und ein paar hämische Kommentare auslösen sollen. Ich hätte ein mittelgroßes Organ hergegeben, um dahinterzukommen, was zum Henker hier los war, aber ich würde den Teufel tun, danach zu fragen.
Wie sich herausstellte, musste ich das auch nicht. Franks Gedanken – und eigentlich fand ich diese Vorstellung irritierend – hatten sich parallel zu meinen bewegt, parallel und schnell.
Ich brach so früh wie möglich zu meinem Spaziergang auf. Die Wolke hatte sich nicht aufgelöst. Wenn überhaupt, war sie dicker geworden, schob sich von Wänden und Decken immer näher heran. Das Abendessen war eine Qual gewesen. Justin und Abby und ich hatten unser Bestes getan, ein Gespräch in Gang zu halten, aber Rafe war in einer vorwurfsvoll düsteren Stimmung versunken, die man förmlich sehen konnte, und Daniel hatte sich in sich selbst zurückgezogen und gab nur einsilbige Antworten. Ich musste raus aus dem Haus und nachdenken.
Lexie hatte sich mindestens dreimal mit Ned getroffen, und sie hatte dafür viel Mühe auf sich genommen. Die vier klassischen Motive: Lust, Habgier, Hass und Liebe. Die Möglichkeit, dass es Lust gewesen sein könnte, löste bei mir einen Würgereflex aus. Je mehr ich über Ned erfuhr, desto mehr wollte ich glauben, dass Lexie ihn nicht mal mit der Kneifzange angefasst hätte. Aber Habgier … Sie hatte Geld gebraucht, schnell, und ein reicher Typ wie Ned wäre ein wesentlich zahlungskräftigerer Käufer gewesen als John Naylor mit seinem mickrigen Landarbeiterlohn. Falls sie sich mit Ned getroffen hatte, um zu besprechen, welche Sachen er aus Whitethorn House haben wollte, wie viel er bereit war zu zahlen, und dann war irgendwas schiefgelaufen …
Es war eine sehr seltsame Nacht: riesig und dunkel und stürmisch, Windböen, die über die Felder tosten, eine Million hoher Sterne und kein Mond. Ich schob den Revolver zurück in den Hüfthalter, kletterte auf meinen Baum und hockte eine ganze Weile da oben, beobachtete das schattenhafte dunkle Wogen der Büsche unter mir, lauschte angestrengt auf irgendwelche schwachen Laute, die nicht hierhergehörten. Dachte daran, Sam anzurufen.
Letzten Endes rief ich Frank an. »Naylor ist noch nicht wieder aufgetaucht«, sagte er grußlos. »Passt du auch gut auf?«
»Ja«, sagte ich. »Keine Spur von ihm.«
»Gut, gut.« Seine Stimme hatte einen abgelenkten Beiklang, der mir verriet, dass auch er an etwas anderes dachte als an Naylor. »Schön. In der Zwischenzeit hab ich was, das dich interessieren könnte. Deine neuen Busenfreunde haben doch heute Nachmittag so nett über Vetter Eddie und seine Luxuswohnungen hergezogen.«
Ein Ruck fuhr durch meinen Körper, weckte alle Muskeln, bis mir wieder einfiel, dass Frank ja nichts von N wusste. »Allerdings«, sagte ich. »Vetter Eddie scheint das reinste Juwel zu sein.«
»Allerdings. Ein lupenreiner, hirntoter Yuppie-Arsch, der in seinem Leben noch keinen Gedanken gefasst hat, der nicht entweder mit seinem Schwanz oder seiner Brieftasche zu tun hat.«
»Meinst du, Rafe liegt richtig damit, dass er Naylor angeheuert hat?«
»Niemals. Eddie verkehrt nicht mit dem gemeinen Volk. Du hättest sein Gesicht sehen sollen, als er meinen Dubliner Einschlag gehört hat. Ich glaube, er hatte Angst, ich würde ihn ausrauben. Aber heute Nachmittag ist mir was eingefallen. Weißt du noch, dass du gesagt hast, die Fantastischen Vier wären irgendwie komisch, was das Haus angeht? So stark daran gebunden?«
