15
Am nächsten Morgen war ich erst kurz vor elf in der Dubliner Burg. Ich wollte den Tag möglichst normal angehen – Frühstück, die Fahrt in die Stadt, Arbeit in der Bibliothek. Ich dachte mir, das würde die anderen beruhigen und sie eher davon abhalten, mich begleiten zu wollen. Und es klappte. Als ich aufstand und anfing, meine Jacke anzuziehen, fragte Daniel zwar: »Soll ich zur moralischen Unterstützung mitkommen?«, aber als ich den Kopf schüttelte, nickte er nur und versenkte sich wieder in sein Buch. »Mach auf jeden Fall das mit dem zittrigen Finger«, riet Rafe mir. »Das wird O’Neill begeistern.«
Vor dem Eingang zum Morddezernat bekam ich kalte Füße. Ich konnte einfach nicht da reingehen, mich wie eine Besucherin an der Aufnahme melden, quälend heiteren Smalltalk mit Bernadette, der Dezernatssekretärin, machen und unter den faszinierten Blicken der Vorübergehenden darauf warten, dass irgendwer mich abholte und über die Flure führte, als wäre ich noch nie hier gewesen. Ich rief Frank und sagte, er sollte mich holen kommen.
»Gutes Timing«, sagte er, als er den Kopf zur Tür heraussteckte. »Wir machen gerade ein Päuschen, um sozusagen die Situation neu einzuschätzen.«
»Was neu einzuschätzen?«, fragte ich.
Er hielt mir die Tür auf und trat beiseite. »Wirst du schon sehen. War ein rundum spaßiger Morgen. Ihr habt unseren Burschen ganz schön zugerichtet, was?«
Er hatte recht. John Naylor saß mit verschränkten Armen am Tisch in einem Vernehmungsraum, trug denselben farblosen Schlabberpullover und eine alte Jeans, und er sah nicht mehr gut aus. Beide Augen waren fast zugeschwollen; eine Wange war ganz schief, lila verfärbt und dick. In der Unterlippe hatte er einen dunklen Riss, und sein Nasenrücken sah schrecklich eingedrückt aus. Ich stellte mir vor, wie seine Finger nach meinen Augen griffen, seine Knie in meinem Bauch, aber ich konnte diese Erinnerungen nicht mit dem misshandelten Mann da in Verbindung bringen, der seinen Stuhl nach hinten gekippelt hatte und »The Rising of the Moon« vor sich hin summte. Sein Anblick, was wir ihm angetan hatten, schnürte mir die Kehle zu.
Sam war im Beobachtungsraum, lehnte an der Einwegscheibe, die Hände tief in den Jackentaschen, und betrachtete Naylor. »Cassie«, sagte er und blinzelte. Er sah übermüdet aus. »Hi.«
»Du liebe Güte«, sagte ich und nickte Richtung Naylor.
»Das kann man wohl sagen. Er behauptet, er wäre mit dem Fahrrad gestürzt, Kopf voran gegen eine Mauer. Und mehr ist nicht aus ihm rauszukriegen.«
»Ich hab Cassie gerade schon gesagt«, warf Frank ein, »dass wir hier ein kleines Problem haben.«
»Ja«, sagte Sam. Er rieb sich die Augen, als versuchte er, wach zu werden. »Ein Problem, ja. Wir haben Naylor so gegen acht hergeholt. Seitdem vernehmen wir ihn, und er liefert uns nichts. Glotzt bloß die Wand an und singt vor sich hin. Hauptsächlich Protestlieder.«
»Bei mir hat er eine Ausnahme gemacht«, sagte Frank. »Hat sein Konzert unterbrochen und mich als dreckigen Dubliner Wichser bezeichnet, der sich schämen sollte, den Briten in den Arsch zu kriechen. Ich glaub, er mag mich. Aber jetzt kommt’s: Wir haben uns einen Durchsuchungsbeschluss für seine Bude besorgt, und die Spurensicherung hat ihre Funde gerade reingereicht. Natürlich hatten wir auf ein blutiges Messer oder blutige Kleidung oder so was gehofft, aber das wäre ja auch zu schön gewesen. Stattdessen … große Überraschung.«
Er nahm ein paar Beweismittelbeutel von dem Tisch in der Ecke und hielt sie mir hin. »Sieh dir das an.«
Sie enthielten einen Satz Würfel aus Elfenbein, einen Handspiegel mit Schildpattrückseite, ein kleines stümperhaftes Aquarellgemälde von einer Landstraße und eine silberne Zuckerdose. Noch bevor ich die Dose umdrehte und das Monogramm sah – ein zartes, verschnörkeltes M –, wusste ich, woher die Sachen stammten. Ich kannte nur einen Ort, der ein solches Sammelsurium von Plunder aufzuweisen hatte: Onkel Simons Haus.
»Das lag alles unter Naylors Bett«, sagte Frank, »hübsch verpackt in einem Schuhkarton. Ich garantiere dir, wenn du dich mal gründlich in Whitethorn House umsiehst, findest du ein passendes Milchkännchen. Womit wir bei der Frage wären: Wie kommt das Zeug in Naylors Schlafzimmer?«
»Er ist eingebrochen«, sagte Sam. Er hatte sich wieder umgedreht und starrte Naylor an, der schlaff auf seinem Stuhl saß und zur Decke hochsah. »Vier Mal.«
»Ohne irgendwas mitzunehmen.«
»Das wissen wir nicht. Dafür haben wir nur Simon Marchs Angaben, aber der hat wie ein Schwein gelebt und war die meiste Zeit stockbetrunken. Naylor hätte kofferweise Zeug abschleppen können, ohne dass March irgendwas gemerkt hätte.«
»Oder«, sagte Frank, »er könnte es Lexie abgekauft haben.«
»Klar«, sagte Sam, »oder Daniel oder Abby oder Gott weiß wem oder auch dem alten Simon, nebenbei bemerkt. Nur, dass es nicht mal ansatzweise einen Beweis dafür gibt.«
»Von denen wurde aber keiner eine halbe Meile von Naylors Haus entfernt erstochen und durchsucht aufgefunden.«
Der Streit zwischen ihnen war anscheinend schon länger im Gange. Ihre Stimmen hatten diesen müden, gut einstudierten Rhythmus. Ich legte die Beweismittelbeutel zurück auf den Tisch, lehnte mich gegen die Wand und hielt mich schön raus. »Naylor arbeitet für einen Hungerlohn und versorgt seine kranken Eltern«, sagte Sam. »Wo zum Teufel soll er das Geld herhaben, sich antiken Krempel zu kaufen? Und warum zum Teufel sollte er das überhaupt wollen?«
»Gründe hätte er zur Genüge«, sagte Frank, »erstens, er hasst die Familie March und würde jede Gelegenheit nutzen, ihnen eins auszuwischen – und zweitens, wie Sie schon gesagt haben, er ist pleite. Er selbst hat vielleicht nicht das nötige Kleingeld, aber dafür andere Leute, und zwar reichlich.«
Erst in diesem Moment wurde mir klar, worüber sie eigentlich stritten, warum diese aggressive, mühsam gezügelte Spannung im Raum knisterte. Kunst- und Antiquitätenraub, das mag sich nach einem Dezernat für Langeweiler anhören, für einen Haufen steifer Streberlinge mit Dienstmarke, aber ihre Arbeit ist alles andere als lustig. Der Schwarzmarkt expandiert weltweit, und er ist mit diversen anderen Spielarten des organisierten Verbrechens verquickt. In einem weitverzweigten Tauschhandel, wo alles Mögliche versilbert wird, von Picassos über Kalaschnikows bis Heroin, kommen Menschen zu Schaden, werden Menschen getötet.
