18
Der folgende Tag dauerte ungefähr eine Woche. An der Uni war es zu heiß, trocken und stickig. Meine Tutorenkursgruppe war gelangweilt und unruhig. Es war ihre letzte Sitzung, sie hatten ihre Lektüre nicht vorbereitet und gaben sich nicht mal Mühe, so zu tun, als ob, und ich brachte nicht die Energie auf, so zu tun, als störte mich das. Ich musste immerzu an Ned denken: Ob er kommen würde, was ich sagen würde, falls er kam, was ich tun würde, falls nicht; wie viel Zeit mir noch blieb, ehe Frank uns einholte.
Ich wusste, dass die Verabredung an diesem Abend ziemlich unrealistisch war. Selbst angenommen, ich lag richtig mit meiner Vermutung, dass das Cottage ihr Treffpunkt war, könnte Ned Lexie nach einem Monat ohne Nachricht schon längst abgeschrieben haben – er hatte seinen Zettel nicht datiert, vielleicht war der schon Wochen alt. Und selbst wenn er einer von der hartnäckigen Sorte war, wieso sollte er den toten Briefkasten ausgerechnet jetzt kontrollieren und es rechtzeitig zum Treffpunkt schaffen? Ein großer Teil von mir hoffte sogar, dass er nicht kommen würde. Ich wollte zwar hören, was er zu sagen hatte, aber egal, was er sagte, Frank würde mithören.
Ich war früher als verabredet am Cottage, gegen halb elf. Zu Hause haute Rafe stürmisch in die Tasten – Beethoven mit schrecklich viel Pedal –, Justin versuchte, mit den Fingern in den Ohren zu lesen, und so, wie alle von Minute zu Minute gereizter wurden, drohte das Ganze, in einen bösen Streit auszuarten.
Es war erst das dritte Mal, dass ich das Cottage betrat. Ich hatte ein wenig Angst vor einem erbosten Farmer – das Feld musste ja schließlich irgendwem gehören, obwohl er offenbar nicht viel Wert darauf legte –, aber es war eine stille, helle Nacht, meilenweit rührte sich nichts, bloß blasse leere Felder und die Berge als schwarze Silhouette vor den Sternen. Ich versteckte mich in einer dunklen Ecke, von wo aus ich das Feld und den Weg beobachten konnte, und wartete.
In dem unwahrscheinlichen Fall, dass Ned tatsächlich aufkreuzte, durfte ich mir keinen Fehler erlauben. Ich hatte nur einen Versuch. Ich musste ihm die Führung überlassen, nicht bloß bei allem, was ich sagte, sondern auch, wie ich es sagte. Was auch immer Lexie für ihn gewesen war, ich musste genau so sein. Nach dem Bild, das ich mir von ihr machte, kam da alles Mögliche in Frage – hauchiger Vamp, tapferes drangsaliertes Aschenputtel, rätselhafte Mata Hari –, und was immer Frank auch über Neds Intelligenz gesagt hatte, falls ich den falschen Ton traf, würde selbst er das wahrscheinlich merken. Mir blieb nur, mich zurückzuhalten und darauf zu hoffen, dass er mir irgendwelche Hinweise lieferte.
Der Weg sah weiß und geheimnisvoll aus, wand sich hangabwärts und verschwand zwischen dunklen Hecken. Wenige Minuten vor elf war irgendwo ein Vibrieren zu spüren, zu tief und zu weit weg, um es zu lokalisieren, nur ein Puckern irgendwo ganz am Rande meines Gehörs. Stille, dann das leise Knirschen von Schritten weiter unten. Ich drückte mich tiefer in die Ecke, schob eine Hand um meine Taschenlampe und die andere unter den Pullover, auf den Revolvergriff.
Helles Haar leuchtete auf, bewegte sich zwischen den dunklen Hecken hindurch. Ned war also doch gekommen.
Ich ließ meine Waffe los und sah zu, wie er sich ungelenk über die Mauer wuchtete, seine Hose nach Dreck absuchte, sich die Hände abbürstete und dann mit offensichtlichem Abscheu weiter über das Feld stakste. Ich wartete, bis er im Cottage war, nur wenige Schritte entfernt, ehe ich die Taschenlampe einschaltete.
»Ey«, sage Ned gereizt und riss einen Arm hoch, um seine Augen abzuschirmen. »Mensch, was soll das, willst du, dass ich blind werde? Echt.«
Und dieser eine Moment reichte echt aus, um mir alles zu verraten, was ich über Ned wissen musste. Ich war schon durch den Wind, weil ich eine Doppelgängerin hatte; er dagegen lief bestimmt an jeder Straßenecke im Süden von Dublin einem seiner Klone über den Weg. Er war in seiner Kategorie so ein Durchschnittstyp, dass er in der Masse seiner Spiegelbilder einfach unsichtbar wurde. Die modische Frisur, das gute Aussehen, die Rugbyspielerstatur, die überteuerten Designerklamotten: alles Standardausführung. Ein Blick genügte, und ich kannte seine ganze Lebensgeschichte. Ich hoffte inständig, dass ich ihn nie bei einer Gegenüberstellung würde identifizieren müssen.
Lexie würde ihm geboten haben, was er sehen wollte, und ich war mir hundertprozentig sicher, dass Ned ein bestimmtes Frauenklischee bevorzugte: sexy nach Schema F, nicht von Natur aus, humorlos, nicht zu intelligent und hin und wieder ein bisschen zickig. Ein Jammer, dass ich nicht solariumgebräunt war. »Meine Güte«, sagte ich ebenso angesäuert und mit demselben hochnäsigen Zickentonfall, mit dem ich Naylor aus seiner Hecke gelockt hatte. »Krieg dich wieder ein. Ist bloß eine Taschenlampe.« Es war ein nicht gerade herzlicher Auftakt, aber das war mir nur recht. In gewissen gesellschaftlichen Kreisen gelten gute Umgangsformen als Zeichen von Schwäche.