»Ach so«, sagte ich, »ja.« Ehrlich gesagt, ich hatte es beinahe vergessen. »Ich glaub, da hab ich übertrieben. Wenn man so viel Arbeit in ein Haus steckt, dann wird es einem immer wichtiger. Und es ist ein schönes Haus.«
»Oh ja, das ist es«, sagte Frank. In seinem Tonfall lag etwas, das meine Alarmglocken sacht in Bewegung setzte, ein breites, süffisantes Grinsen. »Kann man wohl sagen. Ich hab mich heute gelangweilt – Naylor ist noch immer untergetaucht, und ich komm bei Lexie-May-Ruth-Großfürstin-Anastasia-Dingsbums einfach nicht weiter. Bis jetzt hab ich in vierzehn Ländern Nieten gezogen, und allmählich halte ich es für möglich, dass sie 1997 von verrückten Wissenschaftlern im Labor gezüchtet worden ist. Also hab ich, nur um meiner guten alten Cassie zu beweisen, dass ich ihren Instinkten traue, einen Kumpel von mir angerufen, der im Grundbuchamt arbeitet, und hab ihn um Informationen zu Whitethorn House gebeten. Wer hat dich lieb, Kleines?«
»Du«, sagte ich. Frank hatte schon immer ein imposantes Spektrum von Freunden an den unwahrscheinlichsten Stellen: mein Kumpel unten an den Docks, mein Kumpel im Stadtrat, mein Kumpel mit dem SM-Laden. Damals, als wir diese ganze Lexie-Madison-Geschichte aus der Taufe gehoben hatten, sorgte Mein Kumpel vom Standesamt dafür, dass ich offiziell eingetragen wurde, nur für den Fall, dass irgendwer misstrauisch geworden wäre und angefangen hätte herumzuschnüffeln. Derweil half mir Mein Kumpel mit dem Lieferwagen, in Lexies Studentenbude einzuziehen. Ich will gar nicht wissen, was für ein kompliziertes Eine-Hand-wäscht-die-andere-System dahintersteckt. »Das solltest du auch, nach alldem hier. Und?«
»Und du hast auch gesagt, alle tun so, als würde ihnen das Haus gehören, weißt du noch?«
»Ja. Kann sein.«
»Dein Instinkt hat den Hauptgewinn gezogen, Kleines. Es ist tatsächlich ihr Haus. Und deins übrigens auch.«
»Drück dich endlich klar aus, Frank«, sagte ich. Mein Herz pochte laut und langsam, und ein seltsamer dunkler Schauer lief durch die Hecken: Irgendetwas bahnte sich an. »Worum geht’s?«
»Das Testament vom alten Simon wurde vollstreckt, und Daniel wurde am zehnten September Besitzer des Hauses. Am fünfzehnten Dezember wurde das Haus auf insgesamt fünf Namen überschrieben: Raphael Hyland, Alexandra Madison, Justin Mannering, Daniel March und Abigail Stone. Frohe Weihnachten.«
Zuallererst schockierte mich der pure flammende Mut: Wie viel leidenschaftliches Vertrauen musst du haben, um deine Zukunft so total deinen Hoffnungen anzuvertrauen, keine halben Sachen, sie zu nehmen und so bewusst, so vorbehaltlos in die Hände der Menschen zu legen, die du liebst. Ich dachte an Daniel am Tisch, breitschultrig und gediegen in seinem frischen weißen Hemd, das präzise Beugen des Handgelenks, wenn er eine Seite umblätterte. An Abby, im Bademantel, wie sie Speckstreifen in der Pfanne wendete, Justin, der grottenfalsch vor sich hin sang, während er sich bettfertig machte, Rafe, ausgestreckt auf dem Rasen, in die Sonne blinzelnd. Und die ganze Zeit, unter alldem, das. Ich hatte sie schon zuvor in gewissen Augenblicken beneidet, aber das hier war zu tief für Neid; das hier verdiente beinahe Ehrfurcht.