Sam stieß ein wütendes, frustriertes Geräusch aus, schüttelte den Kopf und lehnte den Rücken gegen die Scheibe. »Ich will bloß rausfinden, ob der Bursche da ein Mörder ist, und wenn ja, ihn verhaften. Es interessiert mich einen feuchten Kehricht, was er ansonsten in seiner Freizeit getrieben hat. Von mir aus könnte er die Mona Lisa verhökert haben, und es wär mir schnurzegal. Wenn Sie ihn ernsthaft für einen Antiquitätenhehler halten, können wir ihn dem DKA übergeben, wenn wir mit ihm fertig sind, aber vorläufig ist er ein Mordverdächtiger. Sonst nichts.«
Frank hob eine Augenbraue. »Sie gehen davon aus, dass es da keine Verbindung gibt. Aber sehen Sie sich doch mal das Muster an. Bis die fünf ins Haus eingezogen sind, hat Naylor nach Herzenslust Steine geschmissen und Hauswände besprüht. Kaum sind sie da, macht er’s noch ein- oder zweimal und dann, einfach so« – er schnippte mit den Fingern –, »Schluss, aus, Sense. Was glauben Sie wohl, warum? Weil er die fünf irgendwie nett fand? Weil er gesehen hat, wie sie renoviert haben, und ihnen nicht den frischlackierten Dielenboden ruinieren wollte?«
»Sie haben ihn verfolgt«, sagte Sam. Dieser Zug um seinen Mund: Er war ganz kurz davor, die Beherrschung zu verlieren. »Er hatte keine Lust, sich vermöbeln zu lassen.«
Frank lachte. »Sie meinen, so ein tiefer Groll löst sich über Nacht in Luft auf? Niemals. Naylor hatte irgendeinen anderen Weg gefunden, Whitethorn House zu schaden – sonst hätte er nicht mit seinen Attacken aufgehört, nicht in tausend Jahren. Und sehen Sie sich an, was passiert, sobald Lexie nicht mehr da ist, um ihm die Antiquitäten zuzuspielen. Er wartet ein paar Wochen, für den Fall, dass sie wieder Kontakt aufnimmt, und als er nichts von ihr hört, schmeißt er postwendend wieder Steine durchs Fenster. Neulich Nacht hatte er keine Angst davor, vermöbelt zu werden, oder?«
»Sie wollen mir was über Muster erzählen? Ich seh da ein ganz anderes Muster. Nachdem die fünf ihm im Dezember hinterhergejagt sind, wird sein Hass nur noch größer. Er wird es nicht mit allen fünf gleichzeitig aufnehmen, aber er spioniert sie aus, stellt fest, dass eine von ihnen die Angewohnheit hat, spätnachts allein spazieren zu gehen. Er belauert sie eine Weile und tötet sie. Als er herausfindet, dass er noch nicht mal das richtig hingekriegt hat, baut sich seine Wut erneut auf, bis er schließlich eine Drohung, das Haus abzufackeln, durchs Fenster wirft. Was denken Sie, was die Schlägerei neulich bei ihm bewirkt hat? Wenn eine von den beiden Frauen aus dem Haus weiter nachts allein in der Gegend herumspaziert, was meinen Sie, was er dann mit ihr macht?«
Frank ging nicht darauf ein. »Die Frage ist«, sagte er an mich gewandt, »was wir jetzt mit Johnny-Boy machen. Wir können ihn wegen Einbruch, Sachbeschädigung, Diebstahl oder was uns sonst noch alles einfällt einbuchten und dann die Daumen drücken, dass er irgendwann sein Herz erleichtern will und den Mord gesteht. Oder wir können das Zeug hier wieder unter sein Bett schieben, uns höflich für seine Mithilfe bei unseren Ermittlungen bedanken, ihn nach Hause schicken und abwarten, was dabei rauskommt.«
In gewisser Weise war dieser Streit von Anfang an unvermeidlich gewesen, von dem Moment an, als Frank und Sam am selben Tatort aufkreuzten. Detectives im Morddezernat haben nur ein Ziel, konzentrieren sich darauf, ihre Ermittlungen langsam und unaufhaltsam einzugrenzen, bis alles Nebensächliche ausgeschlossen ist und sie nur noch den Mörder im Visier haben. Undercoverleute achten auf Nebensächlichkeiten, sie sind nach allen Seiten offen und halten sich den Rücken frei: Man weiß nie, wo Nebenwege hinführen, welches Wild unerwartet den Kopf aus den Büschen reckt, wenn man etwas nur lange genug aus jedem erdenklichen Blickwinkel betrachtet. Sie zünden alle Lunten an, die sie finden, und warten dann ab, wo es knallt.
»Und was dann, Mackey?«, wollte Sam wissen. »Nehmen wir mal für einen Moment an, Sie haben recht, dass Lexie dem Mann Antiquitäten zugespielt hat, die er verkaufen sollte, und dass Cassie das kleine Geschäft wieder anleiert. Was dann?«
»Dann«, sagte Frank, »unterhalte ich mich nett mit den Kollegen vom DKA, kaufe Cassie ein paar hübsche antike Stücke auf der Francis Street, und dann sehen wir weiter.« Er lächelte, aber er musterte Sam wachsam aus zusammengekniffen Augen.
»Für wie lange?«
»So lange wie nötig.«
Das DKA setzt oft Undercoverleute ein, die als Käufer auftreten, als Hehler oder als Verkäufer mit dubiosen Lieferanten, und sich peu à peu an die großen Fische ranarbeiten. Ihre Operationen dauern Monate; sie dauern Jahre.
»Verdammt, ich ermittle hier in einem Mordfall«, sagte Sam. »Schon vergessen? Und ich kann niemanden wegen des Mordes verhaften, solange das Opfer putzmunter ist und silberne Zuckerdöschen verscherbelt.«
»Na und? Sie schnappen ihn sich, wenn die verdeckte Antiquitätenermittlung abgeschlossen ist, so oder so. Bestenfalls finden wir ein Motiv und eine Verbindung zwischen ihm und dem Opfer, was wir beides nutzen könnten, um ihn zu einem Geständnis zu bringen. Schlimmstenfalls verlieren wir ein bisschen Zeit. Aber wir müssen uns ja auch keine Sorgen machen, dass die Verjährungsfrist abläuft.«
Nie im Leben hatte Lexie die letzten drei Monate über nur so zum Spaß irgendwelche Sachen aus Whitethorn House an John Naylor verscherbelt. Nach dem positiven Schwangerschaftstest hätte sie egal was verkauft, um den Absprung zu schaffen, aber bis dahin: nein.
Ich hätte das sagen können, hätte das sagen sollen. Aber andererseits hatte Frank in einem Punkt recht: Naylor würde alles tun, um Whitethorn House zu schaden. Seine eigene Hilflosigkeit trieb ihn in den Wahnsinn wie eine gefangene Katze, so dass er es mit dem Haus aufnahm, das jahrhundertelange Macht verkörperte, obwohl er keine anderen Waffen hatte als Steine und Sprühdosen. Wenn jemand ihm ein paar Beutestücke aus Whitethorn House angeboten hatte, samt dem einen oder anderen Tipp, wo sich das Zeug zu Geld machen ließe, und dem Versprechen, Nachschub zu liefern, war es wahrscheinlich – nein, mehr als nur wahrscheinlich –, dass er dazu nicht hätte nein sagen können.
