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Die nächsten drei Tage hockte ich nicht die ganze Zeit vor der Glotze, wie ich zu Frank gesagt hatte. Ich kann sowieso nicht gut stillsitzen, und wenn ich nervös bin, muss ich mich bewegen. Also – ich habe mich ja für den Job entschieden, weil er so aufregend ist – machte ich sauber. Ich schrubbte, staubsaugte und wienerte jeden Quadratzentimeter meiner Wohnung, einschließlich Fußleisten und Backofen. Ich nahm die Vorhänge ab, wusch sie in der Wanne und hängte sie zum Trocknen an die Feuerleiter. Ich legte meine Bettdecke über die Fensterbank und klopfte mit einem Pfannenwender den Staub heraus. Ich hätte die Wände neu gestrichen, wenn ich Farbe gehabt hätte. Ich spielte sogar mit dem Gedanken, meine bescheuerte Verkleidung überzuziehen und den nächsten Baumarkt aufzusuchen, aber ich hatte Frank versprochen, nicht vor die Tür zu gehen, also putzte ich stattdessen die Rückseite des Spülkastens.
Und ich dachte darüber nach, was Frank zu mir gesagt hatte: aber doch nicht bei dir … Nach dem Knocknaree-Fall hatte ich mich versetzen lassen. Im Vergleich zum Morddezernat ist das Dezernat für häusliche Gewalt zwar keine große Herausforderung, aber bei Gott, es ist friedlich, so seltsam die Wortwahl vielleicht auch anmutet, ich weiß. Entweder hat einer einen anderen geschlagen oder nicht, so einfach ist das, und es geht nur darum herauszufinden, wer es war und wie er in Zukunft daran gehindert werden kann. Das DHG ist unkompliziert, und es ist unzweifelhaft nützlich, und genau das brauchte ich, dringend. Ich war hohe Risiken und moralische Dilemmas und Komplikationen so verdammt satt.
Aber doch nicht bei dir; bist du etwa’n Schreibtischhengst geworden? Mein hübsches Arbeitskostüm, das gebügelt und für Montag anziehbereit an der Kleiderschranktür hing, bereitete mir ein mulmiges Gefühl. Schließlich konnte ich es nicht mehr sehen. Ich warf es in den Schrank und knallte die Tür zu.
Und natürlich musste ich die ganze Zeit, bei allem, was ich gerade tat, an die Tote denken. Ich hatte das Gefühl, in ihrem Gesicht hätte es irgendeinen Anhaltspunkt geben müssen, irgendeine geheime Botschaft in einem Code, den ich allein hätte entschlüsseln können, wenn ich nur einen klaren Kopf behalten oder die Zeit gehabt hätte, ihn zu entdecken. Wäre ich noch im Morddezernat gewesen, hätte ich mir eine Fotografie vom Tatort oder eine Kopie vom Studentenausweis unter den Nagel gerissen, um sie mir zu Hause in Ruhe anzuschauen. Sam hätte mir eine vorbeigebracht, wenn ich drum gebeten hätte, aber das tat ich nicht.
Irgendwo da draußen, irgendwann in diesen drei Tagen würde Cooper die Obduktion vornehmen. Der Gedanke machte mich kirre.
Ich war noch nie jemandem begegnet, der mir auch nur annähernd ähnlich sah. In Dublin wimmelt es nur so von unheimlichen Frauen, die in Wahrheit, das schwöre ich hoch und heilig, ein und dieselbe Person sind oder zumindest das Produkt derselben Selbstbräunertube. Ich dagegen bin vielleicht keine Fünfsternefrau, aber dafür bin ich unverwechselbar. Der Vater meiner Mutter war Franzose, und irgendwie hat die Kombination aus Französisch und Irisch etwas Spezielles und ziemlich Markantes hervorgebracht. Ich habe keine Geschwister; was ich vor allem habe, sind Tanten, Onkel und eine große, fröhliche Schar Cousins und Cousinen, und von denen hat niemand auch nur die geringste Ähnlichkeit mit mir.
Meine Eltern starben, als ich fünf war. Meine Mutter war Varietésängerin, er war Journalist, er fuhr sie in einer nassen Dezembernacht nach Hause, und sie kamen auf einem Stück rutschiger Fahrbahn von der Straße ab. Ihr Auto überschlug sich dreimal – er war vermutlich viel zu schnell gefahren – und blieb mit dem Dach nach unten auf einem Feld liegen, bis ein Farmer die Scheinwerfer bemerkte und nachsehen ging. Mein Vater starb am Tag darauf, meine Mutter noch im Rettungswagen. Ich erzähle die Sache möglichst früh, wenn ich neue Leute kennenlerne, um sie aus dem Weg zu haben. Alle, die es erfahren, kriegen entweder kein Wort mehr raus oder werden unerträglich sentimental (»Sie fehlen dir bestimmt ganz schrecklich«), und je besser wir uns kennen, desto länger muss das sentimentale Stadium ihrer Meinung nach dauern. Ich weiß nie, was ich darauf antworten soll, zumal ich damals erst fünf war und es über fünfundzwanzig Jahre her ist. Ich glaube, ich darf von mir behaupten, mehr oder weniger darüber hinweg zu sein. Ich wünschte, ich könnte mich noch gut genug an sie erinnern, um sie zu vermissen, aber im Grunde kann ich nur die Vorstellung vermissen, und manchmal auch noch die Lieder, die meine Mutter mir vorgesungen hat, und davon erzähle ich anderen nichts.
Ich hatte Glück. Tausende andere Kinder in so einer Situation fallen durch das soziale Netz, landen in Pflegefamilien oder in horrormäßigen Heimen. Aber auf dem Weg zu dem Auftritt meiner Mutter hatten meine Eltern mich nach Wicklow zur Schwester meines Vaters und ihrem Mann gebracht, wo ich übernachten sollte. Ich erinnere mich noch an Telefonklingeln mitten in der Nacht, schnelle Schritte auf der Treppe und beschwörendes Tuscheln in der Diele, ein Auto, das losfuhr, an das Kommen und Gehen von Leuten in den Tagen danach, und dann nahm Tante Louisa mich mit ins dämmrige Wohnzimmer und erklärte mir, dass ich noch eine Weile länger bei ihnen bleiben würde, weil meine Eltern nicht wiederkommen würden.
Sie war deutlich älter als mein Vater, und sie und Onkel Gerard haben keine Kinder. Er ist Historiker. Sie spielen gern Bridge. Ich glaube, sie konnten sich nie so richtig daran gewöhnen, dass ich fortan bei ihnen lebte – sie gaben mir das Gästezimmer mit Doppelbett und kleinen zerbrechlichen Nippsachen und einem wenig kindgerechten Kunstdruck der Geburt der Venus und blickten leicht besorgt, als ich in das Alter kam, wo ich eigene Poster aufhängen wollte. Aber zwölfeinhalb Jahre lang ernährten sie mich, schickten mich zur Schule und in Gymnastikkurse und zum Musikunterricht, tätschelten mir jedes Mal, wenn ich in Reichweite kam, vage, aber liebevoll den Kopf und ließen mich in Ruhe. Im Gegenzug achtete ich darauf, dass sie es nicht erfuhren, wenn ich die Schule schwänzte, von irgendwas runterfiel, wo ich gar nicht hätte draufklettern sollen, nachsitzen musste oder mit dem Rauchen anfing.
Ich hatte – das scheint dann alle noch mal zu schockieren – eine glückliche Kindheit. In den ersten paar Monaten verkroch ich mich, sooft es ging, hinten im Garten, heulte, bis ich brechen musste, und beschimpfte die Kinder aus der Nachbarschaft, wenn sie sich mit mir anfreunden wollten. Aber Kinder sind pragmatisch, sie überstehen gesund und munter noch erheblich schlimmere Sachen als das Schicksal, Waisenkind zu werden, und auch ich konnte nur eine begrenzte Zeit Widerstand gegen die Einsicht leisten, dass nichts meine Eltern zurückbringen würde, und gegen die zahllosen lebendigen Dinge um mich herum, wie Emma von nebenan, die sich über die Mauer hängte, und mein neues Fahrrad, das rot in der Sonne funkelte, und die halbwilden Kätzchen im Gartenschuppen, die unaufhörlich in Bewegung waren, während sie darauf warteten, dass ich wach wurde und rauskam, um mit ihnen zu spielen. Ich kam früh dahinter, dass du dein Leben wegwerfen kannst, wenn du immer nur Verlorenem nachtrauerst.
Ich entwöhnte mich mittels einer Sehnsucht, die wie Methadon wirkte (macht nicht so abhängig, ist nicht so offensichtlich, und man wird nicht so leicht verrückt davon): Ich vermisste das, was ich nie gehabt hatte. Wenn meine neuen Freundinnen und ich am Kiosk Schokoriegel kauften, verwahrte ich immer die Hälfte von meinem für meine imaginäre Schwester (ich versteckte sie unten in meinem Schrank, wo sie sich in klebrige Pfützen verwandelten und in meine Schuhe tropften). Ich ließ im Doppelbett Platz für sie, wenn nicht Emma oder jemand anders bei mir schlief. Wenn der fiese Billy MacIntyre, der in der Schule hinter mir saß, Rotze in meine Zöpfe schmierte, verprügelte mein imaginärer Bruder ihn, bis ich lernte, das selbst zu erledigen. In meiner Phantasie schauten Erwachsene uns an, drei identische dunkle Köpfe nebeneinander, und sagten: Na, dass das Geschwister sind, erkennt man aber auf den ersten Blick, sie sehen sich zum Verwechseln ähnlich, nicht?