»Wo hast du gesteckt?«, wollte Ned wissen. »Ich hab dir jeden zweiten Tag einen Zettel hingelegt, echt. Mensch, ich hab was Besseres zu tun, als andauernd hier raus in die Pampa zu fahren.«
Falls Lexie mit dieser wandelnden Umweltverschmutzung ins Bett gegangen war, würde ich rüber zum Leichenschauhaus fahren und sie eigenhändig noch ein zweites Mal umbringen. Ich verdrehte die Augen. »Äh, hallo? Vielleicht bin ich niedergestochen worden? Vielleicht hab ich im Koma gelegen?«
»Oh«, sagte Ned. »Ach ja. Stimmt.« Er sah mich mit blassblauen, leicht verärgerten Augen an, als hätte ich mir eine Geschmacklosigkeit geleistet. »Trotzdem. Du hättest dich melden können. Hier geht’s ums Geschäft.«
Endlich mal eine gute Nachricht. »Komm, reg dich ab«, sagte ich. »Ich hab mich ja jetzt gemeldet, oder?«
»Dieser prollige Detective war bei mir und hat Fragen gestellt«, sagte Ned, als fiele ihm auf einmal alles wieder ein. Er sah so empört aus, wie es möglich ist, ohne den Gesichtsausdruck zu verändern. »Als wäre ich verdächtig oder so. Ich hab ihm gesagt, das wäre echt nicht mein Problem. Ich bin doch kein Aso. Ich stech nicht auf Leute ein.«
Ich musste Frank recht geben: Ned war tatsächlich kein Intelligenzbolzen. Er gehörte zu der Sorte, die im Grunde aus einer einzigen geballten Ansammlung von erlernten Reflexen besteht, ohne eigenes Denkvermögen. Ich hätte eine Stange Geld darauf verwettet, dass er mit Kunden aus der Arbeiterschicht sprach, als wären sie behindert, und jede Asiatin, die ihm begegnete, augenzwinkernd nach Sushi-Rezepten fragte. »Hast du ihm hiervon erzählt?«, fragte ich und setzte mich auf ein bröckeliges Mauerstück.
Er sah mich entsetzt an. »Ich bin doch nicht bescheuert. Dann hätte ich ihn auf der Pelle gehabt, und ich hatte echt keinen Bock, ihm die ganze Sache erklären zu müssen. Ich will das hier bloß über die Bühne bringen, okay?«
Und noch dazu jemand mit Gemeinschaftssinn – nicht, dass ich etwas dagegen gehabt hätte. »Gut«, sagte ich. »Ich meine, das hier hat doch nichts damit zu tun, was mir passiert ist, richtig?«
Dazu schien Ned keine Meinung zu haben. Er wollte sich gegen die Mauer lehnen, inspizierte sie argwöhnisch und überlegte es sich anders. »Also, können wir jetzt weitermachen?«, wollte er wissen.
Ich senkte den Kopf und warf ihm einen bewimperten Icharmes-kleines-Ding-Seitenblick zu. »Durch das Koma ist mein Gedächtnis ziemlich im Eimer. Also musst du mir sagen, wie weit wir waren und so.«
Ned starrte mich an. Dieser teilnahmslose, vollkommen ausdruckslose Blick, der nichts verriet: Zum ersten Mal sah ich eine Ähnlichkeit mit Daniel, auch wenn es ein Daniel nach Frontallobotomie war. »Wir waren bei einhundert«, sagte er nach einem Moment. »Cash.«
Hundert Euro für irgendein Familienerbstück, hundert Riesen für einen Anteil am Haus? Ich musste nicht wissen, worum es ging, um mir sicher zu sein, dass er log. »Mhm, glaub ich nicht«, sagte ich mit einem koketten Lächeln, um die Kränkung zu mildern, von einer Frau durchschaut zu werden. »Das Koma hat mein Gedächtnis angegriffen, nicht mein Gehirn.«
Ned lachte, völlig verlegen, rammte die Hände in die Taschen und wippte auf den Fußballen nach hinten. »Tja, hey, man wird es ja wohl mal versuchen dürfen, oder?«
Ich lächelte weiter, weil ihm das offenbar gefiel. »Versuch’s noch einmal.«
»Okay«, sagte Ned, wurde sachlich und setzte eine geschäftsmäßige Miene auf. »Im Ernst. Ich hatte hundertachtzig geboten, ja? Und du hast gesagt, das wär dir zu wenig, hast knallhart verhandelt, echt, aber in Ordnung, und gesagt, ich soll mich wieder melden. Also hab ich dir eine Nachricht hingelegt, dass wir über zweihundert Riesen reden können, aber dann bist du … « Ein unbehagliches Schulterzucken. »Du weißt schon.«
Zweihundert Riesen. Eine Sekunde lang spürte ich nur noch die grellweiße Euphorie des Triumphes, die jeder Detective kennt, wenn die Karten aufgedeckt werden und du siehst, dass alle deine Mutmaßungen genau ins Schwarze getroffen haben, dass du im Blindflug schnurstracks den Weg nach Hause gefunden hast. Und dann begriff ich.
Ich hatte angenommen, dass Ned derjenige war, der die Dinge verzögert hatte, der Dokumente aufsetzen und die Finanzierung klarmachen musste. Lexie hatte noch nie viel Geld gebraucht, um abzuhauen. In North Carolina war sie mit der Kaution für ein billiges Apartment angekommen und hatte es mit dem Erlös aus dem Verkauf eines alten Autos verlassen; sie hatte nie mehr gebraucht als eine offene Straße und ein paar Stunden Vorsprung. Diesmal hatte sie mit Ned um sechsstellige Summen gefeilscht. Nicht bloß, weil sie es konnte. Mit dem Baby im Bauch und Abbys scharfen Augen im Rücken und einem Angebot dieser Größenordnung auf dem Tisch, warum hätte sie da wegen ein paar tausend Euro noch wochenlang warten sollen? Sie hätte auf der gepunkteten Linie unterschrieben, um Auszahlung in kleinen Scheinen gebeten und wäre weg gewesen, es sei denn, sie brauchte jeden Penny, den sie kriegen konnte.
Je mehr ich über Lexie erfahren hatte, desto mehr war ich davon ausgegangen, dass sie abtreiben wollte, sobald sie an ihrem nächsten Ziel angekommen wäre, wo auch immer das war. Abby – und Abby hatte sie so gut gekannt, wie das überhaupt möglich war – hatte schließlich dasselbe gedacht. Aber eine Abtreibung in England kostete nur ein paar hundert Pfund. Das Geld hätte Lexie längst durch ihren Job zusammensparen können, sie hätte es eines Nachts aus der Haushaltskasse klauen können, sie hätte ein Darlehen aufnehmen können, um es nie zurückzuzahlen; es bestand keine Notwendigkeit, sich überhaupt mit Ned einzulassen.
Ein Kind großzuziehen kostet sehr viel mehr. Die Prinzessin des Niemandslandes, die Königin über tausend Schlösser zwischen den Welten, war übergelaufen. Sie war bereit gewesen, die Hände zu öffnen und die größte Bindung von allen anzunehmen. Ich hatte das Gefühl, als würde die Mauer unter mir zu Wasser werden.