»Ich mach Ihnen einen Vorschlag«, sagte Frank. »Nehmen Sie sich Naylor noch mal vor – diesmal Sie allein. Er und ich, das klappt einfach nicht. Lassen Sie sich so viel Zeit, wie Sie brauchen. Wenn er irgendwas zu dem Mord von sich gibt – egal was, und wenn es nur eine Andeutung ist –, nehmen wir ihn fest, vergessen die Sache mit den Antiquitäten, holen Cassie da raus und schließen die Ermittlung ab. Wenn Sie nichts aus ihm rauskriegen … «
»Was dann?«, fragte Sam.
Frank zuckte die Achseln. »Wenn Ihre Methode nicht greift, kommen Sie wieder her, und wir unterhalten uns noch mal über meine Methode.«
Sam sah ihn lange an. »Keine Tricks«, sagte er.
»Was denn für Tricks?«
»Reinkommen. An die Tür klopfen, wenn ich ihn fast so weit habe. So was in der Art.«
Ich sah einen Muskel an Franks Kiefer zucken, aber er sagte bloß kühl: »Keine Tricks.«
»Okay«, sagte Sam mit einem tiefen Atemzug. »Ich versuch’s.« Dann zu mir: »Kannst du noch eine Weile hierbleiben?«
»Klar«, sagte ich.
»Könnte sein, dass ich dich brauche – vielleicht ruf ich dich dazu. Je nachdem, wie’s läuft.« Seine Augen glitten zu Naylor, der jetzt angefangen hatte, »Follow Me Up to Carlow« zu singen, gerade so laut, dass es störte. »Drück mir die Daumen«, sagte er, richtete seine Krawatte und war weg.
»Hat dein Freund mich gerade beleidigt?«, erkundigte sich Frank, nachdem die Tür des Beobachtungsraumes sich hinter Sam geschlossen hatte.
»Du kannst ihn ja zum Duell fordern, wenn du willst«, sagte ich.
»Ich spiele fair. Das weißt du.«
»Das tun wir alle«, sagte ich. »Wir haben nur unterschiedliche Vorstellungen davon, was fair bedeutet. Und Sam ist nicht sicher, ob deine Vorstellungen sich mit seinen decken.«
»Dann kann ich mir das mit der Blutsbrüderschaft wohl abschminken«, sagte Frank. »Ich werd’s überleben. Was hältst du von meiner kleinen Theorie?«
Ich beobachtete Naylor durch die Scheibe, aber ich konnte Franks bohrenden Blick auf meinem Gesicht spüren. »Ich weiß noch nicht«, sagte ich. »Ich hab den Kerl nicht lange genug gesehen, um mir eine Meinung zu bilden.«
»Aber du hast genug von Lexie gesehen – aus zweiter Hand, aber trotzdem, du weißt so viel über sie wie kaum jemand sonst. Denkst du, sie wäre zu so was fähig gewesen?«
Ich zuckte die Achseln. »Wer weiß? Das Entscheidende bei der Frau ist doch, dass keiner weiß, zu was sie fähig war.«
»Du hast dich vorhin auffällig bedeckt gehalten. Ist sonst gar nicht deine Art, so lange keinen Piep zu sagen, jedenfalls nicht, wenn du eigentlich eine Meinung haben müsstest. Ich würde gern wissen, auf welcher Seite du stehst, wenn dein Freund mit nichts wieder rauskommt und wir unsere Debatte fortsetzen müssen.«
Die Tür zum Vernehmungsraum öffnete sich, und Sam kam herein, balancierte in jeder Hand eine Tasse Tee und hielt die Tür mit der Schulter auf. Er sah hellwach aus, beinahe schwungvoll. Die Müdigkeit fällt von dir ab, sobald du es mit einem Verdächtigen zu tun hast. »Psst«, sagte ich. »Ich will das sehen.«
Sam setzte sich mit einem behaglichen Ächzen und schob eine Tasse über den Tisch zu Naylor rüber. »So«, sagte er. Sein ländlicher Tonfall war wie von Zauberhand stärker geworden: Wir gegen die Städter. »Ich hab Detective Mackey gesagt, er soll seinen Papierkram erledigen gehen. Er stört doch nur.«
Naylor hörte auf zu singen und überlegte kurz. »Die ganze Art von dem passt mir nicht«, sagte er schließlich.
Ich sah Sams Mundwinkel zucken. »Mir auch nicht, klar. Aber leider haben wir ihn am Hals.« Frank lachte leise neben mir und trat näher an die Scheibe.
Naylor zuckte die Achseln. »Sie vielleicht. Ich nicht. Solange er hier ist, hab ich nichts zu sagen.«
»Prima«, sagte Sam munter. »Er ist weg, und Sie sollen auch erst mal gar nichts sagen. Sie sollen bloß zuhören. Mir ist zu Ohren gekommen, dass vor vielen Jahren in Glenskehy was passiert ist. Ich finde, es könnte eine Menge erklären. Und ich möchte von Ihnen bloß hören, ob es wahr ist.«
Naylor beäugte ihn misstrauisch, fing aber nicht gleich wieder mit seinem Konzert an. »Also«, sagte Sam und trank einen kräftigen Schluck Tee. »Etwa um die Zeit des Ersten Weltkriegs lebte in Glenskehy eine junge Frau … «
Die Geschichte, die er erzählte, war eine kunstvolle Mischung aus dem, was man ihm in Rathowen berichtet und was ich aus Onkel Simons Opus Magnum entnommen hatte, plus irgendwas mit Mary Pickford in der Hauptrolle. Er zog alle Register: Der Vater der jungen Frau hatte sie aus dem Haus geworfen, sie bettelte in den Straßen von Glenskehy, die Einheimischen spuckten sie im Vorbeigehen an, Kinder warfen mit Steinen … Der krönende Abschluss war eine dezente Andeutung, die Ärmste sei vielleicht von einem wütenden Mob aus dem Dorf gelyncht worden. An dieser Stelle kam der Soundtrack nicht ohne einen schluchzenden Geigenteppich aus.
Als er mit seinem Schmachtfetzen fertig war, wippte Naylor mit seinem Stuhl vor und zurück und musterte ihn mit einem versteinerten, angeekelten Blick. »Nein«, sagte er. »Gott, nein. Das ist der größte Bockmist, den ich in meinem Leben gehört hab. Wer hat Ihnen denn den Schwachsinn erzählt?«
»Bis jetzt«, sagte Sam mit einem Schulterzucken, »hab ich nichts anderes gehört. Solange das keiner für mich richtigstellt, muss ich davon ausgehen, dass es stimmt.«
Der Stuhl knarrte, ein monotones, nerviges Geräusch. »Verraten Sie mir mal was, Detective«, sagte Naylor. »Wieso interessieren Sie sich überhaupt für uns und unsere alten Geschichten? Wir in Glenskehy sind einfache Leute, wissen Sie. Wir sind es nicht gewohnt, dass so wichtige Leute wie Sie uns so viel Aufmerksamkeit schenken.«
»Die Nummer hat er schon im Auto auf dem Weg hierher abgezogen«, warf Frank ein und lehnte sich bequem mit der Schulter an den Rand der Scheibe. »Der Junge leidet unter Verfolgungswahn.«
»Psst.«
»Oben in Whitethorn House hat’s einigen Ärger gegeben«, sagte Sam. »Aber das muss ich Ihnen ja nicht erzählen. Uns liegen Informationen vor, dass zwischen dem Haus und den Leuten von Glenskehy eine gewisse Abneigung herrscht. Ich muss die Sachlage klären, um abschätzen zu können, ob es da eine Verbindung gibt.«
Naylor lachte, ein hartes, trockenes Bellen. »Abneigung«, sagte er. »So könnte man das auch nennen, ja. Haben die im Haus Ihnen das erzählt?«
Sam zuckte die Achseln. »Die haben bloß erwähnt, dass sie im Pub nicht willkommen waren. Aber wieso auch? Schließlich sind sie keine Einheimischen.«
»Diese Glückspilze. Da haben sie ein bisschen Ärger am Hals, und schon kreuzt eine Horde Detectives auf, um ihnen zu helfen. Aber wenn die Einheimischem Ärger haben, wo bleiben sie dann, die tollen Detectives? Wo wart ihr denn, als diese Frau aufgehängt wurde? Das habt ihr als Selbstmord zu den Akten gelegt, und dann ab in den Pub.«
Sams Augenbrauen hoben sich. »Es war kein Selbstmord?«
Naylor musterte ihn. Durch die verquollenen, halb geschlossenen Augen sah er düster aus, gefährlich. »Soll ich Ihnen erzählen, wie’s wirklich war?«
Sam machte eine kleine, lockere Handbewegung: Ich höre.