Ich war dabei nicht auf Zuneigung aus, nein. Ich wollte einfach zu jemandem gehören, zweifelsfrei und unbestreitbar, zu jemandem, bei dem jeder Blick eine Garantie, ein zuverlässiger Beweis dafür war, dass wir ein Leben lang aneinander gebunden waren. Auf Fotos kann ich eine Ähnlichkeit mit meiner Mutter erkennen, zu sonst niemandem. Ich weiß nicht, ob Sie sich das vorstellen können. Alle meine Schulfreundinnen hatten die Familiennase oder die Haare ihres Vaters oder die gleichen Augen wie ihre Schwestern. Selbst Jenny Bailey, die adoptiert war, sah aus, als wäre sie die Cousine vom Rest der Klasse – das waren die Achtziger, alle in Irland waren auf die eine oder andere Art miteinander verwandt. Ohne das aufzuwachsen, war für mich als Kind, auf der Suche nach Dingen, die mir Angst machten, gleichsam, als hätte ich kein Spiegelbild. Es gab keinen Beweis dafür, dass ich das Recht hatte, überhaupt da zu sein. Ich hätte Gott weiß woher kommen können, abgeworfen von Außerirdischen, ausgetauscht von Elfen, von der CIA in der Retorte kreiert, und wenn sie eines Tages auftauchten, um mich zurückzuholen, gäbe es nichts auf der Welt, um mich hier zu halten.
Wenn diese mysteriöse junge Frau eines Morgens in meine Klasse spaziert wäre, damals, hätte mich das zum glücklichsten Menschen auf Erden gemacht. Da sie das aber nicht tat, wurde ich erwachsen, riss mich am Riemen und dachte nicht mehr drüber nach. Jetzt hatte ich mit einem Mal das allerbeste Spiegelbild von allen, und es gefiel mir absolut nicht. Ich hatte mich daran gewöhnt, einfach nur ich zu sein, ohne Verbindung zu irgendwem. Diese Frau war eine Verbindung wie eine Handschelle, die mir aus heiterem Himmel angelegt worden war und so eng saß, dass sie mir bis auf den Knochen schnitt.
Und ich wusste, wie sie sich die Lexie-Madison-Identität zugelegt hatte. Ich hatte es vor Augen, klar und hart wie gebrochenes Glas, so deutlich, als wäre es mir selbst passiert, und auch das gefiel mir nicht. Irgendwo in der Stadt, an der Theke in einem überfüllten Pub oder beim Durchsehen von Klamotten in einem Laden, und plötzlich hinter ihr: Lexie? Lexie Madison? Mein Gott, wir haben uns ja eine Ewigkeit nicht gesehen! Und danach ging es dann nur noch darum, behutsam vorzugehen und die richtigen beiläufigen Fragen zu stellen (Es ist schon so lange her, ich weiß nicht mal mehr genau, was ich damals gemacht hab, als wir uns zuletzt gesehen haben, du?), sich feinfühlig an alles ranzutasten, was sie wissen musste. Sie war kein Dummkopf gewesen, diese junge Frau.
Viele Mordfälle entwickeln sich zu erbitterten, ermüdenden geistigen Wettkämpfen, aber diesmal war es anders. Zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, dass mein eigentlicher Gegner nicht der Mörder war, sondern die Tote: trotzig, mit aller Kraft ihre Geheimnisse festhaltend und mir in jeder Beziehung ebenbürtig, praktisch Kopf an Kopf.
Gegen Mittag am Samstag hatte ich mich selbst so verrückt gemacht, dass ich schließlich auf die Arbeitsplatte in der Küche kletterte, den Schuhkarton mit meinem offiziellen Kram vom Schrank holte, den Inhalt auf den Boden kippte und meine Geburtsurkunde hervorkramte. Maddox, Cassandra Jeanne, weiblich, dreitausendvier Gramm. Art der Geburt: Einzelgeburt.
»Du Idiot«, sagte ich laut und kletterte wieder auf die Arbeitsplatte.
Am selben Nachmittag kam Frank mich besuchen. Zu dem Zeitpunkt fiel mir bereits die Decke auf den Kopf – meine Wohnung ist klein, ich hatte alles geputzt, was sich putzen ließ –, so dass ich tatsächlich froh war, seine Stimme über die Gegensprechanlage zu hören.
»Welches Jahr haben wir?«, fragte ich, als er oben an der Treppe war. »Wer ist Präsident?«
»Hör auf zu jammern«, sagte er und umarmte mich ungelenk. »Du hast diese ganze, wunderhübsche Wohnung zum Spielen. Du könntest ein Scharfschütze sein, der in einem Versteck auf der Lauer liegt, tagelang keinen Muskel bewegen darf und in eine Flasche pinkeln muss. Und ich hab dir Verpflegung mitgebracht.«
Er reichte mir eine Einkaufstüte. Lauter Grundnahrungsmittel: Schokokekse, Zigaretten, Kaffeepulver und zwei Flaschen Wein. »Du bist ein Juwel, Frank«, sagte ich. »Du kennst mich zu gut.« Das stimmte auch; nach vier Jahren wusste er immer noch, dass ich Lucky Strike Lights rauchte. Das Gefühl war nicht gerade beruhigend, aber das war auch nicht seine Absicht gewesen.
Frank hob unverbindlich eine Augenbraue. »Hast du einen Korkenzieher?«
Meine Antennen fuhren aus, aber ich kann einiges an Alkohol vertragen, und Frank wusste ja wohl, dass ich nicht so blöd war, mich mit ihm zusammen zu betrinken. Ich warf ihm einen Korkenzieher zu und kramte nach Gläsern.
»Nette Bude hast du hier«, sagte er, während er an der ersten Flasche herumhantierte. »Ich hatte schon befürchtet, du wohnst jetzt in so einer Schickimicki-Hochglanzwohnung.«
»Mit meinem Polizistengehalt?« Die Immobilienpreise in Dublin sind fast so wie in New York, nur dass du in New York für dein Geld obendrein New York kriegst. Meine Wohnung ist ein mittelgroßer Raum im obersten Stock eines großen, umgebauten Jahrhundertwendehauses. Sie hat noch den originalen schmiedeeisernen Kamin, genügend Platz für einen Futon und ein Sofa und alle meine Bücher, einen Fußboden, der in einer Ecke so schief ist, dass einem schwindelig wird, eine Eulenfamilie unter dem Dach und Blick auf den Strand von Sandymount. Mir gefällt sie.
»Mit den Gehältern von zwei Polizisten. Bist du nicht mit diesem Sammy-Boy zusammen?«
Ich setzte mich auf den Futon und hielt ihm die Gläser zum Einschenken hin. »Erst seit ein paar Monaten. Das In-Sünde-Leben war bis jetzt noch kein Thema.«
»Ich hätte gedacht, länger. Er kam mir am Donnerstag ganz schön beschützerisch vor. Ist es wahre Liebe?«
»Das geht dich nichts an«, sagte ich und stieß mit ihm an. »Zum Wohl. Also: Was machst du hier?«
Frank blickte gekränkt. »Ich hab gedacht, du könntest Gesellschaft gebrauchen. Ich hatte plötzlich ein schlechtes Gewissen, weil ich dich hier eingesperrt habe, so ganz allein … « Ich warf ihm einen bösen Blick zu. Er merkte, dass das bei mir nicht zog, und grinste. »Du bist cleverer, als dir guttut, weißt du das? Ich wollte nicht, dass du Hunger kriegst oder dich langweilst oder nach Zigaretten gierst und dann die Wohnung verlässt, um einkaufen zu gehen. Die Chance, dass dich jemand sieht, der unser Mädel kennt, liegt zwar bei eins zu tausend, aber warum das Risiko eingehen?«
Das klang durchaus plausibel, aber Frank hatte schon immer die Art, in alle Richtungen gleichzeitig Köder auszuwerfen, um dich von dem Haken in der Mitte abzulenken. »Ich hab noch immer nicht vor, es zu tun, Frankie«, sagte ich.
»In Ordnung«, sagte Frank ungerührt. Er trank einen kräftigen Schluck Wein und machte es sich auf dem Sofa bequem. »Ich hatte übrigens eine Unterhaltung mit den hohen Tieren, und der Fall ist jetzt offiziell eine gemeinschaftliche Ermittlung: Morddezernat und Undercover. Aber das hat dir dein Freund ja wahrscheinlich schon erzählt.«
Hatte er nicht. Sam hatte die letzten zwei Nächte in seiner eigenen Wohnung geschlafen (»Ich muss um sechs aufstehen, ich würde dich nur wach machen. Es sei denn, du hättest gern, dass ich bei dir bin. Kommst du allein klar?«). Ich hatte ihn seit unserem Treffen am Tatort nicht mehr gesehen. »Ich bin sicher, alle sind begeistert«, sagte ich. Gemeinschaftliche Ermittlungen sind ein einziges Kreuz. Sie bleiben unvermeidlich in endlosen, sinnlosen Testosteronrangeleien stecken.