Anscheinend hatte ich ihn angestarrt, als wäre er ein Gespenst. »Ehrlich«, sagte Ned leicht angesäuert, weil er meinen Blick falsch verstanden hatte. »Ich erzähl keinen Scheiß. Zweihundert Riesen ist mein absolutes Topangebot. Ich meine, ich geh immerhin ein Mordsrisiko ein. Wenn wir uns einig werden, muss ich noch mindestens zwei von deinen Freunden rumkriegen. Ich schaff das schon, irgendwie, wenn ich erst mal einen Fuß in der Tür hab, aber trotzdem, das könnte Monate dauern und ein schönes Stück Arbeit werden.«
Ich presste meine freie Hand nach unten auf die Mauer, fest, spürte, wie sich das raue Mauerwerk in meine Handfläche grub, bis mein Kopf wieder klar war. »Glaubst du wirklich?«
Seine hellen Augen weiteten sich. »Und ob, Mann. Ich weiß echt nicht, was die für einen Schaden haben. Ich weiß, es sind deine Freunde, und Daniel ist mein Cousin und alles, aber, mal ehrlich, haben die sie noch alle? Schon bei dem Vorschlag, was aus dem Haus zu machen, kreischen sie los wie ein Haufen Nonnen, die einen Exhibitionisten sehen.«
Ich zuckte die Achseln. »Sie hängen an dem Haus.«
»Wieso? Ich meine, es ist total runtergekommen, hat nicht mal eine Heizung, und die tun so, als wäre es der reinste Palast. Ist denen denn nicht klar, was sie rausschlagen könnten, wenn sie mit in die Sache einsteigen würden? In dem Haus steckt Potential.«
Luxuswohnungen in weitläufiger Umlage mit dem Potential zur weiteren Erschließung … Einen kurzen Moment verachtete ich sowohl Lexie als auch mich dafür, dass wir mit diesem Schleimscheißer verhandelten, weil es unseren Zwecken diente. »Ich bin die Schlaue von uns fünf«, sagte ich. »Wenn du das Haus hast, was machst du dann mit dem ganzen Potential?«
Ned sah mich verdutzt an. Vermutlich hatten Lexie und er schon darüber geredet. Ich blickte ausdruckslos, und anscheinend gab ihm das ein trautes Gefühl. »Kommt auf die Baugenehmigung an. Ich meine, im Idealfall wird’s ein Golfclub oder ein Wellnesshotel, so was in der Art. Das bringt langfristig die größten Gewinne, vor allem, wenn ich einen Hubschrauberlandeplatz durchkriege. Ansonsten schwebt mir eine Superluxusapartmentanlage vor.«
Ich dachte daran, ihm einen Tritt in die Eier zu verpassen und wegzulaufen. Ich war darauf gefasst gewesen, dass sich der Kerl als Kotzbrocken entpuppen würde, und er hatte mich nicht enttäuscht. Ned ging es nicht um Whitethorn House, das war ihm scheißegal, egal, was er vor Gericht behauptet hatte. Ihm lief das Wasser im Munde zusammen, wenn er sich vorstellte, das Haus auszuschlachten, ihm die Seele herauszureißen, sein Gerippe freizulegen und auch noch den letzten Blutstropfen aufzuschlürfen. John Naylors Gesicht blitzte vor mir auf, geschwollen und verfärbt, erhellt von diesen visionären Augen. Können Sie sich vorstellen, was das für Glenskehy bedeutet hätte? Im tiefsten Grund, tiefer und machtvoller als die Tatsache, dass sie sich gegenseitig bis aufs Blut hassen würden, waren er und Ned zwei Seiten derselben Medaille. Wenn die ihre Sachen packen und abhauen, hatte Naylor gesagt, will ich dabei sein und ihnen hinterherwinken. Wenigstens war er bereit gewesen, für das, was er wollte, seinen Kopf hinzuhalten, nicht bloß sein Bankkonto.
»Genial«, sagte ich. »Ich meine, es ist total wichtig, ein Haus nicht einfach so rumstehen und bewohnen zu lassen.«
Der Sarkasmus entging Ned. »Natürlich braucht man jede Menge Investmentkapital, um so was hochzuziehen«, sagte er hastig, damit ich meine Forderung nicht noch höher schraubte. »Deshalb sind mehr als zweihundert echt nicht drin. Sind wir uns da einig? Kann ich die Papiere aufsetzen lassen?«
Ich spitzte die Lippen und tat so, als ließe ich mir das durch den Kopf gehen. »Muss ich drüber nachdenken.«
»Ach Scheiße, Mensch.« Ned fuhr sich frustriert mit den Fingern durch seinen Designerhaarschnitt, strich ihn dann sorgsam wieder glatt. »Jetzt komm. Das zieht sich nun schon ewig hin, echt.«
»’tschuldigung«, sagte ich achselzuckend. »Wenn es dir so unter den Nägeln brennt, hättest du gleich von Anfang an ein anständiges Angebot machen können.«
»Tu ich ja jetzt, okay? Ich hab Investoren an der Hand, die stehen förmlich Schlange, aber ewig warten die auch nicht. Das sind echte Großinvestoren. Die können ihr Geld auch echt anders anlegen.«
Ich grinste ihn an und legte noch ein zickiges kleines Naserümpfen obendrauf. »Dann sag ich dir echt Bescheid, exakt in der Sekunde, in der ich mich entschieden hab. Okay?« Dann winkte ich, als wäre er entlassen.
Ned blieb noch einen Moment stehen, trat von einem Bein aufs andere und sah stinksauer aus, aber ich grinste ungerührt weiter. »Gut«, sagte er schließlich. »In Ordnung. Wie du willst. Sag Bescheid.«
An der Tür drehte er sich noch einmal effektvoll um. »Das könnte für mich sozusagen der Einstieg werden, echt. Ich käme endlich auf Augenhöhe mit den richtig großen Jungs. Also lass uns die Sache nicht vermasseln, okay?«
Er wollte einen dramatischen Abgang hinlegen, aber er vertat seine Chance, weil er ins Stolpern geriet, als er sich umdrehte, um von dannen zu marschieren. In dem Versuch, die kleine Unbeholfenheit zu überspielen, fiel er in einen flotten Trab quer übers Feld, ohne sich noch einmal umzudrehen.
Ich schaltete die Taschenlampe aus und wartete im Cottage, während Ned durchs Gras stapfte, in seinen Machoschlitten stieg und Richtung Zivilisation davondonnerte, das Dröhnen des Geländewagens mickrig und bedeutungslos vor der gewaltigen nächtlichen Landschaft. Dann lehnte ich mich gegen die Wand im vorderen Raum und spürte mein Herz schlagen, wo Lexies seinen letzten Schlag getan hatte. Die Luft war weich und warm wie Sahne. Meine Beine schliefen ein, winzige Motten umtanzten mich wie Blütenblätter. Neben mir wuchsen Dinge aus der Erde, in die ihr Blut geflossen war, ein blasses Büschel Glockenblumen, ein kleiner Schössling, der aussah wie Weißdorn: Dinge, die aus ihr entstanden waren.