Nach einem Moment kippte Naylor seinen Stuhl nach vorne, streckte die Arme aus und schloss die Hände – abgebrochene Nägel, dunkler Schorf auf den Knöcheln – um seine Tasse. »Das Mädchen arbeitete als Dienstmagd oben in Whitethorn House«, sagte er. »Und einer von den jungen Burschen da, einer von den Marchs, verguckte sich in sie. Vielleicht war sie so dumm, dass sie geglaubt hat, er würde sie heiraten, vielleicht auch nicht, aber auf jeden Fall geriet sie in Schwierigkeiten.«
Er sah Sam mit einem langen Raubvogelblick an, vergewisserte sich, dass er verstanden hatte. »Kein Mensch hat sie aus ihrem Elternhaus geworfen. Wahrscheinlich hat ihr Vater getobt, und wahrscheinlich hat er davon geredet, diesem March irgendwann nachts draußen aufzulauern, aber es wäre Wahnsinn gewesen, wenn er das gemacht hätte. Blanker Wahnsinn. Das war vor der Unabhängigkeit, klar? Den Marchs gehörte halb Glenskehy. Wer immer das Mädchen war, den Marchs gehörte das Haus ihres Vaters. Ein Wort zu viel, und seine Familie hätte auf der Straße gesessen. Also hat er nichts gemacht.«
»Leicht ist ihm das bestimmt nicht gefallen«, sagte Sam.
»Leichter, als Sie denken. Damals wollten die meisten Leute so wenig wie möglich mit Whitethorn House zu tun haben. Es hatte einen schlechten Ruf. Der Weißdorn ist ein Trollbaum, verstehen Sie?« Ein grimmiges, hintersinniges Lächeln glitt über sein Gesicht. »Es gibt noch immer Leute, die nachts nicht unter einem Weißdorn hergehen würden, obwohl sie Ihnen den Grund dafür nicht erklären könnten. Heutzutage gibt es nur noch Reste von Aberglauben, aber damals war er weit verbreitet. Das hing mit der Dunkelheit zusammen: kein elektrischer Strom und die langen Winternächte, da beflügelten die Schatten schon mal die Phantasie. Viele glaubten, die Leute oben in Whitethorn House würden mit den Trollen im Bunde stehen oder mit dem Teufel, je nach Sichtweise.« Wieder dieser Anflug eines halbherzigen kalten Lächelns. »Was meinen Sie, Detective? Waren wir alle damals verrückte Primitivlinge?«
Sam schüttelte den Kopf. »Auf der Farm von meinem Onkel gibt es einen Trollring«, sagte er sachlich. »Er glaubt nicht an Trolle, hat er noch nie, aber er pflügt drum herum.«
Naylor nickte. »Jedenfalls, als die junge Frau damals schwanger wurde, sagten die Leute in Glenskehy, sie hätte sich mit einem von den Trollmännern oben im Haus eingelassen und würde ein Trollkind bekommen. Und sie hätte es nicht besser verdient.«
»Die Leute dachten, das Kind würde ein Wechselbalg?«
»Achtung, Captain Kirk«, sagte Frank. »Unbekannte Lebensform genau vor uns.« Er bebte vor unterdrücktem Lachen. Ich hätte ihn am liebsten in den Hintern getreten.
»Ja, das dachten sie«, sagte Naylor kalt. »Und sehen Sie mich nicht so an, Detective. Wir reden hier über meine Urgroßeltern, meine und Ihre. Können Sie schwören, dass Sie nicht dasselbe geglaubt hätten, wenn Sie damals geboren worden wären?«
»Es waren andere Zeiten«, sagte Sam und nickte.
»Nicht alle haben das gesagt. Nur ein paar, hauptsächlich die älteren Leute. Aber immerhin so viele, dass es diesem March irgendwann zu Ohren kam, dem Kindsvater. Entweder er hatte das Kind von Anfang an loswerden wollen und nur auf einen Vorwand gewartet, oder er war irgendwie nicht richtig im Kopf. Viele von denen oben im Haus waren immer ein bisschen merkwürdig. Vielleicht hat man ihnen deshalb nachgesagt, sie hätten Umgang mit Trollen. Jedenfalls, er hat es geglaubt. Er dachte, irgendwas würde mit ihm nicht stimmen, irgendwas in seinem Blut würde das Kind zugrunde richten.«
Sein malträtierter Mund verzog sich. »Also verabredete er sich eines Nachts mit der Frau, vor der Geburt des Babys. Sie ging hin, ganz arglos: Er war schließlich ihr Geliebter. Sie dachte, er wollte Vorkehrungen treffen, damit sie und das Kind versorgt sind. Und stattdessen nahm er einen Strick und knüpfte sie mitsamt ihrem Kind an einem Baum auf. Das ist die wahre Geschichte. Die kennt jeder in Glenskehy. Sie hat sich nicht umgebracht, und es hat sie auch keiner aus dem Dorf umgebracht. Der Kindsvater hat sie umgebracht, weil er Angst vor seinem eigenen Baby hatte.«
»Diese blöden Dorfdeppen«, sagte Frank. »Ehrlich, fahr raus aus Dublin, und schon bist du in einem fremden Universum. Von so was kann Jerry Springer nur träumen.«
»Mögen sie in Frieden ruhen«, sagte Sam leise.
»Ja«, sagte Naylor. »Hoffentlich. Eure Leute haben die Sache als Selbstmord eingestuft, bloß um keinen von den feinen Pinkeln aus dem Herrenhaus einlochen zu müssen. Sie wurde in ungeweihter Erde begraben, sie und das Kind.«
Vielleicht war es wahr. Jede Version, die wir gehört hatten, könnte die wahre sein, jede oder keine. Nach hundert Jahren war das nicht mehr festzustellen. Entscheidend war, dass Naylor glaubte, was er sagte, jedes Wort. Er verhielt sich nicht wie ein Schuldiger, aber das hatte weniger zu sagen, als man meinen sollte. Er war so von Hass verzehrt – diese schneidende Eindringlichkeit in seiner Stimme –, dass er vielleicht glaubte, nichts Falsches getan zu haben. Mein Herz schlug schnell und schwer. Ich dachte an die anderen, die gesenkten Köpfe in der Bibliothek, die auf meine Rückkehr warteten.