Dann begriff ich. N, Flugpreise, Nur über meine Leiche kriegt Ned eine Chance. Und ich hatte mich mit Spieldosen und Bleisoldaten abgegeben und überlegt, wie viel ein normales Familienfotoalbum wohl einbringen mochte, hatte geglaubt, diesmal hätte sie nichts zu verkaufen gehabt.
Falls sie mit Ned verhandelt hatte und die anderen dahintergekommen waren: heilige Scheiße. Kein Wunder, dass sein Name den Raum zu Eis hatte gefrieren lassen, an jenem Nachmittag. Ich bekam keine Luft mehr.
Frank redete noch immer. Ich hörte ihn gehen, im Raum hin und her tigern, schnelle Schritte. »Der Papierkram für so was dauert Monate. Danny-Boy muss das praktisch an dem Tag angeleiert haben, als er die Schlüssel bekam. Ich weiß, du magst diese Leute, Cassie, aber du kannst mir nicht erzählen, dass sie nicht verdammt seltsam sind. Das Haus ist locker ein paar Millionen wert. Was zum Teufel denkt er sich? Dass sie alle zusammen bis ans Ende ihrer Tage da leben wie eine glückliche Hippiekommune? Weißt du was, die Frage ist nicht, was er sich denkt, die Frage ist, was zum Teufel der Kerl raucht?«
Er nahm es persönlich, weil er es übersehen hatte: Die ganze intensive Ermittlungsarbeit, und dann schaffen es diese bürgerlichen Studentenspießer irgendwie, ihm so etwas vorzuenthalten. »Ja«, sagte ich sehr zurückhaltend, »das ist seltsam. Sie sind seltsam, Frank. Und ja, irgendwann wird es schwierig werden, zum Beispiel, wenn einer heiraten will oder so. Aber, wie du selbst gesagt hast, sie sind jung. Sie denken noch nicht in solchen Kategorien.«
»Nun ja, wenigstens der kleine Justin wird sobald nicht heiraten, jedenfalls nicht ohne eine größere Gesetzesänderung –«
»Red nicht so’n Schwachsinn, Frank. Und überhaupt, wieso ist das so wichtig?« Es musste nicht bedeuten, dass es einer von den vieren gewesen war, nicht unbedingt. Die Beweislage ließ noch immer vermuten, dass Lexie von jemandem erstochen worden war, den sie außerhalb des Hauses getroffen hatte. Es bedeutete auch nicht, dass sie tatsächlich verkaufen wollte. Falls sie mit Ned eine Absprache getroffen und es sich dann anders überlegt hatte, ihm gesagt hatte, dass sie aussteigt. Falls sie die ganze Zeit nur mit ihm gespielt hatte – Hass –, ihn gereizt hatte, aus Rache, weil er versucht hatte, sich das Haus unter den Nagel zu reißen … Er war so scharf auf Whitethorn House gewesen, dass er das Andenken seines Großvaters beschmutzt hatte. Was hätte er wohl getan, wenn Lexie ihm mit einem Anteil an dem Haus vor der Nase herumgewedelt und, ehe er zugreifen konnte, einen Rückzieher gemacht hätte? Ich versuchte, nicht an den Terminkalender zu denken: an die Daten, das erste N nur wenige Tage nach dem fehlenden Kringel; die Schrift so druckvoll, dass der Stift fast durchs Papier stieß, Anzeichen dafür, dass es ihr ernst war.