Selbst wenn Frank die Live-Vorstellung verpasst hatte, würde er sich die Unterhaltung schon in wenigen Stunden anhören, sobald er am nächsten Morgen zur Arbeit kam. Ich hätte ihn oder Sam oder beide anrufen sollen, um mit ihnen gemeinsam zu überlegen, wie wir diese Entwicklung am besten nutzen könnten, aber ich hatte das Gefühl, wenn ich versuchen würde, mich zu bewegen oder zu sprechen oder auch nur tief zu atmen, würde mein Verstand überlaufen und im hohen Gras versickern.
Ich war mir meiner Sache so sicher gewesen. Und das aus gutem Grund. Diese junge Frau, die sich wie eine Wildkatze lieber die eigenen Glieder abbiss, als sich einsperren zu lassen. Ich hatte fest geglaubt, die Worte für immer würden ihr nie über die Lippen kommen. Ich versuchte, mir einzureden, dass sie vielleicht vorgehabt hatte, das Baby zur Adoption freizugeben, sich aus dem Krankenhaus zu schleichen, sobald sie nach der Geburt wieder aufstehen konnte und gleich vom Parkplatz weg ins nächste Gelobte Land zu entschwinden, aber ich wusste: Die Zahlen, mit denen sie da in ihren Verhandlungen mit Ned jongliert hatte, waren für kein Krankenhaus, ganz gleich wie nobel. Sie waren für ein Leben, für zwei Leben.
Genau wie sie sich von den anderen behutsam, unmerklich zu der kleinen Schwester hatte machen lassen, die ihre seltsame Familie vervollständigte, genau wie sie sich von Ned in das einzige Klischee hatte drängen lassen, das er verstand, so hatte sie sich von mir zu dem formen lassen, was ich unbedingt hatte sehen wollen. Ein Generalschlüssel für jede zuknallende Tür, eine endlose Schnellstraße zu tausend Neuanfängen. So etwas gibt es nicht. Selbst diese Frau, die ein Leben nach dem anderen hinter sich ließ wie eine Raststätte, hatte am Ende ihre Ausfahrt gefunden und war bereit gewesen, sie zu nehmen.
Ich blieb lange in dem Cottage sitzen, die Finger um den Schössling geschlossen – sachte, er war so neu, ich wollte ihn nicht zerdrücken. Ich weiß nicht, wann ich mich endlich aufraffen konnte. An den Fußweg nach Hause erinnere ich mich kaum. Ein Teil von mir hoffte tatsächlich, John Naylor würde aus einer Hecke hervorspringen, beseelt von seiner Sache und auf der Suche nach einem lautstarken Wortgefecht oder einer handfesten Rauferei, nur damit ich etwas hätte, gegen das ich mich wehren könnte.
Das Haus war hell erleuchtet wie ein Weihnachtsbaum, jedes Fenster strahlte, Silhouetten huschten, und Stimmengewirr strömte heraus, und einen Moment lang konnte ich es mir nicht erklären: War etwas Schlimmes passiert, lag jemand im Sterben, war das Haus in Schieflage geraten und hatte ein fröhliches, längst vergangenes Fest ans Licht befördert, wenn ich auf die Wiese trat, würde ich dann ins Jahr 1910 stolpern? Doch dann fiel das Tor scheppernd hinter mir zu, und Abby riss die Terrassentür auf, rief: »Lexie!«, und kam über das Gras angelaufen, wobei ihr langer weißer Rock flatterte.
»Ich hab nach dir Ausschau gehalten«, sagte sie. Sie war atemlos und gerötet, ihre Augen blitzten, und ihr Haar löste sich aus den Klammern. Sie hatte offensichtlich getrunken. »Wir sind heute Abend dekadent. Rafe und Justin haben so einen Punsch gemacht, mit Cognac und Rum, und ich weiß nicht, was sonst noch alles drin ist, aber das Zeug ist tödlich, und morgen hat keiner irgendwelche Tutorien oder so, deshalb, scheiß drauf, fahren wir nicht zur Uni, bleiben die ganze Nacht auf und lassen so richtig die Sau raus. Hört sich das gut an?«
»Das hört sich prima an«, sagte ich. Meine Stimme klang fremd, körperlos – ich brauchte eine Weile, um mich zusammenzureißen und auf sie einzustellen –, aber Abby schien es nicht zu merken.
»Findest du? Zuerst fand ich die Idee nämlich nicht so toll. Aber Rafe und Justin hatten schon mit dem Punsch angefangen – Rafe hat irgendwas Hochprozentiges angezündet, absichtlich, hoff ich –, und sie haben mich angeschrien, weil ich immer so negativ bin. Und ich meine, wenigstens meckern sie mal nicht aneinander rum, nicht? Also hab ich mir gedacht, ach, was soll’s, tut uns bestimmt gut. Nach den letzten paar Tagen – Gott, nach den letzten paar Wochen. Wir sind alle halb verrückt geworden, hast du das gemerkt? Die Sache neulich Nacht, mit dem Stein und der Schlägerei und … Mann.«
Etwas glitt über ihr Gesicht, wie ein rascher Schatten, aber ehe ich es benennen konnte, war es weg, und diese unbesonnene, beschwipste Heiterkeit war wieder da. »Also hab ich mir gedacht, wir toben uns mal eine Nacht richtig aus und lassen alles raus, und dann können wir uns vielleicht entspannen und wieder normal werden. Was meinst du?«
So angeheitert wirkte sie viel jünger. Irgendwo in Franks Kriegsspieleverstand wurden sie und ihre drei besten Freunde in einer Reihe aufgestellt und begutachtet, einer nach dem anderen, Zentimeter für Zentimeter. Er taxierte sie, kühl wie ein Chirurg oder Folterer, überlegte, wo er den ersten Testschnitt ansetzen, die erste empfindliche Sonde einführen sollte. »Ich find’s super«, sagte ich. »Absolut super.«
»Wir haben schon ohne dich angefangen«, sagte Abby und wich ein Stückchen zurück, um mich unsicher zu mustern. »Du bist doch nicht böse, oder? Dass wir nicht auf dich gewartet haben?«
»Natürlich nicht«, sagte ich. »Hauptsache, es ist noch was da.« Weit hinter ihr überschnitten sich Schatten an der Wohnzimmerwand. Rafe bückte sich mit einem Glas in der Hand, sein Haar golden wie eine Fata Morgana vor den dunklen Vorhängen, und Josephine Baker drang aus den offenen Fenstern, lieblich und verkratzt und betörend: »Mon rêve c'était vous ...« In meinem ganzen Leben hatte ich mir selten etwas so verzweifelt gewünscht, wie ich mir jetzt wünschte, dort drin zu sein, den Revolver und das Mikro und das Handy loszuwerden, zu trinken und zu tanzen, bis mir im Kopf eine Sicherung durchknallte und es nichts anderes auf der Welt gab als die Musik und das strahlende Licht und die vier um mich herum, lachend, hinreißend, unberührbar.