»Wieso hat mir das keiner im Dorf erzählt?«, fragte Sam.
»Weil es Sie nichts angeht. Wir wollen nicht, dass man uns so kennt: das verrückte Dorf, wo ein Irrsinniger sein uneheliches Baby umgebracht hat, weil es ein Trollkind geworden wäre. Wir in Glenskehy sind anständige Leute. Wir sind einfache Leute, aber wir sind keine Wilden, und wir sind auch keine Idioten, und wir lassen uns von keinem zur Jahrmarktsattraktion machen, klar? Wir wollen einfach in Ruhe gelassen werden.«
»Aber irgendwer gibt nun mal keine Ruhe«, stellte Sam fest. »Irgendwer hat BABY-MÖRDER an die Fassade von Whitethorn House gesprüht, zweimal. Irgendwer hat vorgestern Nacht einen Stein durchs Fenster geworfen und sich mit den jungen Leuten geprügelt, als sie ihn verfolgt haben. Irgendwer will dieses Kind nicht in Frieden ruhen lassen.«
Langes Schweigen. Naylor rutschte auf seinem Stuhl hin und her, berührte seine aufgeplatzte Lippe mit einem Finger und sah nach, ob Blut dran war. Sam wartete.
»Es ging ja nicht bloß um das Baby«, sagte Naylor schließlich. »Das war schlimm genug, klar. Aber es hat nur gezeigt, wie diese ganze Familie ist. Ihre ganze Art. Ich wusste nicht, wie ich sonst drauf aufmerksam machen sollte.«
Er war kurz davor, das mit den Schmierereien zuzugeben, aber Sam ging darüber hinweg. Er wollte mehr. »Wie ist sie denn?«, fragte er. Er saß zurückgelehnt da, balancierte seine Tasse auf einem Knie, locker und interessiert, wie ein Mann, der sich auf einen schönen langen Abend in seiner Stammkneipe einrichtet.
Naylor betupfte sich wieder geistesabwesend die Lippe. Er überlegte angestrengt, suchte nach Worten. »Ihr Detectives habt euch doch so gründlich mit Glenskehy beschäftigt. Habt ihr auch was über seine Herkunft rausgefunden?«
Sam grinste. »Mein Irisch ist ziemlich eingerostet. Irgendwas mit Weißdorn, glaub ich.«
Naylor reagierte mit einem knappen ungeduldigen Kopfschütteln. »Nein, nein, nicht der Name. Der Ort. Das Dorf. Glenskehy, was meinen Sie, wie das entstanden ist?«
Sam schüttelte den Kopf.
»Die Marchs. Die haben es gegründet, weil sie es praktisch fanden. Als sie das Land bekamen und das Haus bauten, brauchten sie Leute, die für sie arbeiteten – Dienstmädchen, Gärtner, Stallburschen, Wildhüter … Sie wollten, dass die Bediensteten auf ihrem Grund und Boden lebten, unter ihrer Knute, um sie besser kontrollieren zu können, aber zu dicht wollten sie sie auch nicht auf der Pelle haben. Sie wollten keine stinkenden Bauern riechen müssen.« Sein Mund hatte einen hämischen, angewiderten Zug angenommen. »Also bauten sie ein Dorf für ihr Gesinde. So wie andere einen Swimmingpool bauen lassen oder ein Gewächshaus oder einen Stall für ihre Ponys. Bloß ein bisschen Luxus, um das Leben angenehmer zu gestalten.«
»So sollte man nicht mit Menschen umgehen«, pflichtete Sam bei. »Aber das ist lange her.«
»Lange her, ja. Damals hatten die Marchs noch Verwendung für Glenskehy. Und jetzt, wo es ihrem Vergnügen nichts mehr nützt, warten sie ab und sehen zu, wie es stirbt.« In Naylors Stimme schwoll etwas an, etwas Unberechenbares und Gefährliches, und zum ersten Mal konnte ich eine Verbindung herstellen zwischen diesem Mann, der mit Sam über die Geschichte seiner Heimat sprach, und der wilden Kreatur, die auf dem dunklen Feldweg versucht hatte, mir die Augen auszudrücken. »Das Dorf zerfällt. Noch ein paar Jahre, und es wird nicht mehr da sein. Die Einzigen, die noch bleiben, sind diejenigen, die nicht wegkönnen, so wie ich, während der Ort stirbt und irgendwann alle mit ihm. Wissen Sie, warum ich nicht auf die Uni gegangen bin?«
Sam schüttelte den Kopf.
»Ich bin nicht blöd. Von meinen Noten her hätte ich das locker gepackt. Aber ich musste in Glenskehy bleiben und mich um meine Eltern kümmern, und da gibt es keine Arbeit, für die man eine gute Ausbildung braucht. Da gibt es bloß Farmen. Wozu studieren, wenn ich doch bloß auf irgendeiner Farm Mist schaufeln würde? Ich hab gleich nach der Schule damit angefangen. Ich hatte keine andere Wahl. Und Dutzenden anderen ist es genauso ergangen wie mir.«
»Das ist aber nicht die Schuld der Familie March«, gab Sam zu bedenken. »Was hätten die denn dagegen tun können?«
Wieder dieses harte, bellende Lachen. »Sie hätten einiges tun können. Einiges. Vor vier oder fünf Jahren hat sich im Dorf jemand umgesehen, der stammte aus Galway, wie Sie. War Immobilieninvestor. Er wollte Whitethorn House kaufen und in ein Luxushotel umwandeln, einen Golfplatz anlegen und so weiter. Er hatte große Pläne, dieser Bursche. Können Sie sich vorstellen, was das für Glenskehy bedeutet hätte?«
Sam nickte: »Jede Menge Arbeitsplätze.«
»Nicht nur das. Touristen und neue Dienstleistungsunternehmen. Menschen, die hergezogen wären, um für die neuen Unternehmen zu arbeiten. Junge Leute, die geblieben wären, anstatt nach Dublin zu verschwinden, sobald sie können. Neue Häuser und Straßen. Endlich wieder eine eigene Schule, anstatt unsere Kinder nach Rathowen schicken zu müssen. Arbeit für Lehrer, einen Arzt, vielleicht auch Immobilienmakler – für gebildete Menschen. Nicht alles auf einmal, wahrscheinlich hätte es Jahre gedauert, aber wenn die Sache erst mal in Gang gekommen wäre … Mehr hätten wir gar nicht gebraucht: bloß diesen einen Anstoß. Diese eine Chance. Und Glenskehy hätte sich wieder erholt.«
Vor vier oder fünf Jahren. Danach hatten die Angriffe auf Whitethorn House begonnen. Naylor entsprach einwandfrei meinem Profil, Stück für Stück. Whitethorn House als Hotel, bei der Vorstellung konnte ich den Anblick seines Gesichts schon besser ertragen, aber trotzdem: Irgendwie wurde man doch von der Leidenschaft in seiner Stimme mitgerissen, von dieser strahlenden Vision, die sein Herz höherschlagen ließ, das Dorf wieder geschäftig und hoffnungsfroh, lebendig.
»Aber Simon March wollte nicht verkaufen?«, fragte Sam.