Frank zuckte die Achseln. »Sie werden drüber wegkommen. Willst du hören, was wir bisher über die Tote wissen?«
Natürlich wollte ich. Ich wollte es so sehr, wie ein Alkoholiker Schnaps will: dringend genug, um das knallharte Wissen zu verdrängen, dass das eine wahrhaft saumäßige Idee war. »Würde sich anbieten«, sagte ich. »Wo du schon mal da bist.«
»Wunderbar«, sagte Frank, während er in der Einkaufstüte nach den Zigaretten stöberte. »Also: Sie taucht erstmals im Februar 2002 auf, als sie sich eine Geburtsurkunde auf den Namen Alexandra Madison verschafft und damit ein Bankkonto eröffnet. Mit der Geburtsurkunde, dem Kontobeleg und ihrem Gesicht verschafft sie sich deine alten Studienunterlagen vom UCD und schreibt sich damit am Trinity ein, um in Anglistik zu promovieren.«
»Raffiniert«, sagte ich.
»Allerdings. Raffiniert, kreativ und überzeugend. Sie hat das alles mit links hingekriegt; ich hätte es nicht besser machen können. Sie hat sich nie arbeitslos gemeldet, was clever war. Hat dafür den Sommer über in einem Café gekellnert, dann im Oktober am Trinity angefangen. Das Thema ihrer Dissertation lautet – das wird dir gefallen – ›Andere Stimmen: Identität, Täuschung und Wahrheit‹. Es geht um Frauen, die unter Pseudonym geschrieben haben.«
»Allerliebst«, sagte ich. »Sie hatte also Humor.«
Frank sah mich fragend an. »Wir müssen sie nicht mögen, Cass«, sagte er nach einem Moment. »Wir müssen bloß rausfinden, wer sie ermordet hat.«
»Du musst das. Ich nicht. Hast du noch mehr?«
Er klemmte sich eine Zigarette zwischen die Lippen und griff nach seinem Feuerzeug. »Okay, sie ist also am Trinity. Sie freundet sich mit vier anderen Doktoranden der Anglistik an, ist fast ausschließlich mit ihnen zusammen. Letzten September erbt einer von ihnen ein Haus von seinem Großonkel, und sie ziehen alle zusammen da ein. Whitethorn House, so heißt es. Liegt bei Glenskehy, eine gute halbe Meile von dem Cottage entfernt, wo sie gefunden wurde. Am Mittwochabend geht sie spazieren und kommt nicht zurück. Die anderen vier geben sich gegenseitig ein Alibi.«
»Was du mir alles auch am Telefon hättest erzählen können«, sagte ich.
»Tja«, sagte Frank und kramte in seiner Jackentasche, »aber dann hätte ich dir die hier nicht zeigen können. Voilà: die Fantastischen Vier. Ihre Mitbewohner.« Er holte eine Handvoll Fotos hervor und breitete sie auf dem Tisch aus.
Eines davon war ein Schnappschuss, entstanden an einem Wintertag, blassgrauer Himmel und ein Hauch Schnee auf der Erde: fünf junge Leute vor einem großen Herrenhaus, die Köpfe zusammengeneigt und die Haare vom wirbelnden Wind zur Seite geweht. Lexie stand in der Mitte, eingepackt in derselben Wolljacke und lachend, und mein Verstand machte wieder diesen wilden Schlenker: Wann war ich … ? Frank beobachtete mich wie ein Jagdhund. Ich legte das Foto wieder hin.
Die anderen Aufnahmen waren Standbilder von einem Privatvideo – so sahen sie jedenfalls aus, verschwommene Ränder, wenn Personen sich bewegten –, die im Morddezernat ausgedruckt worden waren: Der Drucker hinterlässt immer einen Streifen quer über die rechte obere Ecke. Vier Ganzkörperfotos, vier vergrößerte Porträts, alle in demselben Raum vor derselben schäbigen, gestreiften Blümchentapete. Auf zwei der Fotos war in der Ecke ein großer, ungeschmückter Tannenbaum zu sehen: kurz vor Weihnachten.
»Daniel March«, sagte Frank und zeigte auf ein Foto. »Nicht Dan oder gar Danny. Nein: Daniel. Er hat das Haus geerbt. Einzelkind, verwaist, aus einer alten angloirischen Familie. Der Großvater hat in den Fünfzigern fast das ganze Familienvermögen mit riskanten Geschäften verloren, aber es ist noch genug da, um Danny-Boy ein kleines Einkommen zu sichern. Er hat ein Stipendium, muss also keine Studiengebühren zahlen. Er schreibt seine Diss über, jetzt halt dich fest, ›Das leblose Objekt als Erzähler in der Epik des frühen Mittelalters‹.«
»Offenbar kein Idiot«, sagte ich. Daniel war ein kräftiger Typ, gut über eins achtzig und entsprechend gebaut, mit glänzendem dunklen Haar und kantiger Kinnpartie. Er saß in einem Lehnsessel, hob gerade vorsichtig eine Glaskugel aus einer Schachtel und blickte hoch in die Kamera. Seine Kleidung – weißes Hemd, schwarze Hose, weicher grauer Pullover – sah teuer aus. In der Nahaufnahme waren seine Augen hinter der Nickelbrille grau und kalt wie Stein.
»Eindeutig kein Idiot. Sind sie alle nicht, aber er ganz besonders. Bei dem musst du aufpassen.«
Ich überging die Bemerkung. »Justin Mannering«, sagte Frank beim nächsten Foto. Justin hatte sich in einer Weihnachtslichterkette verheddert und starrte hilflos auf das Chaos. Auch er war groß gewachsen, aber auf eine schmale, verfrüht professorale Art: kurzes mausbraunes Haar, schon mit Ansatz zur Stirnglatze, kleine randlose Brille, langes, sanftes Gesicht. »Aus Belfast. Promoviert über ›Sakrale und profane Liebe in der Literatur der Renaissance‹, was immer unter ›profaner Liebe‹ auch zu verstehen ist. Klingt für mich, als würde sie ein paar Euro die Minute kosten. Mutter gestorben, als er sieben war, Vater wieder verheiratet, zwei Halbbrüder, Justin fährt nicht oft nach Hause. Aber Daddy – Daddy ist Anwalt – zahlt ihm noch immer die Studiengebühren und schickt ihm jeden Monat Geld. Manche haben ein Schwein, was?«
»Sie können nichts dafür, wenn ihre Eltern Geld haben«, sagte ich nachdenklich.
»Sie könnten sich schließlich einen Job besorgen, oder nicht? Lexie hat Tutorenkurse gegeben, Hausarbeiten korrigiert, bei Klausuren Aufsicht geführt – sie hat gekellnert, bis sie raus nach Glenskehy gezogen sind und die Fahrerei zu kompliziert wurde. Hast du während des Studiums gejobbt?«
»Ich hab auch gekellnert, in einer Bar, und es war ätzend. Ich hätte es nie im Leben gemacht, wenn ich nicht gemusst hätte. Dir von betrunkenen Steuerberatern in den Hintern kneifen zu lassen macht dich nicht unbedingt zu einem besseren Menschen.«
Frank zuckte die Achseln. »Ich kann Leute nicht leiden, die alles geschenkt kriegen. Apropos: Raphael Hyland, genannt Rafe. Sarkastischer kleiner Scheißer. Daddy ist Banker, ursprünglich aus Dublin, in den Siebzigern nach London gezogen. Mummy ist eine Gesellschaftstussi. Sie haben sich scheiden lassen, als Sohnemann sechs war, haben ihn schnurstracks ins Internat abgeschoben, alle zwei Jahre auf ein besseres, wenn Daddy mal wieder eine Gehaltserhöhung kriegte. Rafe lebt von seinem Treuhandfonds. Schreibt seine Diss über ›Die Figur des Unzufriedenen im jakobinischen Drama‹.«
Rafe lag wunderbar dekorativ ausgestreckt auf einem Sofa, in der Hand ein Glas Wein und auf dem Kopf eine Weihnachtsmannmütze. Er war geradezu lächerlich schön, und zwar auf die Art, die bei vielen Männern den panischen Drang auslöst, mit betont tiefer Stimme abfällige Bemerkungen von sich zu geben. Er hatte die gleiche Größe und Statur wie Justin, aber sein Gesicht bestand aus lauter Knochen und markanten Winkeln, und er war von Kopf bis Fuß golden: dichtes, dunkelblondes Haar, so ein Teint, der immer leicht gebräunt aussieht, Augen von einer Farbe wie dunkler Eistee und stechend wie die eines Habichts. Ich musste an eine Maske aus dem Grab eines ägyptischen Fürsten denken.
»Wow«, sagte ich. »Mit einem Mal kommt mir der Fall um einiges verlockender vor.«
»Wenn du brav bist, erfährt dein Freund von mir nicht, dass du das gesagt hast. Der Typ ist wahrscheinlich sowieso eine Schwuchtel«, sagte Frank entsetzlich vorhersehbar. »Zu guter Letzt: Abigail Stone. Genannt Abby.«
Abby war nicht direkt hübsch – klein, mit schulterlangem braunen Haar und einer Stupsnase –, aber ihr Gesicht hatte etwas: Der Schwung ihrer Augenbrauen und ein gewisser Zug um den Mund verliehen ihr eine besondere Ausstrahlung, die einen zweimal hinschauen ließ. Sie saß vor dem Kamin, in dem ein Torffeuer brannte, und fädelte Girlanden aus Popcorn auf, doch sie warf der Person mit der Kamera – Lexie vermutlich – einen schiefen Blick zu, und da ihre freie Hand verschwommen war, nahm ich an, dass sie gerade ein Popcorn in Richtung Kamera geworfen hatte.
