Im Schadensfall
Sie wurde in die Bücherei geführt. Die war zum
Hauptquartier der Invasoren gemacht worden, die langen Tische waren
bedeckt von tragbaren Bildschirmen, an denen Specials saßen, die
vertraute Stille war dem Summen von knappen Mitteilungen und
Befehlen gewichen. Die rasierklingenscharfen Stimmen der grausamen
Pretties ließen Tally mit den Zähnen knirschen.
Dr. Cable wartete an einem der langen Tische. Sie
blätterte in einer alten Zeitschrift und wirkte fast entspannt,
schien mit der Hektik, die sie umgab, nichts zu tun zu haben.
"Ach, Tally." Sie bleckte die Zähne in einem Versuch zu
lächeln. "Schön, dich zu sehen. Setz dich."
Tally fragte sich, was hinter diesem Gruß stecken
mochte. Die Specials behandelten Tally wie eine Komplizin. Hatte
der Anhänger doch irgendein Signal ausgesandt, ehe Tally ihn
zerstört hatte?
Auf jeden Fall bestand ihre einzige Hoffnung auf Flucht
darin, dass sie ihre Rolle spielte. Sie zog einen Stuhl heran und
nahm Platz.
"Meine Güte, nun sieh dich nur an", sagte Dr. Cable.
"Wie du immer aussiehst, und dabei möchtest du doch hübsch
werden."
"Es war ein harter Morgen."
"Bist du in eine Rauferei geraten?"
Tally zuckte mit den Schultern. "Ich wollte nur nicht
im Weg stehen."
"Natürlich nicht." Dr. Cable legte die Zeitschrift mit
der Innenseite nach unten auf den Tisch. "Aber das scheint dir
nicht gerade gut zu gelingen."
Tally hustete zweimal, als die letzten Pfefferreste aus
ihrer Lunge
flogen. "Nein, wahrscheinlich nicht."
Dr. Cable schaute den Bildschirm an. "Du hast
Widerstand geleistet, wie ich sehe?"
"Einige von den Smokies hatten mich schon in Verdacht.
Also hab ich versucht die Siedlung zu verlassen, als ich euch
kommen hörte. Ich wollte nicht dabei sein, wenn die anderen
merkten, was los war. Falls sie wütend auf mich wären."
"Selbsterhaltung. Na, etwas kannst du also doch."
"Ich wollte ja nicht herkommen."
Nein, und du hast dir auch Zeit gelassen." Dr. Cable
ließ sich zurücksinken und legte die Spitzen ihrer langen dünnen
Finger gegeneinander. "Wie lange bist du jetzt genau hier?"
Tally zwang sich, noch einmal zu husten, und fragte
sich, ob sie es wagen würde zu lügen. Ihre Stimme, die vom Pfeffer
noch immer rau und zittrig klang, würde sie wohl kaum verraten. Und
obwohl Dr. Cables Büro in der Stadt vielleicht ein einziger großer
Lügendetektor war - dieser Tisch und der Stuhl hier bestanden aus
solidem Holz, ohne irgendwelche Tricks.
Aber Tally zögerte. "Nicht sehr lange."
"Du bist nicht so schnell hergekommen, wie ich gehofft
hatte."
"Ich hätte es fast überhaupt nicht geschafft. Und als
ich dann endlich hier war, war mein Geburtstag schon ewig lange
vorbei. Deshalb haben sie mich verdächtigt."
Dr. Cable schüttelte den Kopf. "Da hätten wir uns wohl
Sorgen um dich machen sollen, so ganz allein in der Wildnis. Arme
Tally."
"Danke für das Mitgefühl."
"Ich bin sicher, du hättest den Anhänger benutzt, wenn
du echte Probleme bekommen hättest. Wo doch Selbsterhaltung dein
einziges Talent ist."
Tally fauchte. "Falls ich nicht von einer Klippe
gefallen wäre. Und das wäre fast passiert."
"Wir hätten dich trotzdem geholt. Wenn der Anhänger
beschädigt worden wäre, hätte er automatisch ein Signal
ausgesandt."
Tally erfasste den Sinn dieser Worte nur langsam:
Wenn der Anhänger beschädigt worden wäre... Sie packte die
Tischkante und versuchte sich nichts anmerken zu lassen.
Dr. Cable kniff die Augen zusammen. Sie hatte
vielleicht keine Geräte, die Tallys Herzschlag und Stimme und
Schweißproduktion ablesen konnten, aber an ihrem eigenen
Wahrnehmungsvermögen war nichts auszusetzen. Sie hatte diese Worte
gewählt, um eine Reaktion hervorzurufen.
Tallys Finger hoben sich zu ihrem Hals. Natürlich war
Dr. Cable sofort aufgefallen, dass sie den Anhänger nicht mehr
hatte. Ihre Fragen hatten diesen Moment angesteuert. Tallys Gehirn
suchte verzweifelt nach einer Antwort. Sie trug keine Handschellen
mehr. Sie musste fort hier, zur Handelsstation. Hoffentlich lag ihr
Hubbrett noch auf dem Dach, auseinandergeklappt und frisch
aufgeladen in der Morgensonne. "Ich hab ihn versteckt", sagte sie.