»Nun«, sagte Frank mit diesem trägen Klang in der Stimme, der verrät, dass er besonders gefährlich ist. »Wenn du mich fragst, hätten wir damit das Motiv, nach dem wir gesucht haben. Ich finde, das ist verdammt wichtig.«
»Nein«, sagte ich prompt, vielleicht zu prompt, aber Frank sagte nichts dazu. »Absolut nicht. Wo soll denn da das Motiv sein? Falls sie alle verkaufen wollten und sie sich quergestellt hat, dann vielleicht, aber die vier würden sich lieber eigenhändig ohne Betäubung sämtliche Zähne ausreißen, als dieses Haus zu verkaufen. Was hätten sie davon gehabt, sie umzubringen?«
»Wenn einer von ihnen stirbt, fällt sein – oder ihr – Anteil an die anderen vier. Vielleicht hat sich da jemand gedacht, ein Viertel von diesem hübschen großen Haus wäre noch netter als ein Fünftel. Danny-Boy ist damit mehr oder weniger aus dem Schneider – falls er das ganze Haus hätte haben wollen, hätte er es ja einfach behalten können. Bleiben die anderen drei kleinen Negerlein.«
Ich rutschte auf meinem Ast herum. Ich war heilfroh, dass Frank auf dem falschen Dampfer war, aber andererseits machte es mich sauer, wie wenig er kapierte. »Wozu denn? Ich hab doch schon gesagt, sie wollen es nicht verkaufen. Sie wollen drin leben. Und dafür spielt es keine Rolle, wie groß der Anteil des Einzelnen ist. Denkst du, einer von ihnen hat sie umgebracht, weil er ihr Zimmer schöner fand als sein eigenes?«
»Oder ihr eigenes. Abby ist eine nette Person, aber ich schließe sie nicht aus. Vielleicht ging es zur Abwechslung ja auch mal nicht um Geld. Vielleicht hat Lexie einfach nur jemanden bis aufs Blut gereizt. Leute wohnen zusammen, Leute gehen sich gegenseitig auf den Senkel. Und vergiss nicht, durchaus möglich, dass sie mit einem der Burschen in der Kiste war, und wir wissen doch alle, wie kompliziert so was werden kann. Wenn man zur Miete wohnt, keine große Sache: ein bisschen Rumbrüllerei, ein paar Tränchen, eine Hausversammlung, zack, einer zieht aus. Aber was, wenn es eine Mitbesitzerin ist? Sie können sie nicht rausschmeißen, ich glaube kaum, dass einer von ihnen das Geld hat, sie auszuzahlen –«
»Klar«, sagte ich, »bloß, ich hab bisher nicht mal auch nur den Hauch irgendeiner gegen mich gerichteten Spannung gewittert. Rafe war zu Anfang sauer auf mich, weil ich nicht begriffen hab, wie erschüttert sie alle waren, aber mehr auch nicht. Falls Lexie bei irgendwem eine im wahrsten Sinne des Wortes mörderische Wut ausgelöst hätte, dann wär mir das nicht entgangen, ausgeschlossen. Diese Leute mögen sich, Frank. Das mag ja seltsam sein, aber sie sind gern zusammen seltsam.«
»Warum haben sie dann nicht erzählt, dass ihnen das Haus gemeinsam gehört? Warum diese gottverdammte Geheimnistuerei, wenn sie nichts zu verbergen haben?«
»Sie haben es nicht erzählt, weil du nicht danach gefragt hast. Wenn du an ihrer Stelle wärst, selbst wenn du unschuldig wie ein Baby wärst, würdest du den Cops irgendwas ungefragt erzählen?«
»Weißt du, wie du redest?«, sagte Frank nach einer Pause. Er war jetzt stehen geblieben. »Du redest wie ein Verteidiger vor Gericht.«
Ich drehte mich wieder in die andere Richtung, hob die Füße und stemmte sie gegen einen anderen Ast. Es fiel mir schwer, still zu sitzen. »Ach, komm schon, Frank. Ich rede wie ein Detective. Und du redest, als hättest du eine fixe Idee. Wenn du die vier nicht leiden kannst, meinetwegen. Wenn bei ihnen deine Antennen ausfahren, von mir aus. Aber damit ist noch lange nicht jedes Fitzelchen, das du findest, gleich der Beweis dafür, dass sie eiskalte Killer sind.«
»Ich finde nicht, dass ausgerechnet du meine Objektivität in Frage stellen solltest«, sagte Frank. Seine Stimme hatte wieder diesen trägen, schleppenden Tonfall angenommen, wodurch sich mein Rücken am Baumstamm verkrampfte.