»Bei ihr sieht die Sache ganz anders aus«, sagte Frank. »Aus Dublin, Vater nie in Erscheinung getreten, Mutter hat sie in eine Pflegefamilie abgeschoben, als sie zehn war. Abby hat ein Eins-a-Abschlusszeugnis gemacht, einen Studienplatz am Trinity ergattert, sich krummgelegt und ein Bombenexamen geschafft. Jetzt promoviert sie über die Klassengesellschaft in der viktorianischen Literatur. Hat ihr Studium mit Putzjobs und Nachhilfe finanziert. Jetzt, wo sie keine Miete zahlen muss – Daniel verlangt keine –, verdient sie sich mit Tutorenkursen am College was dazu und mit Recherchen für ihren Professor. Ihr werdet euch gut verstehen.«
Selbst auf diesen spontanen Schnappschüssen hatten alle vier etwas an sich, das einen dazu brachte, sie länger anschauen zu wollen. Zum Teil lag das an der Bilderbuchidylle des Ganzen – ich konnte fast die Zimtsterne im Backofen riechen und Sternsinger im Hintergrund hören, sie waren praktisch nur einen Tannenzweig von einer Weihnachtskarte entfernt. Zum Teil war es die Art, wie sie gekleidet waren, schmucklos, fast puritanisch: die Hemden der Männer blendend weiß, messerscharfe Bügelfalten in ihren Hosen, Abbys langer Wollrock, den sie züchtig unter die Knie geklemmt hatte, nicht ein Logo oder ein Slogan in Sicht. Zu meiner Studienzeit sahen unsere Klamotten immer so aus, als wären sie einmal zu oft in einem schmierigen Waschsalon mit billigem Waschmittel gewaschen worden, was auch der Fall war. Diese vier waren so makellos, dass es beinahe unheimlich war. Einzeln betrachtet, hätten sie vielleicht unauffällig gewirkt, ja langweilig, inmitten der Dubliner Designerlabel-Selbstdarstellungsorgie, aber gemeinsam hatten sie einen kühlen, herausfordernden Viererblick, der sie nicht nur exzentrisch machte, sondern fremdartig, wie aus einem anderen Jahrhundert, entrückt und beeindruckend. Wie die meisten Detectives – und das wusste Frank, natürlich wusste er das – war ich noch nie imstande, die Augen von etwas abzuwenden, worauf ich mir keinen Reim machen kann.
»Interessante Truppe«, sagte ich.
»Eine merkwürdige Truppe, das sind sie, nach dem, was ihre Kommilitonen so sagen. Die vier haben sich gleich zu Anfang des Studiums kennengelernt, vor gut sieben Jahren. Seitdem sind sie unzertrennlich, keine Zeit für andere Leute. Sie sind nicht besonders beliebt an der Fakultät – die anderen Studenten halten sie für arrogant, Überraschung. Aber irgendwie hat unser Mädel bei ihnen Anschluss gefunden, gleich nachdem sie am Trinity angefangen hat. Es haben auch andere versucht, sich mit ihr anzufreunden, aber sie war nicht interessiert. Sie hatte es auf die vier da abgesehen.«
Ich konnte verstehen, warum, und das machte sie mir sympathischer, ein kleines bisschen. Wie sie auch sonst gewesen sein mochte, sie hatte einen guten Geschmack gehabt. »Was hast du ihnen erzählt?«
Frank grinste. »Nachdem sie in dem Cottage das Bewusstsein verloren hatte, ist sie vor Schock und Kälte in ein hypothermisches Koma gefallen. Die Folge war eine Verlangsamung des Herzschlags – so dass man sie leicht für tot hätte halten können, richtig? –, was übermäßigen Blutverlust und Organschädigung verhinderte. Cooper meint, das ist ›medizinisch haarsträubend, aber für jemanden ohne medizinische Kenntnisse möglicherweise glaubhaft‹, womit ich gut leben kann. Bisher hat anscheinend keiner ein Problem damit.«
Er zündete sich eine Zigarette an und blies Rauchkringel an die Decke. »Sie ist noch immer ohne Bewusstsein, und es steht auf Messers Schneide, aber sie hat eine Chance. Man kann nie wissen.«
Ich ging nicht darauf ein. »Sie werden sie sehen wollen«, sagte ich.
»Sie haben schon darum gebeten. Leider können wir aus Sicherheitsgründen zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht verraten, in welchem Krankenhaus sie liegt.«
Die Sache machte ihm sichtlich Spaß. »Wie haben sie es aufgenommen?«, fragte ich.
Frank überlegte einen Moment, den Kopf gegen die Sofalehne gelegt, bedächtig rauchend. »Sie waren fix und fertig«, sagte er schließlich, »verständlicherweise. Allerdings bleibt offen, ob sie alle vier so fertig sind, weil sie niedergestochen wurde, oder ob einer von ihnen so fertig ist, weil sie durchkommen und uns erzählen könnte, was passiert ist. Sie sind äußerst kooperativ, beantworten alle unsere Fragen, kein Zögern, nichts dergleichen. Erst im Nachhinein merkst du dann, dass sie dir eigentlich gar nicht viel erzählt haben. Sie sind wirklich eine seltsame Truppe, Cass, schwer zu durchschauen. Ich würde zu gern wissen, was du von ihnen hältst.«
Ich schob die Fotos zusammen und gab sie Frank zurück. »Okay«, sagte ich. »Warum hast du es noch mal für nötig befunden, herzukommen und mir die Fotos zu zeigen?«
Er zuckte die Achseln, machte große unschuldige blaue Augen. »Um herauszufinden, ob du vielleicht einen von ihnen wiedererkennst. Das könnte einen ganz neuen Ermittlungsansatz –«
»Tu ich nicht. Spuck’s aus, Frankie. Was willst du?«
Frank seufzte. Er richtete den Stapel exakt bündig aus und schob ihn wieder in seine Jackentasche.
»Ich will wissen«, sagte er leise, »ob ich hier meine Zeit vergeude. Ich muss wissen, ob du hundertprozentig sicher bist, dass du am Montagmorgen wieder ins DHG gehen und das hier vergessen willst.«
Das Lachen und die Fassade waren komplett aus seiner Stimme verschwunden, und ich kannte Frank gut genug, um zu wissen, dass er dann am gefährlichsten war. »Ich bin nicht sicher, ob ich die Wahl habe, es zu vergessen«, sagte ich vorsichtig. »Die Sache hat mich aus der Bahn geworfen. Sie gefällt mir nicht, und ich will nicht da reingezogen werden.«
»Bist du sicher? Ich hab mir nämlich die letzten zwei Tage den Arsch aufgerissen, jeden, der mir über den Weg gelaufen ist, nach Lexie Madison ausgefragt –«
»Was ohnehin getan werden musste. Hör auf, mir ein schlechtes Gewissen einzureden.«
»– und wenn du absolut sicher bist, dann bringt es nichts, noch mehr von deiner und meiner Zeit zu vergeuden, indem du mich weiter bloß bei Laune hältst.«
»Ich sollte dich doch bei Laune halten«, stellte ich klar. »Nur drei Tage, ohne jede Verpflichtung, blablabla.«
Er nickte nachdenklich. »Und was anderes machst du auch nicht, du hältst mich bei Laune. Du bist glücklich und zufrieden im DHG. Du bist dir sicher.«
Die Wahrheit ist, dass Frank – er hat ein Talent dafür – einen Nerv getroffen hatte. Vielleicht lag es an dem Wiedersehen mit ihm, an seinem Grinsen und dem flotten Rhythmus seiner Stimme, dass ich mich schlagartig zurückversetzt fühlte in die Zeit, als dieser Job mir so glänzend und toll erschien, dass ich einfach nur Anlauf nehmen und mich mitten hineinstürzen wollte. Vielleicht lag es auch an dem Frühlingsprickeln in der Luft, das an mir zupfte, vielleicht einfach nur daran, dass ich noch nie gut darin war, längere Zeit unglücklich zu sein. Aber warum auch immer, zum ersten Mal seit Monaten fühlte ich mich wieder hellwach, und plötzlich fand ich den Gedanken, am Montag wieder im DHG an meinem Schreibtisch zu sitzen – obwohl ich nicht die Absicht hatte, Frank das zu verraten –, völlig unerträglich. Ich teilte mir ein Büro mit einem Kollegen aus Kerry namens Maher, der Golfpullover trug und jeden nichtirischen Akzent für eine Quelle endloser Belustigung hielt und durch den Mund atmete, wenn er tippte, und auf einmal wusste ich nicht, ob ich auch nur eine einzige Stunde mehr in seiner Gesellschaft durchstehen könnte, ohne ihm meinen Tacker an den Kopf zu werfen.
»Was hat das mit diesem Fall zu tun?«, fragte ich.
Frank zuckte die Achseln, drückte seine Zigarette aus. »Ich wundere mich nur. Die Cassie Maddox, die ich kannte, wäre nicht mit einem sicheren Bürojob von neun bis fünf zufrieden gewesen, den sie im Schlaf erledigen kann. Das ist alles.«
Plötzlich verspürte ich den heftigen Wunsch, Frank aus meiner Wohnung zu haben. Sie kam mir zu klein vor, übervoll und gefährlich. »Tja«, sagte ich, nahm die Weingläser und brachte sie zur Spüle. »Lange nicht gesehen.«
»Cassie«, sagte Frank hinter mir mit seiner sanftesten Stimme. »Was ist denn passiert?«
»Ich habe in Jesus Christus meinen persönlichen Retter und Heiland gefunden«, sagte ich und knallte die Gläser in die Spüle, »und er hält nichts davon, mit anderen Menschen Psychospielchen zu treiben. Ich hatte eine Gehirntransplantation, ich hatte Rinderwahnsinn, ich bin niedergestochen worden, und ich bin älter geworden, und ich bin zu Verstand gekommen, du kannst es nennen, wie du willst, ich weiß nicht, was passiert ist, Frank. Ich weiß nur, dass ich mir zur Abwechslung mal ein bisschen Ruhe und Frieden im Leben wünsche, und dieser beschissene Fall und deine beschissene Idee werden mir das aller Wahrscheinlichkeit nicht geben. Okay?«
»He, in Ordnung«, sagte Frank so gleichmütig, dass ich mir wie ein Idiot vorkam. »Es ist deine Entscheidung. Aber wenn ich verspreche, nicht wieder von dem Fall anzufangen, kann ich dann noch ein Glas Wein haben?«
Meine Hände zitterten. Ich drehte den Wasserhahn weit auf und antwortete nicht.