»Na klar ist noch was da. Für wen hältst du uns?« Sie fasste mein Handgelenk und eilte zurück zum Haus, zog mich hinter sich her, während sie mit der freien Hand ihren Rock über das Gras hob. »Bei Daniel musst du mir helfen. Er hat ein großes Glas, aber er nippt immer nur. Heute Abend wird nicht genippt, heute Abend wird gesoffen! Ich meine, ich weiß, er hat auch schon leicht einen sitzen, weil er auf einmal angefangen hat, eine lange Rede über das Labyrinth und den Minotaurus und irgendwas mit Zettel aus dem Sommernachtstraum vom Stapel zu lassen, also kann er nicht mehr nüchtern sein. Aber trotzdem.«
»Na dann los«, sagte ich lachend – ich brannte darauf, Daniel mal richtig betrunken zu erleben –, »worauf warten wir?«, und wir rannten zusammen über die Wiese und stürmten Hand in Hand in die Küche.
Justin stand am Küchentisch, eine Schöpfkelle in der einen und ein Glas in der anderen Hand, und beugte sich über eine große Obstschüssel voll mit einer Flüssigkeit, die rot und gefährlich aussah. »Gott, seid ihr beide süß«, sagte er zu uns. »Ihr seht aus wie zwei Waldnymphen, genau das tut ihr.«
»Sie sind schön«, lächelte Daniel von der Tür her. »Gib ihnen ordentlich Punsch, damit sie uns auch schön finden.«
»Wir finden euch immer schön«, erklärte Abby und schnappte sich ein Glas vom Tisch. »Aber wir brauchen trotzdem Punsch. Lexie braucht reichlich Punsch, damit sie uns einholt.«
»Ich bin auch schön!«, rief Rafe aus dem Wohnzimmer über Josephine hinweg. »Kommt rein und sagt mir, dass ich schön bin!«
»Du bist schön!«, brüllten Abby und ich aus vollem Halse, und Justin drückte mir ein Glas in die Hand, und wir gingen alle ins Wohnzimmer, ließen unsere Schuhe in der Diele stehen, leckten den Punsch ab, der uns über die Finger schwappte, und lachten.
Daniel machte es sich in einem Sessel bequem, Justin lag auf dem Sofa, und Rafe und Abby und ich landeten ausgestreckt auf dem Boden, weil Sessel irgendwie zu kompliziert waren. Abby hatte recht gehabt, der Punsch war tödlich: süßes, trügerisches Zeug, das so mühelos durch die Kehle floss wie frischer Orangensaft und sich dann in eine köstliche, wilde Leichtigkeit verwandelte, die sich wie Helium in alle Glieder ausbreitete. Ich wusste, die Sache würde sich schlagartig ändern, wenn ich etwas Dummes versuchte, wie zum Beispiel aufstehen. Irgendwo im Hinterkopf hörte ich Frank mahnend irgendetwas von Kontrolle erzählen, wie die Nonnen in der Schule, die dauernd vor dem Dämon Alkohol gewarnt hatten, aber ich hatte Frank so verdammt satt, ihn und seine neunmalklugen Sprüche, und ich hatte es satt, ständig die Kontrolle zu wahren. »Mehr«, verlangte ich, stupste Justin mit dem Fuß an und hielt ihm mein Glas hin.
An große Teile dieses Abends habe ich keine Erinnerung mehr, zumindest keine klare. Das zweite Glas oder vielleicht das dritte verwandelte die ganze Nacht in etwas Weichgezeichnetes, Verzaubertes, wie aus einem Traum. Irgendwann zwischendurch ging ich unter einem Vorwand nach oben in mein Zimmer und versteckte das meiste von meinem Undercover-Zubehör – Revolver, Handy, Hüfthalter – unter dem Bett. Jemand machte die Lichter aus und ließ nur eine Lampe und die Kerzen brennen, die überall verteilt waren, wie Sterne. Ich erinnere mich an eine tiefschürfende Diskussion über die Frage, wer der beste James Bond war, die zu einer ebenso angeregten Spekulation führte, wer von den drei Jungs den besten Bond abgeben würde; an einen völlig missglückten Versuch, irgendein Trinkspiel namens »Fuzzy Duck« zu spielen, das Rafe im Internat gelernt hatte und das ein abruptes Ende fand, als Justin Punsch durch die Nase inhalierte und in die Küche flüchten musste, um alles in die Spüle zu niesen; an Lachen, so viel Lachen, dass mir der Bauch weh tat und ich mir die Finger in die Ohren stecken musste, bis ich wieder atmen konnte; an Rafes Arm um Abbys Schultern, meine Füße auf Justins Knien, Abbys Hand, die nach oben griff und Daniels festhielt. Es war, als hätte es die scharfen Kanten nie gegeben. Es war wieder nah und warm und glänzend, wie jene erste Woche, nur hundertmal besser, weil ich diesmal nicht auf der Hut war und darum kämpfen musste, mich einzufinden und keinen Fehler zu machen. Diesmal kannte ich sie alle inund auswendig, ihre Rhythmen, ihre Macken, ihre Neigungen, ich wusste, wie ich mich jedem von ihnen anpassen konnte: Diesmal gehörte ich dazu.
Am klarsten erinnern kann ich mich noch an ein Gespräch – bloß eine Abschweifung von irgendetwas anderem, ich weiß nicht mehr, was – über Henry V. Damals schien es nicht wichtig zu sein, aber später, als alles vorbei war, fiel es mir wieder ein.