Naylor schüttelte den Kopf, ein langsames, zorniges Wiegen, verzog das Gesicht, fasste sich an die geschwollene Kinnlade. »Ein einziger Mann, allein in einem Haus, in dem eine Großfamilie Platz hätte. Was hatte er davon? Aber er wollte nicht verkaufen. Es hat immer nur Unglück gebracht, dieses Haus, von dem Tag an, als es gebaut wurde, und er hat verbissen daran festgehalten, anstatt zuzulassen, dass es einmal was Gutes bewirkt. Und dabei ist es geblieben, auch als er dann starb: Der junge Kerl war seit Ewigkeiten nicht mehr in Glenskehy gewesen, er hat keine Familie, er brauchte das Haus nicht, aber er hat daran festgehalten. So sind sie, diese Marchs. So sind sie schon immer gewesen. Sie behalten, was sie wollen, und der Rest der Welt kann vor die Hunde gehen.«
»Es ist der Familienstammsitz«, wandte Sam ein. »Vielleicht hängen sie dran.«
Naylors Kopf fuhr hoch, er starrte Sam an, und seine hellen Augen loderten zwischen den Schwellungen und den dunklen Blutergüssen. »Wenn ein Mann etwas erschafft«, sagte er, »hat er die Pflicht, sich drum zu kümmern. Jedenfalls, wenn er anständig ist. Wenn man ein Kind in die Welt setzt, dann hat man es zu versorgen, solange es einen braucht. Man hat kein Recht, es zu töten, nur weil es einem nicht mehr in den Kram passt. Wenn man ein Dorf gründet, dann hat man sich drum zu kümmern und es mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln am Leben zu erhalten. Man hat kein Recht, einfach nur zuzusehen, wie es stirbt, bloß damit man ein Haus behalten kann.«
»Da muss ich ihm tatsächlich recht geben«, sagte Frank neben mir. »Vielleicht sind wir uns ähnlicher, als ich gedacht hab.«
Ich hörte ihn kaum. In einem Punkt war mein Profil doch falsch gewesen: Dieser Mann hätte Lexie nie und nimmer getötet, weil sie ein Kind von ihm erwartete oder auch nur, weil sie in Whitethorn House lebte. Ich hatte ihn für einen Rächer gehalten, von der Vergangenheit besessen, aber er war weit komplizierter und extremer. Er war von der Zukunft besessen, der Zukunft seiner Heimat, die wie Wasser versickerte. Die Vergangenheit war nur deren dunkler siamesischer Zwilling, der um diese Zukunft geschlungen war, sie dirigierte, sie formte.
»War das alles, was Sie von den Marchs wollten?«, fragte Sam ruhig. »Dass sie sich anständig verhielten – das Haus verkauften, Glenskehy eine Chance gaben?«
Nach längerem Zögern nickte Naylor, ein steifer, widerwilliger Ruck.
»Und Sie dachten, das könnten Sie nur erreichen, indem Sie ihnen Angst einjagen.«
Wieder ein Nicken. Frank stieß einen leisen tonlosen Pfiff aus. Ich hielt den Atem an.
»Und wie könnte man ihnen besser Angst einjagen«, sagte Sam wohlüberlegt und sachlich, »als einer von ihnen eines Nachts ein bisschen mit dem Messer zu Leibe zu rücken. Nichts Ernstes, ihr soll nichts Schlimmes passieren. Die sollen bloß begreifen, dass sie nicht willkommen sind.«
Naylors Tasse knallte auf den Tisch, er stieß seinen Stuhl zurück und verschränkte die Arme fest vor der Brust. »Ich hab keiner Menschenseele was getan. Niemals.«
Sam zog die Stirn kraus. »In derselben Nacht, als Sie sich Ihre Prellungen eingehandelt haben, hat irgendwer drei Bewohner von Whitethorn House ziemlich übel zugerichtet.«
»Das war ein Kampf. Ein ehrlicher Kampf – und die waren zu dritt gegen mich allein. Das ist ja wohl was anderes. Ich hätte Simon March x-mal töten können, wenn ich gewollt hätte. Ich hab ihm nie ein Haar gekrümmt.«
»Aber Simon March war alt. Sie wussten, dass er nicht mehr lange leben würde, und Sie wussten, dass seine Erben das Haus vermutlich eher verkaufen würden als raus nach Glenskehy zu ziehen. Sie konnten es sich leisten abzuwarten.«
Naylor wollte etwas sagen, aber Sam sprach weiter, bedächtig und unbeirrt, schnitt ihm das Wort ab. »Aber dann tauchte Daniel mit seinen Freunden auf, und auf einmal sah die Sache ganz anders aus. Die wollten bleiben, und sie ließen sich nicht von ein paar Dosen Sprühfarbe verscheuchen. Also mussten sie den Einsatz erhöhen, nicht wahr?«
»Nein. Ich hab nie –«
»Sie mussten ihnen laut und deutlich sagen: Verschwindet, wenn ihr wisst, was gut für euch ist. Sie hatten Lexie Madison beobachtet, wenn sie spätabends spazieren ging – vielleicht waren Sie ihr auch schon mal gefolgt, hab ich recht?«
»Ich –«
»Sie kamen aus dem Pub. Sie waren betrunken. Sie hatten ein Messer dabei. Sie dachten an die Marchs und was sie Glenskehy angetan hatten, und Sie gingen zum Haus, um endlich eine Entscheidung herbeizuführen. Vielleicht wollten Sie ihr ja bloß drohen, war’s so?«
»Nein –«
»Wie ist es dann gewesen, John? Erzählen Sie’s mir. Wie?«
Naylor schoss nach vorne, hob die Fäuste und verzog den Mund zu einem wütenden Knurren. Er war ganz kurz davor, sich auf Sam zu stürzen. »Ihr kotzt mich an. Die oben im Haus brauchen nur zu pfeifen, und schon kommt ihr angerannt wie brave Hündchen. Die jammern euch irgendwas über den bösen Bauern vor, der nicht weiß, wo er hingehört, und schon schleppt ihr mich hierher und beschuldigt mich, eine von denen angegriffen zu haben. Das ist Scheiße. Ich will, dass sie aus Glenskehy verschwinden – und das werden sie auch, garantiert –, aber ich hab nicht im Traum dran gedacht, einem von denen was zu tun. Niemals. Das gönn ich denen nicht. Wenn die ihre Sachen packen und abhauen, will ich dabei sein und ihnen hinterherwinken.«
Es hätte eine Enttäuschung sein müssen, aber es jagte wie Speed durch mein Blut, pochte oben im Hals, verschlug mir den Atem. Es war ein Gefühl – und ich lehnte mich gegen die Scheibe, hielt mein Gesicht so, dass Frank es nicht sehen konnte –, ein Gefühl, als wäre mir eine Gnadenfrist geschenkt worden.
Naylor war noch nicht fertig. »Diese verdammten Schweine benutzen euch, um mich in meine Schranken zu verweisen, so wie sie seit dreihundert Jahren die Obrigkeit und überhaupt jeden benutzen. Ich verrate Ihnen mal was, Detective, und das würde ich auch den Leuten sagen, die Ihnen diesen Quatsch mit dem Lynchmob erzählt haben. Sie können in Glenskehy rumschnüffeln, so viel Sie wollen, aber finden werden Sie nichts. Diese junge Frau ist von niemandem aus dem Dorf angegriffen worden. Ich weiß, es ist schwierig, gegen Reiche vorzugehen und nicht immer nur gegen die Armen, aber falls Sie einen Verbrecher schnappen wollen und nicht bloß einen Sündenbock, dann suchen Sie in Whitethorn House nach ihm. Bei mir zu Hause züchten wir nämlich keine.«
Er verschränkte die Arme, kippelte seinen Stuhl wieder auf die Hinterbeine und begann »The Wind That Shakes the Barley« zu singen. Frank trat von der Scheibe weg und lachte leise in sich hinein.