»Wir können ein bisschen quatschen. Wie du gesagt hast, wir haben uns lange nicht gesehen. Wir meckern übers Wetter, ich zeig dir ein paar Fotos von meinem Kind, und du kannst mir alles über deinen neuen Freund erzählen. Was ist denn aus dem Typen geworden, den du davor hattest, diesem Anwalt? Ich fand ihn ja immer ein bisschen spießig für dich.«
Aidan war mit meiner Undercoverarbeit nicht klargekommen. Er machte Schluss mit mir, weil ich immer wieder Verabredungen absagte, ohne ihm zu erklären, warum, und ohne ihm zu sagen, was ich den lieben langen Tag so machte. Er meinte, mein Job sei mir wichtiger als er. Ich spülte die Gläser aus und stellte sie aufs Abtropfgestell.
»Es sei denn, du willst lieber allein sein, um gründlich drüber nachzudenken«, fügte Frank fürsorglich hinzu. »Kann ich verstehen. Ist schließlich eine wichtige Entscheidung.«
Ich konnte nicht anders: Nach einer Sekunde lachte ich los. Frank kann ein richtiges Schlitzohr sein, wenn er will. Wenn ich ihn jetzt vor die Tür setzte, wäre das wie ein Eingeständnis, dass ich über seine hirnrissige Idee nachdachte. »Okay«, sagte ich. »Schön. Trink so viel Wein, wie du möchtest. Aber wenn du den Fall noch ein einziges Mal erwähnst, verdreh ich dir den Arm, bis er taub ist. Klar?«
»Wunderbar«, sagte Frank fröhlich. »Für so was muss ich normalerweise bezahlen.«
»Für dich mach ich es jederzeit gratis.« Ich warf ihm die Gläser nacheinander zu. Er trocknete sie an seinem Hemd ab und griff nach der Weinflasche.
»Also«, sagte er. »Wie ist der gute Sammy denn so in der Kiste?«
Wir leerten die erste Flasche und öffneten die zweite. Frank erzählte mir den Klatsch und Tratsch der Undercoverabteilung, Sachen, die andere Dezernate nie zu hören kriegen. Ich wusste genau, was er damit bezweckte, aber es tat trotzdem gut, die Namen wiederzuhören, den Jargon, die Insiderwitze und die schnellen, verkürzten professionellen Codes. Wir spielten Weißt-du-noch: zum Beispiel, als ich auf einer Party war und Frank mir eine Info zukommen lassen musste, also schickte er einen Undercoverkollegen, der den abservierten Lover spielte und unter dem Fenster den Stanley Kowalski mimte (»Lexiiiiiie!«), bis ich rauskam. Oder als wir uns auf einer Bank am Merrion Square getroffen hatten, um Infos auszutauschen, und ich jemanden vom College in unsere Richtung kommen sah, da beschimpfte ich ihn aus vollem Halse als alten Perverso und marschierte davon. Mir wurde klar, dass ich es allen Einwänden zum Trotz schön fand, Frank bei mir zu haben. Früher hatte ich ständig Besuch gehabt – Freunde, mein alter Polizeipartner, sie lümmelten sich auf dem Sofa und blieben viel zu lange, Musik im Hintergrund und alle ein bisschen beschwipst –, aber es war lange her, seit jemand außer Sam in meiner Wohnung gewesen war, noch länger, seit ich so gelacht hatte wie jetzt, und es tat gut.
»Weißt du«, sagte Frank wesentlich später versonnen und blinzelte in sein Glas, »du hast noch immer nicht nein gesagt.«
Ich hatte nicht mehr die Energie, sauer zu werden. »Hab ich irgendwas gesagt, was sich auch nur im Entferntesten wie ja anhört?«, wollte ich wissen.
Er schnippte mit den Fingern. »Mensch, ich hab eine Idee. Morgen Abend findet eine Fallbesprechung statt. Wie wär’s, wenn du auch kommst? Das könnte dir bei der Entscheidung helfen, ob du mitmachen willst.«
Und zack, da war er: der Haken mitten zwischen den Ködern, das eigentliche Ziel hinter den Schokokeksen und Infos und der Sorge um mein emotionales Wohl. »Verdammt, Frank«, sagte ich. »Merkst du eigentlich, wie durchschaubar du bist?«
Frank grinste, nicht im Mindesten beschämt. »Ein Versuch kann nicht schaden. Im Ernst, du solltest kommen. Die Fahnder fangen erst Montagmorgen an, es sind also im Grunde nur ich und Sam da und quatschen über den Stand der Dinge. Bist du nicht neugierig?«
Natürlich war ich das. Franks sämtliche Informationen hatten mir nicht verraten, was ich wirklich wissen wollte: wie die Frau gewesen war. Ich lehnte den Kopf gegen den Futon und zündete mir noch eine Zigarette an. »Glaubst du ernsthaft, wir könnten das durchziehen?«, fragte ich.
Frank dachte darüber nach. Er goss sich noch ein Glas Wein ein und schwenkte mit der Flasche in meine Richtung. Ich schüttelte den Kopf. »Unter normalen Umständen«, sagte er schließlich und setzte sich auf dem Sofa zurück, »würde ich sagen, vermutlich nicht. Aber das hier sind keine normalen Umstände, und außer dem offensichtlichen haben wir noch ein paar andere Vorteile. Erstens, die Frau hat praktisch nur drei Jahre existiert. Du müsstest dich also nicht mit einer ganzen Lebensgeschichte rumschlagen. Du musst weder Eltern noch Geschwister überzeugen, du wirst keiner alten Freundin aus Kindertagen über den Weg laufen, kein Mensch wird dich fragen, ob du dich an deine erste Schulparty erinnerst. Außerdem war ihr Lebensradius in diesen drei Jahren anscheinend ziemlich überschaubar: Sie war privat mit einer kleinen Gruppe von Leuten zusammen, sie hat an einer kleinen Fakultät studiert, hatte einen einzigen Job. Du musst dich nicht in einem großen Kreis von Angehörigen und Freunden und Kollegen bewegen.«
»Sie wollte in englischer Literatur promovieren«, gab ich zu bedenken. »Ich hab keinen Schimmer von englischer Literatur, Frank. Schön, ich hatte eine Eins im Abschlusszeugnis, aber das war’s. Ich beherrsche den Fachjargon nicht.«
Frank zuckte die Achseln. »Lexie auch nicht, soweit wir wissen, und sie hat es hingekriegt. Wenn sie das kann, kannst du es auch. Eigentlich haben wir da schon wieder Glück: Sie hätte Pharmazie studieren können oder Maschinenbau. Und wenn du mit ihrer Diss kein bisschen weiterkommst, he, was sollen sie erwarten? Makabrerweise kommt uns da die Stichwunde gelegen: Wir könnten dir ein posttraumatisches Stresssyndrom verpassen, Amnesie, ganz wie wir wollen.«
»Hat sie einen Freund?« Ich bin ja bereit, viel für einen Job zu tun, aber nicht alles.
»Nein, deine Tugend ist nicht in Gefahr. Und da ist noch was, was wir nützen können. Du hast ja die Fotos gesehen. Unser Mädel hatte ein Videohandy, und offenbar haben die fünf es als gemeinsamen Camcorder benutzt. Die Bildqualität ist nicht überragend, aber die Speicherkarte ist gigantisch und voll mit Clips – sie und ihre Freunde bei netten Abenden, beim Picknicken, beim Einzug ins neue Haus, beim Renovieren, alles. Du hast also eine praktische Anleitung für ihre Stimme, ihre Körpersprache, Eigenheiten, ihren Umgang mit den anderen – alles, was dein Herz begehrt. Und du bist gut, Cassie. Du bist undercover sogar erste Sahne. Wenn man das alles zusammennimmt, würde ich sagen, wir haben eine ziemlich gute Chance, das Ding durchzuziehen.«
Er kippte sein Glas steil nach oben, um die letzten Tropfen zu erwischen, und griff dann nach seiner Jacke. »War schön, mit dir zu quatschen, Kleines. Du hast meine Handynummer. Sag mir Bescheid, wenn du dich wegen morgen Abend entschieden hast.«
Und er ging. Erst als sich die Tür hinter ihm schloss, wurde mir klar, was für Fragen mir rausgerutscht waren, zu ihrer Promotion, ob sie einen Freund hatte, als würde ich den Plan auf Schwachstellen überprüfen; als würde ich mit dem Gedanken spielen, es zu tun.
Frank hatte schon immer die Gabe, genau zu wissen, wann er eine Sache erst mal ruhen lassen sollte. Nachdem er gegangen war, saß ich lange auf der Fensterbank, starrte hinaus über die Dächer, ohne sie zu sehen. Erst als ich aufstand, um mir noch ein Glas Wein zu holen, sah ich, dass er etwas auf meinem Couchtisch liegen gelassen hatte.