»Was zum Teufel soll das heißen?«
»Das heißt, dass ich die Perspektive von außen habe, während du bis zum Hals mittendrinsteckst, und das solltest du bitte schön nicht vergessen. Außerdem heißt es, ›Och, die sind bloß so niedlich exzentrisch‹ kann nur begrenzt als Entschuldigung dafür herhalten, sich regelrecht behämmert aufzuführen.«
»Was soll das jetzt, Frank? Du hast sie von Anfang an ausgeschlossen, noch vor zwei Tagen hattest du dich auf Naylor eingeschossen –«
»Und daran hat sich auch nichts geändert, wie du sehen wirst, sobald wir den kleinen Scheißer wiederhaben. Aber ich bewahre mir gern einen offenen Blick. Ich streiche bestimmt niemanden von der Liste, solange er nicht hundertprozentig ausgeschlossen werden kann. Und das gilt nicht für diese vier. Vergiss das nicht.«
Es war allerhöchste Zeit für mich nachzugeben. »In Ordnung«, sagte ich. »Bis Naylor wieder auftaucht, konzentrier ich mich auf sie.«
»Mach das. Ich werde das auch tun. Und sei weiter vorsichtig, Cassie. Nicht bloß außerhalb des Hauses, auch drinnen. Bis morgen.« Und weg war er.
Das vierte klassische Motiv: Liebe. Plötzlich musste ich an die Handyclips denken: ein Picknick auf Bray Head im letzten Sommer, alle fünf auf einer Wiese, Wein aus Plastikbechern, Erdbeeren und eine entspannte Diskussion darüber, ob Elvis überbewertet ist. Daniel hatte einen langen selbstvergessenen Monolog über den soziokulturellen Kontext vom Stapel gelassen, bis Rafe und Lexie meinten, alles sei überbewertet außer Elvis und Schokolade, und anfingen, ihn mit Erdbeeren zu bewerfen. Sie hatten die Handykamera rumgereicht: Die Aufnahmen waren unzusammenhängend und verwackelt. Lexie mit dem Kopf in Justins Schoß, während er ihr ein Gänseblümchen hinters Ohr schiebt; Lexie und Abby Rücken an Rücken gelehnt, mit Blick aufs Meer, windzerzauste Haare, Schultern, die sich im gleichen Atemrhythmus heben; Lexie, die hoch in Daniels Gesicht lacht, während sie ihm einen Marienkäfer aus den Haaren fischt, den sie dann hochhält, Daniels Kopf über ihre Hand gebeugt, lächelnd. Ich hatte das Video so oft gesehen, dass es sich anfühlte wie meine eigene Erinnerung, flackernd und süß. An diesem Tag waren sie glücklich gewesen, alle fünf.
Da war Liebe gewesen. Sie hatte so greifbar und einfach gewirkt wie Brot, real. Und wir lebten real darin, ein warmes Element, durch das wir uns entspannt bewegten und das wir mit jedem Atemzug inhalierten. Aber Lexie war bereit und gewillt gewesen, das alles in tausend Stücke zu zerschlagen. Nicht bloß gewillt, wild entschlossen – diese wütende Schrift in dem Terminkalender, während der Handyclip sie zeigte, wie sie lachend und staubbedeckt vom Dachboden heruntergestiegen kommt. Hätte sie ein paar Wochen länger gelebt, hätten die anderen eines Morgens nach dem Aufstehen festgestellt, dass sie weg war, ohne Nachricht, ohne Abschied, ohne nachzudenken. Irgendwo im Hinterkopf kam mir der Gedanke, dass Lexie Madison unter dieser strahlenden Oberfläche gefährlich gewesen war und es vielleicht immer noch war.
Ich glitt von meinem Ast, baumelte an den Händen, ließ los und landete mit einem dumpfen Geräusch auf dem Weg. Ich stopfte die Hände in die Taschen und ging los – Bewegung hilft mir beim Denken. Der Wind zerrte an meiner Mütze und stieß mir ins Kreuz, hob mich fast von den Beinen.