"Ich hatte Angst."
"Angst wovor?"
"Vorige Nacht, nachdem ich ganz sicher war, dass ich
hier wirklich in Smoke bin, habe ich den Anhänger aktiviert. Aber
sie haben so ein Gerät,
das Wanzen entdeckt. Sie haben die eine an meinem Brett
gefunden – die,
die Sie da angebracht hatten, ohne es mir zu
sagen."
Dr. Cable lächelte und machte eine hilflose
Handbewegung.
"Das hätte fast alles ruiniert", sagte Tally. "Und
nachdem ich den Anhänger aktiviert hatte, bekam ich Angst, sie
könnten feststellen, dass ein Signal gesendet worden war. Also hab
ich ihn versteckt für den Fall, dass sie danach suchen
würden."
"Ich verstehe. Ein starker Selbsterhaltungstrieb geht
oft Hand in Hand mit einem gewissen Maß an Intelligenz. Ich bin
froh, dass du beschlossen hast uns zu helfen."
"Als ob ich eine Wahl gehabt hätte."
"Du hattest immer die Wahl, Tally. Aber du hast die
richtige Entscheidung getroffen. Du hast dich dafür entschieden,
herzukommen und deine Freundin zu suchen und sie vor einem Leben
als Ugly zu retten. Darüber solltest du doch glücklich sein."
"Ja, ich bin hin und weg vor Begeisterung."
"Ihr seid immer so starrköpfig, ihr Uglies. Na, bald
wirst du ja erwachsen."
Bei diesen Worten lief Tally ein eiskalter Schauer über
den Rücken. Für Dr. Cable bedeutete >erwachsen werden<, dass
das Gehirn verändert wurde.
"Du musst jetzt nur noch eins für mich tun, Tally.
Würde es dir etwas ausmachen, den Anhänger aus seinem Versteck zu
holen? Es gefällt mir nicht, wenn solche Dinge herumliegen."
Tally lächelte. "Ja, nur zu gern."
"Dieser Kollege wird dich nicht begleiten." Dr. Cable
hob einen Finger und ein Special trat neben sie. "Und damit deine
lieben Smokies dir nichts tun, werden wir dich als tapfere
Widerständlerin ausgeben."
Der Special riss Tallys Hände hinter ihrem Rücken
zusammen und sie spürte abermals, wie der Kunststoff sich in ihre
Haut bohrte.
Sie holte tief Luft, ihr Puls hämmerte in ihrem Kopf,
dann zwang sie sich zu sagen: "Von mir aus."
***
"Hier lang."
Tally führte den Special zur Handelsstation und
verschaffte sich dabei einen Überblick über die Lage. Smoke war
geschlagen und stumm. Die Feuer durften ungestört weiterbrennen.
Einige waren schon verloschen, aber noch immer stiegen Rauchwolken
vom verkohlten Holz auf und wirbelten durch die Siedlung.
Einige Gesichter wandten sich Tally mit misstrauischer
Miene zu. Sie war die einzige Smokey, die noch immer herumlief.
Alle anderen lagen auf dem Boden, gefesselt und bewacht, die
meisten in der Nähe des Kaninchenstalls.
Sie versuchte denen, die sie sahen, auf die übliche
grimmige Weise zuzulächeln, damit die vielleicht registrierten,
dass Tally wie alle anderen Handschellen trug.
Als sie die Handelsstation erreicht hatten, schaute
Tally hoch. "Ich hab es auf dem Dach versteckt."
Der Special musterte das Gebäude mit misstrauischer
Miene. "Na gut", sagte er dann. "Du wartest hier. Setz dich auf den
Boden und bleib da sitzen."
Sie zuckte mit den Schultern und ging in die
Knie.
Der Special schwang sich mit einer Leichtigkeit auf das
Dach, die Tally zum Zittern brachte. Wie sollte sie mit diesem
grausamen Pretty fertig
werden? Auch, wenn ihre Hände nicht gefesselt gewesen
wären, wäre er doch größer, stärker, schneller.
Gleich darauf schaute sein Gesicht über die Dachkante.
"Wo liegt das Teil?"
"Unter der Fledermausgaube."
"Der was?"
"Der Fledermausgaube. Du weißt schon, dieses
altmodische Dings gleich oberhalb des Dachfußes."
"Wovon redest du hier eigentlich, zum Teufel?"
"Das ist Smokey-Slang, nehm ich an. Ich kann es dir
zeigen."
Ein neuer Ausdruck huschte über das starre Gesicht des
Specials - Verärgerung, gemischt mit Misstrauen. Aber er sprang
wieder vom Dach und stapelte ein paar Kisten aufeinander. Dann
schwang er sich hinauf, zog Tally hinter sich her und setzte sich
auf die Dachkante, als ob sie keinerlei Gewicht hätte. "Wenn du
auch nur eins von den Hubbrettern anfasst, dann liegst du auf der
Nase", drohte er gelassen.