Es war das Foto von Lexie und ihren Freunden vor Whitethorn House. Ich stand da, die Weinflasche in der einen Hand, das Glas in der anderen, und erwog, es umzudrehen und liegen zu lassen, bis Frank aufgab und es wieder abholte; erwog für einen Moment, es im Aschenbecher zu verbrennen. Dann nahm ich es und ging damit zur Fensterbank.
Sie hätte mein Alter haben können. Sie hatte sich als Sechsundzwanzigjährige ausgegeben, aber sie hätte auch neunzehn sein können oder dreißig. Sie hatte keinen einzigen Makel im Gesicht, keine Falte oder Narbe, keinen Pickel. Was immer das Leben ihr beschert hatte, ehe Lexie Madison ihr in den Schoß gefallen war, es war über sie hinweggerollt und verflogen wie Dunst, und sie war unangetastet und makellos geblieben, versiegelt ohne einen Riss. Ich sah älter aus als sie: Der Knocknaree-Fall hatte mir meine ersten Falten um die Augen beschert und Schatten darunter, die auch dann nicht weggingen, wenn ich gut geschlafen hatte. Ich konnte Frank förmlich hören: Du hast jede Menge Blut verloren und tagelang im Koma gelegen, die Ringe unter den Augen sind perfekt, benutz bloß keine Nachtcreme.
Ihre Mitbewohner rechts und links von ihr betrachteten mich, gelassen und lächelnd, lange, dunkle, wallende Mäntel, Rafes Schal ein knallroter Fleck. Die Aufnahme war leicht schief. Sie hatten die Kamera auf irgendetwas draufgestellt, den Selbstauslöser benutzt. Auf der anderen Seite stand kein Fotograf, der sie aufforderte zu lachen. Das Lächeln auf ihren Lippen war etwas ganz Privates, nur füreinander bestimmt, für ihr zukünftiges Selbst, wenn sie sich auf dem Foto sahen, für mich.
Und hinter ihnen, fast das ganze Foto ausfüllend, Whitethorn House. Es war ein schlichtes Haus: breit und grau, im Stil der Jahrhundertwende, dreigeschossig, mit Schiebefenstern, die nach oben hin kleiner wurden, um die Illusion von noch mehr Höhe zu erzeugen. Die Tür war tiefblau, die Farbe blätterte großflächig ab. Steintreppen führten von beiden Seiten zu ihr hinauf. Drei gerade Reihen Schornsteine, dicke Efeuranken, die sich an den Mauern bis fast zum Dach hinaufreckten. Die Tür hatte kannelierte Säulen und ein Oberlicht in Form eines Pfauenrads, aber abgesehen davon gab es keine Verzierungen – bloß das Haus.
Die Leidenschaft dieses Landes für Haus- und Grundbesitz steckt den Menschen tief im Blut, eine Triebkraft so gewaltig und ursprünglich wie Begierde. Wer jahrhundertelang hilflos den Launen von Vermietern ausgeliefert war und auf die Straße gesetzt wurde, hat gelernt, dass das Wichtigste im Leben die eigenen vier Wände sind. Aus diesem Grund sind die Hauspreise auch so, wie sie sind: Immobilieninvestoren wissen, dass sie Unsummen für eine verkommene Zweizimmerwohnung verlangen können. Wenn sie sich zusammenschließen und dafür sorgen, dass es keine Alternative gibt, verkaufen die Iren notfalls eine Niere, schuften hundert Stunden die Woche und bezahlen. Irgendwie – vielleicht weil in meinen Adern auch französisches Blut fließt – fehlt mir dieses Gen. Der Gedanke, eine Hypothek am Hals zu haben, macht mich nervös. Ich bin froh, dass meine Wohnung gemietet ist, vier Wochen Kündigungsfrist und ein paar Mülltüten, und ich bin weg, wann ich will.
Aber wenn ich je ein Haus hätte haben wollen, dann so eins wie das auf dem Foto. Es hatte nichts gemein mit den charakterlosen Möchtegernhäusern, die alle meine Freunde sich kauften, mickrige Schuhkartons irgendwo am Arsch der Welt, die mit hochtrabenden Euphemismen angepriesen werden (»Individuelles Architekten-Einfamilienhaus in topmoderner Luxuswohnlage«), das Zwanzigfache deines Jahreseinkommens kosten und gerade mal so lange halten, bis der Makler sie losgeworden ist. Das Haus hier war etwas Reelles, ein solides Ich-versteh-keinen-Spaß-Haus, mit so viel Stärke und Stolz und Anmut, dass es jeden überdauern würde, der es sah. Winzige tanzende Schneeflocken verschleierten den Efeu und hingen in den dunklen Fenstern, und die Stille, die es verströmte, war so immens, dass ich das Gefühl hatte, die Hand einfach durch die glänzende Oberfläche des Fotos und hinein in seine kühlen Tiefen stecken zu können.
Ich könnte herausbekommen, wer die Frau war und was mit ihr passiert war, ohne das Haus je zu betreten. Sam würde es mir erzählen, wenn sie sie identifiziert hatten oder jemanden als Täter verdächtigten. Wahrscheinlich würde er mich sogar beim Verhör zuschauen lassen. Aber ganz tief in meinem Innern wusste ich, dass er eben nur das je finden würde, ihren Namen und den Mörder, und dass ich mir über alles andere bis an mein Lebensende den Kopf zerbrechen würde. Das Haus schimmerte in meinen Gedanken wie ein Feenschloss, das einem nur ein einziges Mal im Leben erschien, betörend und verheißungsvoll, mit diesen vier coolen Gestalten als Wächter und mit verborgenen Geheimnissen, die zu nebelhaft waren, um sie benennen zu können. Mein Gesicht war der einzige Passierschein, der die Tür entriegeln konnte. Whitethorn House wartete nur darauf, sich in Windeseile in nichts aufzulösen, sobald ich nein sagte.
Ich merkte, dass das Foto nicht mal zehn Zentimeter vor meiner Nase war. Es wurde dunkel, so lange saß ich schon da, und die Eulen machten ihre Aufwärmübungen über der Decke. Ich trank den Wein aus und sah das Meer gewittergrau werden, das Blinken des Leuchtturms fern am Horizont. Als ich meinte, betrunken genug zu sein, um mir nichts aus seiner hämischen Freude zu machen, simste ich Frank: Wie viel Uhr ist die Besprechung?
Mein Handy piepste zehn Sekunden später: Punkt 7, bis dahin. Er hatte sein Handy griffbereit gehabt, auf mein Ja gewartet.
Am Abend stritten Sam und ich uns zum ersten Mal. Wahrscheinlich war das überfällig, schließlich hatten wir in den drei Monaten, die wir zusammen waren, nicht mal eine harmlose Meinungsverschiedenheit gehabt, aber der Zeitpunkt hätte übler nicht sein können.
Die Beziehung zwischen Sam und mir begann ein paar Monate nachdem ich das Morddezernat verlassen hatte. Ich weiß nicht genau, wie das passierte. Ich kann mich an vieles aus dieser Zeit nicht mehr erinnern. Offenbar hatte ich mir ein paar richtig triste Pullover gekauft, so welche, die man nur trägt, wenn man sich im Grunde bloß für einige Tage im Bett verkriechen will, was mich gelegentlich zu der Frage brachte, wie klug eine Beziehung sein konnte, die ich im selben Zeitraum eingegangen war. Sam und ich waren uns in der SOKO Vestalin nähergekommen, blieben uns nahe, nachdem die Mauern eingestürzt waren – solche Alptraumfälle bewirken das bei einem, das oder das Gegenteil –, und ehe der Fall zu Ende war, hatte ich längst erkannt, dass Sam Gold wert war, aber eine Beziehung, egal, mit wem, war das Letzte, was ich im Sinn hatte.