Ich musste mit Ned reden, und zwar schnell. Lexie hatte es versäumt, mir Instruktionen zu hinterlassen, wie die beiden Kontakt zueinander aufnahmen. Jedenfalls nicht übers Handy: Sam hatte als Erstes ihre Telefonverbindungen überprüft und keine unbekannten Nummern gefunden, die sie angerufen hatte oder von denen sie angerufen worden war. Brieftauben? Zettelchen in hohlen Bäumen? Rauchsignale?
Mir blieb nicht viel Zeit. Frank hatte keine Ahnung, dass Lexie sich je mit Ned getroffen hatte, und keine Ahnung, dass sie Vorbereitungen getroffen hatte zu verschwinden – ich hatte gewusst, dass es irgendwann einen guten Grund geben würde, warum ich ihm diesen Terminkalender verschwiegen hatte. Genau wie er selbst immer sagt: Der Instinkt arbeitet schneller als der Verstand. Aber er würde die Sache nicht auf sich beruhen lassen. Er würde sich darin verbeißen wie ein Pitbull, und früher oder später würde er auf dieselbe Möglichkeit kommen. Ich wusste nicht viel über Ned, aber doch genug, um einigermaßen sicher zu sein, dass er, sollte er in einem Vernehmungszimmer landen und Frank ihn sich vorknöpfen, binnen fünf Minuten singen würde wie ein Vögelchen. Ich kam gar nicht auf die Idee, nicht für eine Sekunde, einfach abzuwarten und das geschehen zu lassen. Was auch immer zwischen Lexie und ihm vorgegangen war, ich musste es herausfinden, ehe Frank dahinterkam.
Wenn ich mich mit Ned verabreden wollte, ohne Gefahr zu laufen, dass die anderen es merkten, wie würde ich das anstellen?
Nicht übers Telefon. Handys zeichnen Nummern auf, und die Rechnungen weisen die einzelnen Gespräche aus, so etwas hätte sie nicht im Haus haben wollen, und Whitethorn House hatte keinen Festnetzanschluss. Es gab keine Münztelefone in der Nähe, und die in der Uni waren zu riskant: In einer vorgetäuschten Pinkelpause konnte sie es höchstens bis zu einem Apparat in der Philosophischen Fakultät schaffen, und wenn einer von den anderen zufällig im falschen Moment vorbeikam, wäre sie aufgeflogen – aber so ein Wagnis wäre sie nicht eingegangen, dazu war die Sache zu wichtig. Sie hatte ihn auch nicht einfach aufsuchen können. Laut Frank wohnte Ned in Bray und arbeitete in Killiney. Den Hin- und Rückweg hätte sie unmöglich geschafft, ohne dass die anderen sie vermisst hätten. Und Briefe oder E-Mails waren ausgeschlossen; sie hätte nie und nimmer eine Spur hinterlassen.
»Verdammt, wie hast du’s angestellt?«, sagte ich leise in die Luft. Ich spürte sie wie ein Schimmern über meinem Schatten auf dem Feldweg, die Neigung ihres Kinns und das spöttische schiefe Blitzen ihrer Augen: Verrat ich nicht.
Irgendwann im Laufe der Zeit hatte ich aufgehört wahrzunehmen, wie nahtlos diese fünf Leben doch miteinander verwoben waren. Zusammen zur Uni, den ganzen Tag gemeinsam in der Bibliothek, mittags Zigarettenpause mit Abby und um vier mit Rafe, um eins gemeinsam in die Mensa, zusammen nach Hause und Abendessen: Der Ablauf war so präzise und straff choreographiert wie eine Gavotte, nie eine unausgefüllte Minute und nie eine Minute für mich allein, außer –
Außer jetzt. Eine Stunde am Abend löste ich mein Leben wie ein verzaubertes Mädchen im Märchen aus dem der anderen, und es gehörte wieder ganz mir allein. Wenn ich Lexie wäre, wenn ich jemanden kontaktieren wollte, den ich nicht kontaktieren sollte, hätte ich meine nächtlichen Spaziergänge dazu genutzt.