»Der Mann war ein cholerischer Irrer«, sagte Rafe. Er und Abby und ich lagen wieder auf dem Boden, er hatte seinen Arm bei mir eingehakt. »Dieser ganze heroische Shakespeare-Kram war pure Propaganda. Heute würde Henry irgendeine Bananenrepublik mit ernsthaften Grenzproblemen und einem geheimen Atomprogramm regieren.«
»Ich mag Henry«, sagte Daniel, eine Zigarette im Mund. »So einen König könnten wir gebrauchen.«
»Monarchistischer Kriegstreiber«, sagte Abby Richtung Decke. »Bei der nächsten Revolution wird er an die Wand gestellt.«
»Weder die Monarchie noch der Krieg waren je das wirkliche Problem«, sagte Daniel. »Alle Gesellschaften haben immer Kriege geführt, das gehört zum Wesen der Menschheit, und wir hatten immer Herrscher – seht ihr wirklich einen so großen Unterschied zwischen einem mittelalterlichen Herrscher und einem modernen Präsidenten oder Premierminister, außer dass der König für seine Untertanen tendenziell leichter zugänglich war? Das eigentliche Problem entsteht, wenn die beiden Dinge, Monarchie und Krieg, sich voneinander abkoppeln. Bei Henry gab es da keine Trennung.«
»Du faselst«, sagte Justin. Er versuchte unter Schwierigkeiten, seinen Punsch zu trinken, ohne sich aufzusetzen oder zu bekleckern.
»Weißt du, was du brauchst?«, sagte Abby zu ihm. »Einen Strohhalm. Einen von diesen biegsamen.«
»Ja!«, sagte Justin begeistert. »Ich brauche einen biegsamen Strohhalm. Haben wir so welche?«
»Nein«, sagte Abby überrascht, woraufhin Rafe und ich aus irgendeinem Grund in haltloses, unwürdiges Gekicher ausbrachen.
»Ich fasele nicht«, sagte Daniel. »Seht euch die alten Kriege an, vor Jahrhunderten: Der König führte seine Männer in die Schlacht. Immer. Das machte den Herrscher aus: Sowohl auf praktischer Ebene als auch auf einer mystischen Ebene war er es, der vortrat, um seinen Stamm anzuführen, sein Leben für seine Leute aufs Spiel zu setzen, sich für ihre Sicherheit zu opfern. Wenn er sich geweigert hätte, diese entscheidende Rolle in diesem entscheidenden Moment auszufüllen, hätten sie ihn in Stücke gerissen – und mit Recht: Er hätte sich als Schwindler erwiesen, der kein Anrecht auf den Thron hat. Der König war das Land. Wie hätte er auch nur erwarten können, dass es ohne ihn in die Schlacht zieht? Aber heute … Könnt ihr euch irgendeinen modernen Präsidenten oder Premierminister an vorderster Front vorstellen, wo er seine Männer in den Krieg führt, den er angefangen hat? Und wenn diese körperliche und mystische Verbindung gekappt ist, wenn der Herrscher nicht mehr bereit ist, sich für sein Volk zu opfern, dann ist er kein Herrscher mehr, sondern ein Blutegel, der andere zwingt, sich für ihn in Gefahr zu bringen, während er in sicherer Entfernung bleibt und sich an ihren Verlusten mästet. Krieg wird zu einer scheußlichen Abstraktion, zu einem Spiel, das Bürokraten auf Papier austragen. Soldaten und Zivilisten verkommen zu Schachfiguren, die zu Abertausenden für Gründe geopfert werden, die nicht in der Wirklichkeit verwurzelt sind. Wir werden von korrupten Usurpatoren regiert, wir alle, und was sie auch anfassen, es entsteht nur Sinnlosigkeit.«
»Weißt du was?«, sagte ich und schaffte es, meinen Kopf ein paar Zentimeter vom Boden zu heben. »Ich versteh nur ungefähr ein Viertel von dem, was du da von dir gibst. Wie kannst du bloß dermaßen nüchtern sein?«
»Er ist nicht nüchtern«, sagte Abby mit Genugtuung. »Wenn er sich ereifert und Sermone hält, ist er betrunken. Musst du doch inzwischen wissen. Daniel ist verknöchert.«
»Das war kein Sermon«, sagte Daniel, aber er lächelte sie an, ein verschmitztes, blitzendes Grinsen. »Es war ein Monolog. Wenn Hamlet welche halten darf, wieso dann ich nicht?«
»Hamlets Sermone versteh ich wenigstens«, sagte ich quengelig. »Größtenteils.«
»Im Grunde sagt er nur«, schaltete Rafe sich ein, wobei er mir auf dem Kaminvorleger den Kopf zudrehte, so dass seine goldenen Augen nur Zentimeter von meinen entfernt waren, »dass Politiker überbewertet sind.«
Das Picknick auf dem Berg, vor einigen Monaten, Rafe und ich, wie wir Daniel, als er wieder mal über irgendetwas schwadronierte, mit Erdbeeren bewarfen. Ich schwöre, ich erinnerte mich genau: an den Geruch der Meeresluft, die Erschöpfung in den Beinen vom Aufstieg. »Alles ist überbewertet außer Elvis und Schokolade«, verkündete ich, hob mein Glas bedenklich hoch über den Kopf und hörte Daniels spontanes, unwiderstehliches Lachen.
Der Alkohol wirkte sich positiv auf Daniel aus. Er zauberte eine lebendige Röte auf seine Wangenknochen und ein Glimmen tief in seine Augen, lockerte seine Steifheit zu einer sicheren, animalischen Eleganz. Normalerweise war Rafe die Augenweide im Haus, aber in jener Nacht konnte ich den Blick nicht von Daniel losreißen. Zurückgelehnt zwischen den Kerzenflammen und den satten Farben und dem zerschlissenen Brokat des Sessels, ein leuchtend rotes Glas in der Hand, das dunkle Haar bis tief in die Stirn, sah er selbst aus wie ein alter Kriegsführer: ein Kaiser in seinem Bankettsaal, schimmernd und verwegen, auf einem Fest zwischen den Schlachten.
Die Schiebefenster waren zum nächtlichen Garten hin geöffnet. Motten wirbelten im Licht, Schatten überkreuzten sich, eine weiche, feuchte Brise spielte mit den Vorhängen. »Es ist doch Sommer«, sagte Justin unvermittelt, verblüfft, und schoss vom Sofa hoch. »Spürt ihr den Wind? Der ist warm. Es ist Sommer. Kommt, los, ab nach draußen«, und er stand schnell auf, zog Abby im Vorbeigehen an einer Hand mit sich und kletterte durchs Fenster auf die Terrasse.
Der Garten war dunkel und duftend und lebendig. Ich weiß nicht, wie lange wir da draußen waren, unter einem riesigen Vollmond. Rafe und ich hielten uns an den verschränkten Händen und drehten uns auf der Wiese im Kreis, bis wir atemlos und kichernd umfielen, Justin schaufelte mit beiden Händen Weißdornblütenblätter in die Luft, so dass sie wie Schnee auf uns niederfielen, Daniel und Abby tanzten barfuß einen langsamen Walzer unter den Bäumen, wie ein geisterhaftes Liebespaar auf einem längst vergangenen Ball. Ich schlug Räder und Saltos quer über die Wiese, zum Teufel mit meiner imaginären Naht, zum Teufel damit, ob Lexie geturnt hatte, ich konnte mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal so betrunken gewesen war, und ich fand es wundervoll. Ich wollte noch tiefer hineintauchen und niemals mehr nach oben kommen, um Luft zu holen, ich wollte den Mund öffnen und tief einatmen und an dieser Nacht ertrinken.