Er kam gegen neun. »Hi, du«, sagte er, gab mir einen Kuss und umarmte mich fest. Seine Wange war kalt vom Wind draußen. »Was riecht denn hier so gut?«
Die Wohnung roch nach Tomaten und Knoblauch und Kräutern. Eine komplizierte Soße köchelte auf dem Herd, und ich hatte Wasser aufgesetzt und eine Packung Ravioli bereitgelegt, getreu dem Prinzip, an das sich Frauen seit Anbeginn der Zeit halten: Wenn du ihm etwas zu sagen hast, was er nicht hören will, sorge für Essen. »Ich spiele Hausfrau«, sagte ich zu ihm. »Ich hab geputzt und alles. Hi, Schatz, wie war dein Tag?«
»Ah, klar«, sagte Sam vage. »Irgendwann kommen wir noch dahin.« Als er seinen Mantel auszog, fiel sein Blick auf den Couchtisch: Weinflaschen, Korken, Gläser. »Kriegst du hinter meinem Rücken Herrenbesuch?«
»Frank«, sagte ich. »Alles andere als ein feiner Herr.«
Das Lachen wich aus Sams Gesicht. »Oh«, sagte er. »Was wollte er?«
Ich hatte gehofft, bis nach dem Essen damit warten zu können. Dafür, dass ich Detective bin, lässt mein Spurenbeseitigungsgeschick sehr zu wünschen übrig. »Er möchte, dass ich morgen Abend zu eurer Fallbesprechung komme«, sagte ich, so beiläufig ich konnte, während ich zur Kochnische ging, um nach dem Knoblauchbrot zu sehen. »Er ist nicht gleich mit der Sprache rausgerückt, aber darum ging’s ihm.«
Langsam faltete Sam seinen Mantel zusammen, legte ihn über die Rückenlehne des Sofas. »Was hast du gesagt?«
»Ich habe gründlich drüber nachgedacht«, sagte ich. »Ich möchte hingehen.«
»Er hatte kein Recht dazu«, sagte Sam leise. Oben an seinen Wangenknochen verfärbte sich die Haut rot. »Hinter meinem Rücken herzukommen, Druck auf dich auszuüben, wo ich nicht da war, um –«
»Ich hätte mich genauso entschieden, wenn du hier gewesen wärest«, sagte ich. »Ich bin schon groß, Sam. Ich muss nicht beschützt werden.«
»Ich mag den Burschen nicht«, sagte Sam scharf. »Ich mag seine Denkweise nicht, und ich mag seine Arbeitsweise nicht.«
Ich knallte die Backofenklappe zu. »Er will diesen Fall lösen. Mag ja sein, dass dir seine Methoden nicht passen –«
Sam strich sich eine Haarsträhne aus den Augen, heftig, mit dem Unterarm. »Nein«, sagte er. »Nein, darum geht’s ihm nicht. Es geht ihm nicht darum, den Fall zu lösen. Der Fall geht diesen Mackey absolut nichts an, genau wie jeder andere Mordfall, an dem ich je gearbeitet habe, und wenn ich mich recht entsinne, ist er bei keinem von denen aufgetaucht und hat links und rechts die Fäden gezogen, um mit von der Partie zu sein. Er ist hier, weil es ihn reizt, deshalb. Er denkt, das wird ein Riesenspaß – dich mitten in eine Gruppe von Mordverdächtigen einzuschleusen, nur weil er es kann, und dann abzuwarten, was passiert. Der Mann ist völlig irre.«
Ich nahm Teller aus dem Schrank. »Und wenn schon. Ich geh doch nur zu einer Besprechung. Was ist denn daran so schlimm?«
»Dass der Spinner dich benutzt, das ist so schlimm. Du bist nicht mehr du selbst seit der Sache letztes Jahr –«
Bei den Worten durchfuhr mich etwas, wie ein schneller, heftiger Stromstoß, als hätte ich an einen Elektrozaun gefasst. Ich wirbelte zu ihm herum, vergaß völlig das Essen, hätte Sam die Teller am liebsten an den Kopf geworfen. »Oh nein. Lass das, Sam. Bring das jetzt nicht mit ins Spiel.«
»Das hat dein Freund Mackey längst getan. Ein Blick auf dich hat genügt, und er wusste, dass irgendwas im Busch war, hat sich gedacht, dass er kein Problem haben würde, dich dazu zu bringen, bei seiner wahnsinnigen Idee mitzumachen –«
Besitzergreifender ging es wohl nicht, wie er so dastand, mitten in meiner Wohnung, breitbeinig und die Fäuste wütend in die Taschen gerammt: mein Fall, meine Frau. Ich knallte die Teller auf die Arbeitsplatte. »Es interessiert mich einen Scheißdreck, was er sich gedacht hat oder nicht, und ich lasse mich von ihm zu gar nichts bringen. Das hier hat nichts damit zu tun, was Frank will – es hat nichts mit Frank zu tun, basta. Klar hat er versucht, mich zu bedrängen. Ich hab ihm eine Abfuhr erteilt.«
»Du machst genau, was er von dir will. Ihm eine Abfuhr erteilen sieht ja wohl anders aus.«
Eine verrückte Sekunde lang fragte ich mich, ob er tatsächlich eifersüchtig auf Frank sein könnte, und falls ja, was zum Teufel ich dagegen tun sollte. »Und wenn ich nicht zu der Besprechung gehe, mache ich genau, was du von mir willst. Heißt das dann, dass ich mich von dir manipulieren lasse? Ich habe beschlossen, da morgen hinzugehen. Glaubst du, ich kann das nicht allein entscheiden? Herrgott nochmal, Sam, die Sache letztes Jahr hat mich nicht hirnamputiert!«
»Das hab ich auch nicht gesagt. Ich sage bloß, du bist nicht mehr du selbst seit –«
»Das hier bin ich selbst, Sam. Sieh genau hin: Das hier bin ich selbst, verdammt nochmal. Ich war schon Jahre vor dem Knocknaree-Fall undercover. Also halt den da raus.«
Wir starrten uns an. Nach einem Moment sagte Sam leise: »Ja. Ja, hast ja recht.«
Er ließ sich aufs Sofa fallen und fuhr sich mit den Händen übers Gesicht. Plötzlich sah er völlig geschafft aus, und bei dem Gedanken, wie sein Tag gewesen war, empfand ich einen schmerzlichen Stich. »Tut mir leid«, sagte er. »Dass ich davon angefangen habe.«
»Ich will nicht mit dir streiten«, sagte ich. Mir zitterten die Knie, und ich hatte keine Ahnung, wie wir darüber hatten in Streit geraten können, wo wir doch eigentlich auf derselben Seite standen. »Lass es … einfach gut sein, okay? Bitte, Sam, tu mir den Gefallen.«
»Cassie«, sagte Sam. Sein rundes, freundliches Gesicht hatte einen gequälten Ausdruck, der nicht dahingehörte. »Ich schaff das nicht. Was, wenn … Gott. Wenn dir was passiert? In einem Fall, für den ich zuständig bin, mit dem du nichts zu tun hattest? Weil ich den Täter nicht schnappen konnte. Damit kann ich nicht leben. Ich kann nicht.«
Er klang atemlos, erschöpft. Ich wusste nicht, ob ich ihn in die Arme nehmen oder treten sollte. »Wie kommst du darauf, dass diese Sache nichts mit mir zu tun hat?«, fragte ich. »Die Frau ist meine Doppelgängerin, Sam. Die Frau ist mit meinem Gesicht herumspaziert, Menschenskind. Woher willst du wissen, dass der Täter die Richtige erwischt hat? Überleg doch mal. Eine Doktorandin, die sich alles von Charlotte Brontë reinzieht, oder eine Polizistin, die zig Leute in den Knast gebracht hat: Bei welcher von beiden ist die Wahrscheinlichkeit größer, dass irgendwer sie umbringen will?«
Schweigen entstand. Sam war auch in der SOKO Vestalin gewesen. Wir beide kannten wenigstens eine Person, die mich liebend gern und ohne mit der Wimper zu zucken hätte umbringen lassen und der durchaus zuzutrauen war, dass sie die Sache in die Wege leitete. Ich spürte mein Herz klopfen, hart und hoch unter den Rippen.
Sam sagte: »Glaubst du etwa –«
»Es geht hier nicht um einzelne Fälle«, sagte ich zu schroff. »Es geht darum, dass ich längst bis zum Hals in der Sache drinstecken könnte. Und ich will nicht für den Rest meines Lebens ständig hinter mich gucken. Damit kann ich nicht leben.«
Er zuckte zusammen. »Es wäre nicht für den Rest deines Lebens«, sagte er. »Ich hoffe, wenigstens das kann ich dir versprechen. Ich habe nämlich vor, den Täter zu schnappen, weißt du.«
Ich lehnte mich gegen die Arbeitsplatte und holte Luft. »Ich weiß, Sam«, sagte ich. »Tut mir leid. So hab ich das nicht gemeint.«
»Falls er es, Gott bewahre, auf dich abgesehen hat, dann solltest du dich erst recht raushalten und mir die Sache überlassen.«
Der freundliche Essensduft hatte eine beißende, gefährliche Note angenommen: Irgendetwas war angebrannt. Ich stellte den Herd aus, schob die Töpfe nach hinten – uns beiden war ohnehin erst mal der Appetit vergangen – und setzte mich im Schneidersitz aufs Sofa, Sam zugewandt.