Nicht hätte: hatte. Seit Wochen nutzte ich sie, um Frank anzurufen, Sam anzurufen, meine Geheimnisse zu bewahren. Ein Fuchs huschte vor mir über den Weg und verschwand in der Hecke, Knochen und leuchtende Augen, und ein Frösteln lief mir über den Rücken. Da hatte ich geglaubt, das hier wäre mein ureigener brillanter Einfall gewesen, dass ich Schritt für Schritt und hellwach meinen eigenen Weg durch die Dunkelheit ging. Und erst jetzt, als ich mich umdrehte und zurückschaute, wurde mir klar, dass ich munter und blindlings meine Füße haargenau in Lexies Fußspuren gesetzt hatte, die ganze Zeit.
»Na und?«, sagte ich laut, wie eine Kampfansage. »Was soll’s?« Frank hatte mich schließlich dafür hergeschickt, ich sollte mich dem Opfer annähern, in Lexies Leben schlüpfen, und – bitte sehr – genau das tat ich. Ein gewisser Gruselfaktor war dabei nicht nur nebensächlich, sondern gehörte praktisch im Laufe einer Mordermittlung dazu. So etwas ist nun mal keine Lachnummer. Ich hatte mich einlullen lassen, all die schönen Dinner bei Kerzenlicht und die Bastelstunden, und als die Wirklichkeit sich wieder zu Wort meldete, wurde ich nervös.
Eine Stunde, um Ned zu erreichen. Wie?
Zettelchen in hohlen Bäumen … Ich hätte fast laut aufgelacht. Berufskrankheit: Da überlegst du dir die ausgefallensten Möglichkeiten und kommst erst nach einer Ewigkeit auf die nächstliegende. Je höher der Einsatz, hat Frank mir mal erklärt, desto primitiver die Methoden. Wenn du einen Kumpel zum Kaffee treffen willst, kannst du es dir leisten, dich mit ihm per SMS oder E-Mail zu verabreden. Wenn du aber denkst, dass die Polizei oder die Mafia oder die Illuminati hinter dir her sind, dann gibst du deiner Kontaktperson mit einem blauen Handtuch auf der Wäscheleine ein Zeichen. Für Lexie, der die Zeit davonlief, während ihr bereits die morgendliche Schwangerschaftsübelkeit zu schaffen machte, musste es gleichsam um Leben und Tod gegangen sein.
Ned wohnte in Bray, nur fünfzehn Autominuten entfernt. Wahrscheinlich hatte sie es doch riskiert, ihn von der Uni aus anzurufen, beim ersten Mal. Danach brauchte sie bloß einen toten Briefkasten, irgendwo auf diesen Wegen, den sie beide alle paar Tage kontrollieren konnten. Ich musste Dutzende Male daran vorbeispaziert sein.
Wieder dieses Schimmern, am Rande meines Gesichtsfelds: ein verschmitztes Grinsen, da und trügerisch, und dann weg.
In dem Cottage? Die Leute von der Spurensicherung hatten sich daraufgestürzt wie Fliegen auf einen Misthaufen, hatten jeden Zentimeter nach Fingerabdrücken abgesucht und nichts gefunden. Und Ned hatte nicht in der Nähe des Cottages geparkt, in der Nacht, als ich ihm gefolgt war. Selbst wenn man einkalkulierte, dass er sich tunlichst hütete, mit seinem fetten Schlitten über Feldwege zu fahren, für die das Monster ja eigentlich gebaut worden war, so hätte er doch so nah wie möglich an dem toten Briefkasten geparkt. Er war auf der Landstraße nach Rathowen gewesen, weit weg von irgendeiner Abzweigung. Breite Randstreifen, hohes Gras und Gestrüpp, die dunkle Straße, die hinter der Hügelkuppe verschwand, und der Meilenstein, verwittert und schief wie ein kleines Grabmal.