Irgendwann zwischendurch verlor ich die anderen. Ich lag auf dem Rücken im Kräutergarten, roch zerdrückte Minze und blickte zu Millionen taumelnden Sternen hinauf, allein. Ich hörte schwach, dass Rafe meinen Namen rief, irgendwo vor dem Haus. Nach einer Weile rappelte ich mich hoch und ging ihn suchen, aber die Schwerkraft war irgendwie tückisch geworden und das Gehen ein schwieriges Unterfangen. Ich tastete mich an der Mauer entlang, ließ eine Hand über Zweige und Efeu gleiten; ich hörte Zweige unter meinen nackten Füßen knacken, spürte aber nicht den Anflug von Schmerz.
Die Wiese lag weiß im Mondlicht. Musik strömte aus den offenen Fenstern, und Abby tanzte für sich allein auf dem Gras, drehte sich langsam im Kreis, die Arme ausgebreitet und das Gesicht zum gewaltigen Nachthimmel gehoben. Ich blieb bei der Nische stehen, schwang mit einer Hand eine lange Efeuranke und schaute Abby zu: das bleiche Wirbeln und Senken des Rocks, die Drehung des Handgelenks, wenn sie ihn hob, die Wölbung ihres nackten Fußes, das verträumte trunkene Schwingen des Halses zwischen den flüsternden Bäumen.
»Ist sie nicht wunderschön?«, sagte eine leise Stimme hinter mir. Ich war so betrunken, dass ich nicht mal erschrak. Es war Daniel, auf einer der Steinbänke unter dem Efeu, ein Glas in der Hand und eine Flasche neben sich auf den Steinplatten. Die Mondschatten verwandelten ihn in eine Marmorstatue. »Ich glaube, wenn wir alle alt und grau sind und allmählich wegdämmern, selbst wenn ich alles vergessen habe, was mein Leben je ausgemacht hat, werde ich mich so an sie erinnern.«
Ein rascher schmerzlicher Stich durchfuhr mich, aber ich konnte nicht verstehen, warum. Es war viel zu kompliziert, zu weit weg. »Ich will diese Nacht auch in Erinnerung behalten«, sagte ich. »Ich will sie mir eintätowieren, damit ich sie nicht vergesse.«
»Komm her«, sagte Daniel. Er stellte sein Glas ab, rutschte auf der Bank zur Seite, um mir Platz zu machen, und hielt mir eine Hand hin. »Komm her. Wir werden noch unzählige Nächte haben wie diese. Du kannst sie dutzendweise vergessen, wenn du willst. Wir werden mehr davon machen. Wir haben alle Zeit der Welt.«
Seine Hand war warm, stark. Er zog mich nach unten auf die Bank, und ich lehnte mich gegen ihn, diese feste Schulter, den Duft nach Zedern und sauberer Wolle, alles schwarz und silbern und unstet, und das Wasser murmelte unentwegt zu unseren Füßen. »Als ich dachte, wir hätten dich verloren«, sagte Daniel, »war es … « Er schüttelte den Kopf, holte rasch Luft, wie ein Keuchen. »Du hast mir gefehlt. Du ahnst gar nicht, wie sehr. Aber jetzt ist es gut. Alles wird gut.«
Er wandte sich mir zu. Seine Hand hob sich, Finger fassten in mein Haar, rau und zärtlich, glitten nach unten über meine Wange, malten die Kontur meiner Lippen nach.
Die Lichter des Hauses kreisten verschwommen und magisch wie die Lichter eines Karussells, ein heller, singender Ton hing über den Bäumen, der Efeu tanzte nach den Klängen einer Musik, die so süß war, dass ich es kaum ertragen konnte, und das Einzige, was ich in diesem Leben wollte, war hierbleiben. Das Mikro und den Draht abnehmen, in einen Umschlag stecken und per Post an Frank schicken und weg sein, leicht wie ein Vogel mein altes Leben abstreifen und hierher heimkehren. Wir wollten dich nicht verlieren, du Dussel, die anderen würden glücklich sein, und sie würden es nie erfahren müssen, solange wir lebten. Ich hatte ebenso viel Recht dazu wie die Tote, ich war ebenso sehr Lexie Madison, wie sie es je gewesen war. Mein Vermieter würde meine scheußlichen Büroklamotten in Müllsäcke stopfen, wenn die Miete ausblieb, da war nichts, was ich noch brauchen würde. Kirschblüten, die sanft auf die Zufahrt fielen, der stille Geruch alter Bücher, Feuerschein flackernd in den Eiskristallen an den Fensterscheiben zur Weihnachtszeit, und nichts würde sich je ändern, nur wir fünf in diesem von Mauern geschützten Garten, unendlich. Irgendwo im Hinterkopf schlug eine Trommel beschwörend ein Gefahrensignal, aber ich wusste, wie in einer Vision, dass das hier der Grund war, warum die Tote Abertausende von Meilen weit gereist war, um mich zu finden, das hier war von jeher der Grund für Lexie Madison gewesen: Sie hatte auf ihren Moment gewartet, um die Hand auszustrecken und meine zu ergreifen, mich die Steintreppe hinauf und durch diese Tür zu führen, nach Hause. Daniels Mund schmeckte nach Eis und Whiskey.
Wenn ich darüber nachgedacht hätte, hätte ich in Daniel einen ziemlich schlechten Küsser vermutet, irgendwie zu pedantisch. Seine Leidenschaft raubte mir den Atem. Als wir uns voneinander lösten, ich weiß nicht, wie viel später, schlug mein Herz wie verrückt.
Und jetzt, dachte ich mit einem klitzekleinen klaren Tropfen Verstand. Was passiert jetzt?
Daniels Mund, den ein winziges Lächeln umspielte, war ganz nah an meinem. Seine Hände lagen auf meinen Schultern, die Daumen fuhren sacht über die Linie meines Schlüsselbeins.
Frank hätte nicht mit der Wimper gezuckt. Ich kenne Undercovercops, die mit Gangstern ins Bett gegangen sind, die Leute zusammengeschlagen und sich Heroin gespritzt haben, alles im Namen des Jobs. Ich habe nie etwas gesagt, es ging mich nichts an, aber ich wusste, dass das Quatsch war. Es gibt immer noch einen anderen Weg, dein Ziel zu erreichen, wenn du bereit bist, ihn zu suchen. Sie haben diese Dinge getan, weil sie sie tun wollten und weil der Job ihnen eine Entschuldigung dafür lieferte.