»Du behandelst mich wie deine Freundin, Sam«, sagte ich. »Ich bin nicht deine Freundin, nicht in so einer Situation. Da bin ich Detective wie alle anderen.«
Er schenkte mir ein trauriges, schiefes kleines Lächeln. »Könntest du nicht beides sein?«
»Ich hoffe es«, sagte ich. Ich wünschte, ich hätte den Wein nicht ausgetrunken. Dieser Mann brauchte etwas Alkoholisches. »Ich hoffe es wirklich. Aber nicht so.«
Nach einer Weile atmete Sam lange aus, ließ den Kopf nach hinten gegen die Lehne sinken. »Du willst also mitmachen«, sagte er. »Bei Mackeys Plan.«
»Nein«, sagte ich. »Ich will bloß mehr über diese Tote wissen. Deshalb hab ich gesagt, dass ich zu der Besprechung komme. Das hat nichts mit Frank und seiner spinnerten Idee zu tun. Ich will einfach mehr über sie erfahren.«
»Wieso?«, fragte Sam. Er setzte sich auf und nahm meine beiden Hände, zwang mich, ihn anzusehen. Seine Stimme klang rau, irgendwie frustriert und fast flehend. »Was hat sie mit dir zu tun? Sie ist nicht mit dir verwandt, keine Freundin von dir, nichts. Sie ist purer Zufall, mehr nicht, Cassie. Irgendeine junge Frau, die auf der Suche nach einem neuen Leben war und der sich zufällig die perfekte Chance bot.«
»Ich weiß«, sagte ich. »Ich weiß, Sam. Sie scheint nicht mal besonders sympathisch gewesen zu sein. Wenn wir uns kennengelernt hätten, hätte ich sie wahrscheinlich nicht leiden können. Genau darum geht’s. Ich will nicht, dass sie mir im Kopf herumspukt. Ich will mir keine Gedanken über sie machen. Ich hoffe, wenn ich genug über sie herausfinde, kann ich die ganze Sache abhaken und vergessen, dass es sie je gegeben hat.«
»Ich habe einen Doppelgänger«, sagte Sam. »Er lebt in Wexford, er ist Ingenieur, und mehr weiß ich nicht über den Mann. Etwa einmal im Jahr quatscht mich irgendeiner an und sagt, ich wäre ihm zum Verwechseln ähnlich – die Hälfte von denen nennt mich sogar Brendan. Dann lachen wir, manchmal macht einer mit seinem Handy ein Foto von mir, um es ihm zu zeigen, und damit hat es sich.«
Ich schüttelte den Kopf. »Das ist was anderes.«
»Inwiefern?«
»Er wurde zum Beispiel nicht ermordet.«
»Ich wünsch dem Mann nichts Böses«, sagte Sam, »aber es wär mir egal, wenn er ermordet würde. Solange ich nicht mit dem Fall betraut würde, wäre er nicht mein Problem.«
»Die Tote ist mein Problem«, sagte ich. Sams Hände um meine waren groß und warm und fest, und die Haare fielen ihm in die Stirn wie immer, wenn er besorgt war. Es war ein Samstagabend im Frühling; eigentlich hätten wir an irgendeinem Strand spazieren gehen sollen, umgeben von Dunkelheit und Wellen und Brachvögeln, oder irgendein neues Rezept zum Abendessen kochen und die Musik zu laut aufdrehen oder in einer stillen Ecke in einem dieser seltenen, abgelegenen Pubs sitzen, wo die Gäste nach der Sperrstunde noch Balladen singen. »Ich wünschte, sie wäre es nicht, aber sie ist es.«
»Irgendwas an der Sache«, sagte Sam, »will mir einfach nicht in den Kopf.« Er hatte unsere Hände auf meine Knie sinken lassen und blickte mit finsterer Miene darauf, während er in einem stetigen, automatischen Rhythmus mit dem Daumen um meine Knöchel fuhr. »Ich sehe da nichts anderes als einen stinknormalen Mordfall, verbunden mit einem Zufall, der jedem passieren könnte. Klar, ich war auch geschockt, als ich die Tote sah, aber nur weil ich dachte, du wärst es. Sobald das geklärt war, dachte ich, jetzt geht alles wieder seinen normalen Gang. Aber du und Mackey führt euch beide auf, als würde die Frau euch irgendwas bedeuten, als wäre es was Persönliches. Was entgeht mir da?«
»In gewisser Weise«, sagte ich, »ist es was Persönliches, ja. Für Frank ist es teilweise genau das, was du vermutest – er hält das Ganze für ein großes, tolles Abenteuer. Aber das ist nicht alles. Lexie Madison war am Anfang seine Verantwortung, sie war in den acht Monaten, die ich undercover war, seine Verantwortung, sie ist jetzt seine Verantwortung.«
»Aber die Frau ist nicht Lexie Madison. Sie ist eine Identitätsdiebin. Ich könnte morgen früh ins Betrugsdezernat gehen und würde zig mehr von ihrer Sorte finden. Es gibt keine Lexie Madison. Du und Mackey habt sie erfunden.«
Seine Hände schlossen sich fester um meine. »Ich weiß«, sagte ich. »Darum geht’s ja eigentlich.«
Sams Mundwinkel zuckte. »Ich sag’s ja. Der Mann ist irre.«
Ich sah das nicht unbedingt anders als er. In meinen Augen lag Franks legendäre Furchtlosigkeit auch darin begründet, dass es ihm eigentlich nie richtig gelungen war, einen Bezug zur Realität herzustellen. Für ihn ist jede Operation wie eine von diesen Kriegsspielchen des Pentagons, nur noch cooler, weil mehr auf dem Spiel steht und die Ergebnisse greifbar und nachhaltig sind. Weil die Bruchlinie so dünn ist und weil er so clever ist, kommt sie nie deutlich zum Vorschein. Aber obwohl er jeden Aspekt abdeckt und jede Situation wunderbar und eiskalt unter Kontrolle behält, glaubt ein Teil von ihm im Grunde, dass er von Sean Connery gespielt wird.
Ich sah das, weil ich es wiedererkannte. Mein eigener Grenzzaun zwischen real und nicht real war nie besonders gut. Meine Freundin Emma, bei der Dinge immer einen klaren Sinn ergeben müssen, meint, das liege daran, dass ich beim Tod meiner Eltern noch zu klein war, um es richtig zu begreifen: Sie waren von einem auf den anderen Tag nicht mehr da, krachten mit solcher Wucht und so schnell durch diesen Zaun, dass das Holz für immer gesplittert blieb. Als ich acht Monate lang Lexie Madison war, wurde sie für mich zu einer realen Person, einer Schwester, die ich verloren oder unterwegs zurückgelassen hatte; ein Schatten irgendwo in mir, wie die Schatten von verlorenen Zwillingen, die ganz selten mal auf den Röntgenbildern von Leuten auftauchen. Noch ehe sie zurückkam, um mich zu finden, wusste ich, dass ich ihr etwas schuldete, weil ich diejenige war, die lebte.
So etwas wollte Sam wahrscheinlich nicht hören; er musste schon genug Verrücktes verdauen, da wollte ich ihm nicht noch mehr auftischen. Stattdessen – etwas Besseres fiel mir nicht ein – versuchte ich, ihm von der Undercoverarbeit zu erzählen. Ich erzählte ihm, dass deine Sinne nie wieder ganz dieselben sind, dass Farben so grell werden, dass sie sich einbrennen, und die Luft hell und rauschhaft schmeckt, wie dieser Likör, in dem winzige Goldblättchen schwimmen; dass dein Gang sich verändert, dein Gleichgewichtssinn fein austariert wird wie bei einem Surfer, wenn du jede Sekunde auf dem rasenden Grat einer gefährlichen Welle verbringst. Ich erzählte ihm, dass ich danach nie wieder mit meinen Freunden einen Joint geraucht oder in einem Club Ecstasy genommen hatte, weil kein Rausch je daran heranreichte. Ich erzählte ihm, wie verdammt gut ich gewesen war, ein Naturtalent, besser, als ich im DHG in einer Million Jahre sein würde.
Als ich fertig war, blickte Sam mich mit einer besorgten kleinen Furche zwischen den Augenbrauen an. »Was willst du damit sagen?«, fragte er. »Willst du damit sagen, dass du vorhast, dich wieder zur Undercoverarbeit versetzen zu lassen?«
Er hatte die Hände von meinen genommen. Ich sah ihn an, wie er da am anderen Ende des Sofas saß, die Haare an einer Seite zerzaust, und mich forschend anstarrte. »Nein«, sagte ich, »will ich nicht«, und konnte zusehen, wie sich sein Gesicht erleichtert entspannte. »Absolut nicht.«
Aber ich habe Sam nicht alles erzählt: Undercovercops passieren schlimme Dinge. Einige werden getötet. Die meisten verlieren Freunde, Ehepartner, Beziehungspartner. Ein paar verwildern sozusagen, wechseln ganz allmählich die Seiten und merken es erst, wenn es zu spät ist, bis sie schließlich diskret in den Vorruhestand geschickt werden. Manche, und nie diejenigen, bei denen man es erwarten würde, verlieren die Nerven – ohne Vorwarnung, sie wachen einfach eines Morgens auf und begreifen mit einem Schlag, was sie da machen, und sie erstarren wie Seiltänzer, die nach unten geschaut haben. Zum Beispiel ein gewisser McMall: Er war in eine Splittergruppe der IRA eingeschleust worden, und kein Mensch hätte gedacht, dass er überhaupt wusste, was Angst ist, bis er eines Abends aus einer Gasse neben einem Pub anrief. Er könne nicht mehr da reingehen, sagte er, und er könne auch nicht weggehen, weil seine Beine zu stark schlotterten. Er weinte. Kommt mich holen, sagte er, ich will nach Hause. Als ich ihn kennenlernte, arbeitete er im Archiv. Und einige schlagen den anderen Weg ein, den tödlichsten Weg von allen: Wenn der Druck zu groß wird, verlieren sie nicht die Nerven, sondern jede Furcht. Sie können keine Angst mehr empfinden, nicht mal dann, wenn sie sollten. Diese Menschen können nie wieder nach Hause. Sie sind wie jene Flieger im Ersten Weltkrieg, die besten, strahlende Draufgänger und unbesiegbar, die nach Hause kamen und feststellen mussten, dass es dort keinen Raum gab für das, was sie geworden waren. Manche Menschen sind Undercovercops bis ins innerste Mark; der Job hat von ihnen Besitz ergriffen.
Ich hatte nie Angst davor, getötet zu werden, und ich hatte nie Angst davor, die Nerven zu verlieren. Meine Art von Mut ist am verlässlichsten, wenn es richtig brenzlig wird. Es sind andere Gefahren, kompliziertere und heimtückischere, die mich erschüttern. Aber die anderen Möglichkeiten, die machten mir Sorgen. Frank hat einmal zu mir gesagt – und ich weiß nicht, ob er recht hat oder nicht, und auch das habe ich Sam nicht erzählt –, dass die besten Undercovercops alle einen dunklen Faden in sich eingewebt haben, irgendwo.