Sam versuchte es noch über eine Stunde. Er zählte jeden einzelnen Vorfall von Sachbeschädigung der letzten viereinhalb Jahre auf, sämtliche Beweise, die Naylor mit dem Steinwurf und dem Kampf in Verbindung brachten. Manche waren echt – seine Prellungen, meine Beschreibung – und manche erfunden, Fingerabdrücke, Handschriftenanalyse. Er kam in den Beobachtungsraum, schnappte sich die Beweismittelbeutel, ohne Frank oder mich anzusehen, und warf sie vor Naylor auf den Tisch. Er drohte, ihn wegen Einbruchs festzunehmen, wegen Körperverletzung, alles außer Mord. Naylor revanchierte sich mit »The Croppy Boy«, »Four Green Fields« und, um mal den Rhythmus zu wechseln, »She Moved Through the Fair«.
Schließlich musste Sam kapitulieren. Nachdem er Naylor im Vernehmungszimmer allein gelassen hatte, verging eine ganze Weile, ehe er wieder zu uns in den Beobachtungsraum kam, die Beweismittelbeutel von einer Hand baumelnd und die Erschöpfung wieder ins Gesicht geschrieben, tiefer als je zuvor.
»Ich fand, das ist prima gelaufen«, sagte Frank munter. »Sie hätten sogar ein Geständnis für die Sachbeschädigung kriegen können, wenn Sie nicht auf den Hauptgewinn geschielt hätten.«
Sam ignorierte ihn. »Was meinst du?«, fragte er mich.
Soweit ich das sagen konnte, gab es noch eine klitzekleine Möglichkeit, einen einzigen Anlass, der Naylor so aus der Bahn geworfen hätte, dass er mit dem Messer auf Lexie losgegangen wäre: falls er der Vater des Babys gewesen war und sie ihm gesagt hatte, dass sie abtreiben wollte. »Ich weiß nicht«, sagte ich. »Ich weiß es wirklich nicht.«
»Ich glaube nicht, dass er unser Mann ist«, sagte Sam. Er warf die Beweismittelbeutel auf den Tisch und lehnte sich schwer dagegen, legte den Kopf in den Nacken.
Frank tat erstaunt. »Sie wollen schon aufgeben, weil er einen Vormittag durchgehalten hat? In meinen Augen ist er ein ganz vielversprechender Kandidat: Motiv, Gelegenheit, Veranlagung … Bloß weil er Ihnen eine tolle Geschichte erzählt hat, wollen Sie ihn lediglich wegen Sachbeschädigung festnehmen und unsere Chance vertun, ihn wegen Mordes dranzukriegen?«
»Ich weiß nicht«, sagte Sam. Er presste sich die Handballen auf die Augen. »Ich weiß nicht, was ich jetzt noch machen soll.«
»Jetzt«, sagte Frank, »versuchen wir’s auf meine Art. Seien wir ehrlich: Ihre Methode hat nichts gebracht. Wir setzen Naylor auf freien Fuß, lassen Cassie versuchen, irgendwas über den Antiquitätenhandel aus ihm rauszukriegen, und warten ab, ob uns das in dem Mordfall irgendwie weiterbringt.«
»Dem Mann geht es nicht um Geld«, sagte Sam, ohne Frank anzusehen. »Dem geht es um sein Dorf und um das, was Whitethorn House dem Dorf angetan hat.«
»Also hat er ein Anliegen. Nichts auf der Welt ist gefährlicher als ein Fanatiker. Was glauben Sie, wie weit er für sein Anliegen gehen würde?«
Darauf muss man gefasst sein, wenn man mit Frank streitet: Er verstellt die Torpfosten so schnell, dass du es gar nicht mitkriegst, und du verlierst ständig aus den Augen, was der eigentliche Anlass für die Diskussion war. Ich wusste nicht, ob er tatsächlich an diese Gaunerei mit den Antiquitäten glaubte oder ob er in dieser Phase einfach nur gewillt war, alles zu versuchen, um Sam auszubooten.
Sam wirkte allmählich leicht benommen, wie ein Boxer, der zu viele Kopftreffer eingesteckt hat. »Ich glaube nicht, dass er ein Mörder ist«, sagte er beharrlich. »Und ich wüsste auch nicht, warum er ein Hehler sein sollte. Darauf deutet nichts hin.«
»Fragen wir doch mal Cassie«, schlug Frank vor. Er beobachtete mich genau. Frank war schon immer eine Spielernatur gewesen, aber ich hätte gern gewusst, was ihn bewog, auf dieses Pferd zu setzen. »Was meinst du, Kleines? Besteht die Chance, dass ich mit dieser Antiquitätenschieberei richtigliege?«
In dieser Sekunde schossen mir tausend Dinge durch den Kopf. Der Beobachtungsraum, den ich wie meine Westentasche kannte, bis hin zu dem Flecken im Teppich, wo ich vor zwei Jahren einen Kaffeebecher hatte fallen lassen und in dem ich jetzt zur Besucherin geworden war. Die Detective-Barbie-Klamotten, die in meinem Schrank hingen, Mahers feuchte Räusperorgie jeden Morgen. Die anderen, die in der Bibliothek auf mich warteten. Der kühle Maiglöckchenduft in meinem Zimmer in Whitethorn House, der mich hauchzart umfing.
»Könnte sein«, sagte ich, »klar. Würde mich nicht wundern.«
Sam, der zugegebenermaßen schon einen langen Tag hinter sich hatte, fuhr endlich aus der Haut. »Menschenskind, Cassie! Bist du verrückt geworden? Diesen Schwachsinn kannst du doch nicht ernsthaft glauben. Auf welcher Seite stehst du eigentlich?«
»Versuchen wir doch bitte, nicht in solchen Kategorien zu denken«, warf Frank tugendhaft ein. Er hatte sich bequem gegen die Wand gelehnt, Hände in den Taschen, um das Geschehen zu beobachten. »Wir stehen alle auf derselben Seite.«
»Halt dich da raus, Frank«, sagte ich scharf, ehe Sam ihm eine verpassen konnte. »Und Sam, ich bin auf Lexies Seite. Nicht auf Franks, nicht auf deiner, nur auf ihrer. Okay?«
»Genau das hab ich befürchtet.« Sam bemerkte meinen verblüfften Gesichtsausdruck. »Was denn? Hast du gedacht, ich mache mir nur wegen diesem Arschloch da« – Frank zeigte auf seine Brust und setzte eine gekränkte Miene auf – »Sorgen? Der ist schlimm genug, weiß Gott, aber ich kann ihn wenigstens im Auge behalten. Aber diese Lexie – auf ihrer Seite, das ist ein ganz, ganz schlechter Ort. Ihre Mitbewohner waren auch auf ihrer Seite, und falls Mackey recht hat, hat Lexie sie allesamt verraten und verkauft, ohne mit der Wimper zu zucken. Ihr Freund drüben in Amerika, der war auch auf ihrer Seite, er hat sie geliebt, und sieh dir an, was sie mit ihm gemacht hat. Der arme Kerl ist ein Wrack. Hast du den Brief gelesen?«
»Brief?«, sagte ich zu Frank. »Welchen Brief?«
Er zuckte die Achseln. »Chad hat ihr einen Brief geschrieben, über meinen FBI-Freund. Sehr bewegend und so, aber ich hab ihn Wort für Wort durchleuchtet, und da steht nichts drin, was uns weiterhilft. Ich wollte dich nicht ablenken.«
»Verdammt, Frank! Wenn du irgendwas hast, was mir mehr über sie verrät, egal was –«
»Wir reden später drüber.«
»Lies ihn«, sagte Sam. Seine Stimme klang fast wund, und sein Gesicht war weiß, so weiß wie an jenem ersten Tag am Tatort. »Lies den Brief – ich geb dir eine Kopie, falls Mackey es nicht tut. Dieser Chad ist am Boden zerstört. Viereinhalb Jahre ist es her, und er hat seitdem keine Freundin mehr gehabt. Wahrscheinlich wird er nie wieder einer Frau vertrauen. Wie auch? Der ist eines Morgens aufgewacht, und sein ganzes Leben lag in Trümmern. Alles, wovon er geträumt hat, futsch, in Luft aufgelöst.«
»Wenn Sie nicht wollen, dass ihr Superintendent angerannt kommt«, sagte Frank aalglatt, »sollten Sie sich etwas zurückhalten.«
Sam hörte ihn gar nicht. »Und nicht zu vergessen, sie ist in North Carolina nicht vom Himmel gefallen. Davor war sie irgendwo anders, und davor vermutlich auch noch woanders. Irgendwo da draußen gibt es noch mehr Menschen – Gott allein weiß, wie viele –, die sich immer fragen werden, wo sie jetzt ist, ob sie irgendwo zerstückelt verscharrt wurde, ob sie aus dem Gleis geraten und auf der Straße gelandet ist, ob sie ihr überhaupt je was bedeutet haben, Menschen, deren Leben von einem Tag auf den anderen aus den Fugen geraten ist und die wissen wollen, was verdammt nochmal passiert ist. Die waren alle auf Lexies Seite, und sieh dir an, was es ihnen gebracht hat. Jeder, der auf ihrer Seite war, hat am Ende zu leiden gehabt, Cassie, jeder, und dir wird es genauso gehen.«
»Mir geht es gut, Sam«, sagte ich. Seine Stimme rollte über mich hinweg wie der zarte Saum eines morgendlichen Dunstschleiers, kaum da, kaum real.