In derselben Sekunde sah ich Sams Gesicht vor mir, die Augen groß und fassungslos, so klar, als stünde er direkt neben Daniel. Sein Blick hätte mich vor Scham zusammenfahren lassen müssen, aber ich spürte nur pure Frustration in mir aufwallen und so wild über meinem Kopf zusammenschlagen, dass ich schreien wollte. Er war wie ein riesengroßes Federbett, das mein Leben umhüllte und mich erstickte mit Urlaubsreisen und beschützenden Fragen und einer sanften, unerbittlichen Wärme. Ich wollte ihn mit einem einzigen ungestümen Ruck abwerfen und einen tiefen Zug kalte Luft einatmen, wieder ganz ich selbst.
Am Ende rettete mich das Mikro. Nicht das, was es empfangen könnte, so klar dachte ich nicht mehr, sondern Daniels Hände: Seine Daumen waren etwa fünf Zentimeter vom Mikro entfernt, das zwischen meinen Brüsten am BH klemmte. Von einem Schlag auf den anderen war ich wieder stocknüchtern. Ich war fünf Zentimeter davon entfernt, enttarnt zu werden.
»Sieh an, sieh an«, sagte ich, um Zeit zu schinden, und lächelte Daniel leicht an. »Es sind doch immer die Stillen.«
Er rührte sich nicht. Ich meinte, etwas in seinen Augen aufflackern zu sehen, konnte aber nicht erkennen, was. Mein Gehirn schien sich festgefahren zu haben: Ich hatte keine Ahnung, wie sich Lexie hier rausgeredet hätte. Und mich beschlich das böse Gefühl, dass sie es nicht getan hätte. Im Haus ertönte ein Krachen, die Terrassentür flog auf, und jemand kam herausgestürzt. Rafes schreiende Stimme war zu hören. »– du immer so ein Riesentheater wegen jeder Kleinigkeit machen musst –«
»Mein Gott, und das sagst ausgerechnet du. Es warst ja wohl du, der –«
Es war Justin, und seine Stimme bebte vor Wut. Ich sah Daniel an, riss die Augen weit auf, sprang hoch und lugte durch den Efeu. Rafe tigerte auf der Terrasse auf und ab, fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Justin lehnte an einer Wand, kaute heftig auf einem Fingernagel. Sie stritten noch immer, aber ihre Stimmen waren etwas leiser geworden, und ich konnte bloß ihren hektischen, aggressiven Tonfall hören. Justin hielt den Kopf gesenkt, das Kinn fast auf der Brust, und es sah aus, als würde er weinen.
»Scheiße«, sagte ich und warf Daniel einen kurzen Blick über die Schulter zu. Er saß noch immer auf der Bank. Sein Gesicht verschmolz mit dem Muster des Laubschattens, so dass ich seinen Ausdruck nicht sehen konnte. »Ich glaub, die haben drinnen irgendwas zerdeppert. Und Rafe sieht aus, als wollte er Justin eine reinhauen. Vielleicht sollten wir … ?«
Er stand langsam auf. Seine schwarzweiße Gestalt schien die Nische auszufüllen, groß und scharf umrissen und fremd. »Ja«, sagte er. »Ist wahrscheinlich besser.«
Er schob mich mit einer sanften, unpersönlichen Hand auf der Schulter beiseite und trat hinaus auf die Wiese. Abby lag auf dem Rücken im Gras, in einem Wirbel aus weißer Baumwolle. Sie sah aus, als schliefe sie tief und fest.
Daniel ging neben ihr auf ein Knie und strich ihr behutsam eine Haarlocke aus dem Gesicht. Dann richtete er sich wieder auf, wischte sich ein paar Grashalme von der Hose und ging zur Terrasse. Rafe schrie: »Leck mich doch!«, fuhr herum und stürmte ins Haus, knallte die Tür hinter sich zu. Justin weinte jetzt ganz offensichtlich.
Nichts davon ergab irgendeinen Sinn. Die ganze unbegreifliche Szene schien sich in langsamen, schiefen Kreisen abzuspielen, das Haus torkelte hilflos, und der Garten wogte wie Wasser. Ich merkte, dass ich doch nicht so nüchtern war, sondern im Gegenteil mächtig betrunken. Ich setzte mich auf die Bank und steckte den Kopf zwischen die Knie, bis die Dinge um mich herum zur Ruhe kamen.
Ich muss dann eingeschlafen oder ohnmächtig geworden sein, ich weiß es nicht. Ich hörte Rufen, irgendwo, aber es schien nichts mit mir zu tun haben, und ich reagierte nicht darauf.
Ein Krampf im Hals weckte mich. Es dauerte eine Weile, bis ich begriff, wo ich war: zusammengerollt auf der Steinbank, den Kopf in einem peinlichen Winkel nach hinten gegen die Mauer gelehnt. Meine Kleidung war feucht und kalt, und ich fröstelte.
Ich streckte mich, ganz vorsichtig, und stand auf. Schlechte Idee: Plötzlich drehte sich mir alles, ich musste mich am Efeu festhalten, um nicht umzukippen. Der Garten vor der Nische war grau geworden, ein stilles, gespenstisches, vordämmriges Grau, und kein Blatt bewegte sich. Einen Moment lang hatte ich Angst, dort hinauszutreten. Er sah aus wie ein Ort, dessen Ruhe nicht gestört werden sollte.
Abby war nicht mehr auf der Wiese. Das Gras war schwer von Tau, benetzte meine Füße und den Saum meiner Jeans. Ein Paar Socken, möglicherweise von mir, lag verknäuelt auf der Terrasse, aber ich hatte nicht die Energie, es aufzuheben. Die Terrassentür stand offen, und Rafe schlief auf dem Sofa, schnarchend, in einem Chaos aus vollen Aschenbechern und leeren Gläsern und verstreuten Kissen und dem Geruch von abgestandenem Punsch. Das Klavier war mit Glasscherben übersät, geschwungen und böse auf dem glänzenden Holz und den vergilbten Tasten, und auf der Wand darüber war eine tiefe frische Delle: Jemand hatte etwas geworfen, ein Glas oder einen Aschenbecher, und hatte es verflucht ernst gemeint. Ich schlich auf Zehenspitzen nach oben und kroch ins Bett, ohne mich vorher auszuziehen. Es dauerte lange, ehe ich aufhörte zu schlottern und einschlief.