Peris
Tagsüber versteckte sie sich in ihrem Zimmer.
Irgendwo anders hinzugehen war die reine Folter. Die
Uglies in ihrem Haus behandelten sie wie eine wandelnde Seuche und
alle, die sie erkannten, fragten früher oder später: "Wieso bist du
noch nicht hübsch?"
Es war seltsam. Sie war jetzt vier Jahre lang hässlich
gewesen, aber diese wenigen zusätzlichen Tage hatten ihr erst
richtig klargemacht, was dieses Wort wirklich bedeutet. Tally
schaute immer wieder in den Spiegel und registrierte jeden Makel,
alles, was ihr irgendwie entstellend vorkam. Ihre dünnen Lippen,
die sich vor Elend zusammenzogen. Ihre Haare, die noch strubbeliger
waren, weil sie in ihrem Frust immer wieder mit den Händen
hindurchfuhr. Ein Trio von Pickeln explodierte auf ihrer Stirn, wie
um die Tage seit ihrem sechzehnten Geburtstag zu markieren. Ihre zu
kleinen wässrigen Augen starrten sie aus dem Spiegel voller Wut an.
Nur nachts konnte sie dem winzigen Zimmer entkommen, dem nervösen
Starren, ihrem eigenen hässlichen Gesicht.
Sie führte die Hüter hinters Licht und kletterte wie
immer aus dem Fenster, hatte aber keine Lust auf irgendwelche
größeren Tricks. Sie konnte niemanden besuchen, niemandem einen
Streich spielen, und allein die Vorstellung, den Fluss zu
überqueren, tat schon viel zu weh. Sie hatte sich ein neues
Hubbrett besorgt und es so frisiert, wie sie es von Shay gelernt
hatte, deswegen konnte sie nachts wenigstens fliegen.
Aber auch Fliegen war nicht mehr dasselbe. Sie war
allein, es wurde nachts schon kalt, und egal, wie schnell sie flog,
Tally saß in der Falle und wusste das auch.
In der vierten Nacht ihres Ugly-Exils flog sie bis zum
grünen Gürtel und hielt sich am Stadtrand auf. Sie schoss hin und
her, vorbei an den dunklen Säulen aus Baumstämmen, jagte im
Spitzentempo zwischen ihnen hindurch, so schnell, dass ihre Hände
und ihr Gesicht Dutzende von Schrammen abbekamen von den
vorüberzischenden Zweigen.
Nach einer Weile hatte das Fliegen einen Teil ihrer
Ängste vertrieben und Tally kam zu einer glücklichen Erkenntnis: So
war sie noch nie geflogen, sie war jetzt fast so gut wie Shay. Kein
einziges Mal warf das Brett sie ab, weil sie zu dicht an einen Baum
geraten war, und ihre Schuhe klammerten sich an die
Griffoberfläche, als ob sie dort festgeklebt wären. Sie geriet
trotz der herbstlichen Kühle ins Schwitzen, aber sie machte weiter,
bis ihre Beine müde waren, ihre Fußknöchel schmerzten und ihre Arme
wehtaten, weil sie sie die ganze Zeit ausgestreckt hatte wie
Flügel, um ihren Weg durch den dunklen Wald zu finden. Wenn sie die
ganze Nacht so weitermachte, überlegte Tally, würde sie morgen
vielleicht das schreckliche Tageslicht verschlafen können.
Sie flog, bis die Erschöpfung sie zur Heimkehr
zwang.
Als sie in der Morgendämmerung in ihr Zimmer kletterte,
wartete jemand auf sie.
***
"Peris!"
Sein Gesicht öffnete sich zu einem strahlenden Lächeln,
seine großen Augen leuchteten im frühen Licht wunderschön auf. Aber
als er genauer hinsah, änderte seine Miene sich. "Was ist mit
deinem Gesicht passiert, Scheelauge?"
Tally kniff die Augen zusammen. "Weißt du das noch
nicht? Sie haben die Op..."
"Das meine ich nicht." Peris streckte die Hand aus und
berührte ihre Wange, die unter seinen Fingerspitzen schmerzte. "Du
siehst aus, als ob du die ganze Nacht mit Katzen jongliert
hättest."
"Ach so." Tally fuhr sich mit den Fingern durch die
Haare und wühlte in einer Schublade. Sie zog Medspray heraus,
schloss die Augen und spritzte sich das Gesicht voll.
"Au", jammerte sie in den wenigen Sekunden, ehe das
schmerzstillende Mittel seine Wirkung tat. Sie besprühte auch ihre
zerkratzten Hände. "Nur eine Runde Hubbrett um Mitternacht."
"Und ein wenig über Mitternacht hinaus, meinst du
nicht?" Hinter dem Fenster fing die Sonne jetzt gerade an, die
Türme von New Pretty Town rosa zu färben. Katzenkotzerosa. Tally
sah Peris an, erschöpft und verwirrt. "Wie lange bist du schon
hier?"