»Beantworte mir eine Frage. Deine letzte ernsthafte Beziehung war, kurz bevor du undercover gegangen bist, hab ich recht? Er hieß Aidan, nicht?«
»Ja«, sagte ich. »Aidan O’Donovan.« Aidan war ein Glücksfall gewesen: intelligent, lebhaft, erfolgreich, mit einem schrägen Sinn für Humor, und er konnte mich zum Lachen bringen, ganz gleich, wie beschissen mein Tag gewesen war. Ich hatte schon lange nicht mehr an ihn gedacht.
»Was ist aus ihm geworden?«
»Wir haben uns getrennt«, sagte ich. »Während ich undercover war.« Für eine Sekunde sah ich wieder Aidans Augen, an dem Abend, als er mit mir Schluss machte. Ich war in Eile, musste zurück in meine Wohnung, um mich noch in der Nacht mit dem Oberkokser zu treffen, der mich dann einige Monate später niederstechen würde. Aidan wartete an der Haltestelle mit mir, bis mein Bus kam, und ich glaube, als ich von der oberen Plattform zu ihm runtersah, hab ich geweint.
»Weil du undercover warst. Weil genau das passiert.« Sam fuhr herum und sah Frank an: »Was ist mit Ihnen, Mackey? Haben Sie eine Frau? Eine Freundin? Irgendwas?«
»Wollen Sie mich auf ein Date einladen?«, entgegnete Frank. Seine Stimme klang amüsiert, aber seine Augen waren schmal geworden. »Dann muss ich Sie nämlich warnen. Ich geh nur in Edelrestaurants.«
»Also nein. Und das hab ich mir gedacht.« Sam fuhr wieder zu mir herum. »Gerade mal drei Wochen, Cassie, und sieh dir an, was mit uns passiert. Willst du das? Was meinst du, was aus uns wird, wenn du für ein Jahr untertauchst, um dieser bescheuerten, absurden Idee nachzujagen?«
»Versuchen wir’s mal so«, sagte Frank leise, noch immer an die Wand gelehnt. »Sie entscheiden, ob es auf Ihrer Seite der Ermittlungen ein Problem gibt, und ich entscheide, ob es auf meiner Seite ein Problem gibt. Einverstanden?«
Der Blick in seinen Augen hatte schon Superintendents und Drogenbarone in die Flucht geschlagen, aber Sam schien ihn gar nicht wahrzunehmen. »Nein, verdammt, ich bin nicht einverstanden. Ihre Seite der Ermittlungen ist ein Scheißkatastrophengebiet, und wenn Sie das nicht sehen können, ich kann es Gott sei Dank noch. Ich habe nebenan einen Verdächtigen sitzen, ob er nun unser Mann ist oder nicht, und den habe ich durch Polizeiarbeit gefunden. Was haben Sie? Drei Wochen von diesem Irrsinn, und alles umsonst. Und anstatt den Schaden zu begrenzen, wollen Sie uns jetzt auch noch zwingen, den Einsatz zu erhöhen und etwas noch Irrsinnigeres anzuleiern –«
»Ich zwinge Sie zu gar nichts. Ich frage Cassie – die, wenn ich Sie daran erinnern darf, in diesem Fall als meine verdeckte Ermittlerin fungiert, nicht als Detective des Morddezernats –, ob sie bereit ist, ihren Einsatz auszuweiten.«
Lange Sommernachmittage im Gras, das Summen von Bienen und das gemächliche Quietschen der Schaukel. Im Kräutergarten knien und ernten, weicher Regen und Herbstrauch in der Luft, der Duft von geschnittenem Rosmarin und Lavendel an meinen Händen. Weihnachtsgeschenke auf dem Boden in Lexies Zimmer einpacken, Schneeflocken vor meinem Fenster, während Rafe Weihnachtslieder auf dem Klavier spielt, Abby in ihrem Zimmer mitsingt und sich der Geruch von Lebkuchen unter meiner Tür hindurchwindet.
Sam und Frank blickten mich an, starr. Beide waren verstummt. Die Stille im Raum war jäh und tief und friedlich. »Klar«, sagte ich. »Wieso nicht?«
Naylor hatte inzwischen »Avondale« angestimmt, und hinten, am Ende des Flurs, regte sich Quigley über irgendwas auf. Ich musste daran denken, wie Rob und ich Verdächtige von diesem Beobachtungsraum aus studiert hatten, wie wir lachend Schulter an Schulter über diesen Flur gegangen waren, wie wir in der vergifteten Luft des Knocknaree-Falls in Stücke zerborsten waren wie ein Meteor, in Rauch und Flammen aufgegangen, und ich empfand absolut nichts, nichts, außer dass sich die Wände um mich herum öffneten und abfielen wie Blütenblätter. Sams Augen waren riesig und dunkel, als hätte ich ihn geohrfeigt, und Frank betrachtete mich mit einem Blick, der mir, wenn ich auch nur halbwegs bei Verstand gewesen wäre, eigentlich hätte Angst einjagen müssen, aber ich spürte nur, wie sich jeder Muskel in mir lockerte, als wäre ich acht Jahre alt und würde an irgendeinem grünen Hang Rad schlagen, bis mir schwindelig wird, als könnte ich tausend Meilen weit durch kühles blaues Wasser tauchen, ohne einmal Luft holen zu müssen. Ich hatte recht gehabt: Freiheit roch nach Ozon und nach Gewittern und Schießpulver, alles zugleich, nach Schnee und Lagerfeuern und frisch gemähtem Gras, sie schmeckte nach Meerwasser und Orangen.