Ich merkte kaum, dass ich auf dem Absatz kehrtgemacht hatte und losgerannt war. Die anderen würden mich jeden Moment zurückerwarten, und wenn sie anfingen, sich Sorgen zu machen, würden sie noch auf die Idee kommen, nach mir zu suchen, aber das hier konnte nicht bis morgen Abend warten. Ich hatte keine hypothetische, grenzenlos dehnbare Frist mehr; mein Wettlauf gegen Franks Verstand und gegen Lexies hatte begonnen.
Nach den schmalen Feldwegen kam mir der Randstreifen sehr breit und kahl und ungeschützt vor, aber die Straße war verlassen, aus beiden Richtungen keine nahenden Scheinwerferkegel. Als ich meine Taschenlampe herauszog, sprangen mich die Buchstaben auf dem Stein förmlich an, von Zeit und Wetter verwischt, warfen ihre eigenen verzerrten Schatten: Glenskehy 1828. Das Gras um ihn herum wirbelte und bog sich in dem starken Wind mit einem Geräusch wie ein langes zischendes Atmen.
Ich klemmte die Taschenlampe unter den Arm und teilte das Gras mit beiden Händen. Es war nass und scharfkantig und leicht gezahnt und schien an meinen Fingern zu ziehen. Am Fuß des Steins funkelte etwas Rotes.
Einen kurzen Moment lang konnte mein Verstand nicht erfassen, was ich da sah. Tief im Gras versunken, leuchteten Farben so strahlend wie Juwelen, und winzige Gestalten huschten vor dem Lichtschein davon: glänzende Pferdeflanke, flatternder roter Reitrock, wirbelnde gepuderte Locken und ein Hund, der den Kopf herumriss, während er in Deckung sprang. Dann berührte meine Hand nasses, sandiges Metall, und die Gestalten erbebten und verharrten auf der Stelle, und ich lachte auf, ein kurzes Keuchen, das mir selbst fremd in den Ohren klang. Eine Zigarettendose, alt und rostig und wahrscheinlich aus Onkel Simons Haus geklaut. Eine satte, verbeulte Jagdszene, mit wimpernfeinem Pinsel gemalt. Spurensicherung und Sonderfahnder hatten im Umkreis von einer Meile um das Cottage jeden Quadratzentimeter abgesucht, aber das hier lag außerhalb dieses Bereichs. Lexie hatte sie ausgetrickst, hatte das hier für mich verwahrt.
Die Nachricht stand auf einem linierten Blatt, das aus irgend so einem Terminplanerdings rausgerissen worden war. Die Handschrift sah aus wie die eines Zehnjährigen, und offenbar hatte Ned nicht entscheiden können, ob er einen Geschäftsbrief oder eine SMS schrieb. Liebe Lexie, hab vers. dich zu erreichen, wg. der Sache, über die wir gredet haben. Bin immer noch sehr interessiert. Bitte um Nachricht, wann Gelegenheit günstig. Danke, Ned. Ich hätte wetten können, dass Ned auf eine sündhaft teure Privatschule gegangen war. Daddy hatte nicht gerade viel für sein Geld gekriegt.
Liebe Lexie … Danke, Ned … Lexie hätte ihm bestimmt am liebsten dafür in den Hintern getreten, dass er so etwas hier rumliegen ließ, auch wenn es noch so gut versteckt war. Ich fischte mein Feuerzeug heraus, ging bis zur Straße und zündete das Blatt an. Als es Feuer fing, ließ ich es fallen, wartete ab, bis das kurze Aufflammen erstarb, und zertrat die Asche mit dem Fuß. Dann kramte ich meinen Kuli hervor und riss eine Seite aus meinem Notizbuch.
Mittlerweile fiel mir Lexies Schrift leichter als meine eigene. Donnerstag 11. Ein raffinierter Köder war nicht mehr nötig: Die Arbeit hatte Lexie für mich erledigt, der Kerl hing schon fest am Haken. Die Dose schloss sich mit einem vernehmlichen, kleinen Klick, und als ich sie wieder tief in das hohe Gras schob, spürte ich, wie die Abdrücke meiner Finger sich vollkommen mit Lexies deckten, meine Füße auf genau denselben Stellen standen, wo ihre Fußabdrücke schon längst weggespült worden waren.