"Da oben gibt’s Hubbretter?"
Er sprang an ihr vorbei und zog sie ganz aufs Dach.
"Los jetzt!"
"Kein Problem." Sie kletterte vorsichtig das schräge
Dach hoch und übertrieb dabei die Schwierigkeit, ohne ihre Hände im
Gleichgewicht zu bleiben. Die Solarzellen der sich aufladenden
Hubbretter waren im Sonnenlicht blendend hell. Tallys Brett lag zu
weit weg, auf der anderen Seite des Daches, und es war in acht
Teile auseinandergeklappt. Sie würde mindestens eine Minute
brauchen, um es zusammenzulegen. Aber Tally sah eins in ihrer Nähe,
Croys vielleicht, das nur einmal geöffnet war. Das grüne Licht
brannte. Ein Tritt, um es zu schließen, und das Brett wäre
flugbereit.
Aber mit gefesselten Händen konnte Tally nicht fliegen.
Sie würde bei der ersten Kurve herunterfallen.
Sie holte Luft und ignorierte den Teil ihres Gehirns,
der nur sah, wie tief
unter ihr der Boden lag. Wenn der Special so schnell
und stark war, wie sie
glaubte ... "Ich trage eine Bungeejacke", versuchte sie
sich einzureden. "Mir kann gar nichts passieren."
Tally ließ ihre bloßen Füße ausrutschen und kullerte
das Dach hinunter.
Die groben Ziegel zerschrammten ihre Knie und Ellbogen
und sie stieß einen Schmerzensschrei aus. Sie gab sich alle Mühe,
auf dem Dach zu bleiben, ihre Füße stemmten sich gegen das Holz, um
ihren Sturz zu verlangsamen.
Als Tally gerade die Kante erreicht hatte, wurde eine
ihrer Schultern mit eisernem Griff gefasst. Sie rollte weiter ins
Leere und der Boden schien ihr entgegenzurasen. Aber dann kam sie
abrupt zum Halt, wobei ihr fast der Arm ausgekugelt wurde, und sie
hörte die Rasierklingenstimme des Specials einen Fluch ausstoßen.
Sie pendelte einen Moment lang in seinem Griff hin und her, dann
rutschten sie beide weiter ab.
Sie konnte hören, wie die Hände und Füße des Specials
über das Dach kratzen. Aber so stark er auch sein mochte, es gab
nichts, woran er sich festhalten konnte. Tally würde
abstürzen.
Aber wenigstens würde sie ihn dabei mitnehmen.
Dann stieß der Special ein Grunzen aus und Tally
spürte, wie sie mit gewaltiger Kraft hochgezogen und wieder aut das
Dach geworfen wurde. Im gleichen Moment zog ein Schatten über sie
hinweg. Etwas knallte unten auf den Boden auf. Der hatte sich vom
Dach geworfen, um sie zu retten!
Sie rollte sich herum, richtete sich auf und hob die
Hälfte von Croys Hubbrett mit einem Fuß an, worauf es
zusammenklappte. Vom Dachrand her kam ein Geräusch und Tally wich
von Croys Brett zurück.
Die Finger des Specials waren zu sehen, dann schwang er
seinen Körper aufs Dach. Es war ganz und gar unversehrt.
"Alles in Ordnung?", fragte sie. "Meine Güte. Ihr seid
ja vielleicht stark. Danke fürs Retten."
Er musterte sie mit kalter Miene. "Jetzt hol endlich
dieses Ding, versuch, dich dabei nicht umzubringen."
"Okay." Tally drehte sich um, setzte möglichst
ungeschickt einen einen Fuß auf einen Dachziegel und geriet wieder
ins Trudeln. Der hatte sie sofort im Griff. Endlich hörte sie
echten Zorn aus seiner Stimme. "Ihr Uglies seid so ...
unfähig!"
"Na, wenn du vielleicht..."
Noch ehe sie es gesagt hatte, spürte sie, wie der Druck
um ihre Handgelenke verschwand. Sie hob die Hände und rieb ihre
Schultern. "Ach, danke."
"Hör mal", sagte er und die Rasierklingen in seiner
grausamen Stimme waren schärfer denn je. "Ich will dir ja nicht
wehtun, aber ..."
"Wenn es sein muss, wirst du es tun." Tally lächelte.
Er stand genau an der richtigen Stelle.
"Tu einfach, was Dr. Cable will. Und wag ja nicht, eins
von diesen Hubbrettern anzufassen."
"Keine Sorge, ist gar nicht nötig", sagte sie und
schnippte, so laut sie konnte, mit den Fingern beider Hände.
Croys Hubbrett flog hoch und schlug die Füße des
Specials unter ihm weg.
Der Mann stolperte wieder vom Dach und Tally sprang auf
das Brett.