Er rutschte unbehaglich in ihrem Fenstersessel hin und
her. "Lange genug."
"Tut mir leid. Ich wusste doch nicht, dass du
kommst."
Er hob die Augenbrauen in schöner Besorgnis. "Natürlich
bin ich gekommen. Sowie ich herausgefunden hatte, wo du steckst,
bin ich gekommen."
Tally wandte sich ab und band die Schnürsenkel ihrer
Griffschuhe auf, während sie versuchte sich zu sammeln. Sie hatte
sich seit ihrem Geburtstag so verlassen gefühlt. Auf die Idee, dass
Peris sie vielleicht sehen wollte, noch dazu hier in Uglyville, war
sie nicht gekommen. Aber hier saß er nun, besorgt, fürsorglich,
wunderschön.
"Schön, dich zu sehen", sagte sie und spürte, dass ihr
die Tränen in die Augen traten. Ihre Augen waren derzeit fast immer
rot und geschwollen.
Er strahlte sie an. "Ebenfalls."
Die Vorstellung, wie sie jetzt aussah, war zu viel.
Tally fiel auf ihr Bett, schlug die Hände vors Gesicht und
schluchzte. Peris setzte sich neben sie und berührte ihre Schulter,
während sie sich ausweinte, dann putzte er ihr die Nase und zog sie
zu sich hoch. "Nun sieh dich an, Tally Youngblood."
Sie schüttelte den Kopf. "Bitte, nicht."
"Du bist das hoffnungslose Chaos."
Peris suchte sich eine Bürste und zog sie durch Tallys
Haare. Sie konnte seinen Blick nicht ertragen und starrte zu
Boden.
"Sag mal, fliegst du mit dem Hubbrett immer in Mixern
spazieren?"
Sie schüttelte wieder den Kopf und berührte ganz leicht
die Schrammen auf ihren Wangen. "Nur zwischen Zweigen. Im
Spitzentempo."
"Ach, dich umzubringen soll also dein nächster genialer
Streich sein. Ich nehme an, das würde den derzeitigen noch
übertreffen."
"Den derzeitigen was?"
Peris verdrehte die Augen. "Diesen Trick, durch den du
noch nicht hübsch geworden bist. Wirklich mysteriös."
"Ja. Klasse Trick."
"Seit wann so bescheiden, Scheelauge? Meine Freunde
sind alle fasziniert."
Sie richtete ihre geschwollenen Augen auf ihn, um
festzustellen, ob er sich über sie lustig machte.
"Ich meine, ich hatte ja nach der Nummer mit dem
Feueralarm schon allen von dir erzählt, aber jetzt wollen sie dich
wirklich unbedingt kennenlernen", erzählte er. "Es geht sogar das
Gerücht um, dass die Specials mit der Sache zu tun haben."
Tally kniff die Augen zusammen. Peris meinte es
ernst.
"Na, das stimmt ja auch", sagte sie. "Die sind schuld
daran, dass ich noch nicht hübsch bin."
Peris’ große Augen wurden noch größer. "Wirklich? Na,
das ist vielleicht prickelnd!"
Sie setzte sich auf und runzelte die Stirn. "Haben alle
von denen gewusst, nur ich nicht?"
"Na ja, ich hatte keine Ahnung, wovon die Rede war.
Offenbar sind die Specials wie Kobolde im Märchen, man gibt ihnen
die Schuld, wenn irgendwas schiefgeht. Manche halten sie für ein
reines Hirngespinst und ich kenne keinen Menschen, der wirklich
einen von ihnen gesehen hat."
Tally seufzte. "Da hab ich eben wieder mal das große
Los gezogen."
"Es gibt sie also wirklich?" Peris senkte seine Stimme
zu einem Flüstern. "Sehen sie wirklich anders aus? Du weißt schon,
nicht hübsch."
"Doch, hübsch sind sie schon, Peris. Aber zugleich sind
sie ..." Tally sah ihn an. Er war so schön und er hing an ihren
Lippen. Es kam ihr so perfekt vor, hier neben ihm zu sitzen, mit
ihm zu sprechen und ihn zu berühren, als ob sie niemals getrennt
gewesen wären. Sie lächelte. "Sie sind nur nicht so hübsch wie
du."
Er lachte. "Du musst mir alles darüber erzählen. Aber
wag ja nicht, mit anderen darüber zu reden. Noch nicht. Alle werden
dermaßen neugierig sein. Wir können eine große Party schmeißen,
wenn du erst aufgehübscht worden bist."
Sie versuchte zu lächeln. "Peris ..."
"Ich weiß, du sollst vermutlich nicht darüber reden,
aber wenn du erst den Fluss hinter dich gebracht hast, dann
brauchst du nur ein paar Andeutungen über
Besondere-na-ihr-wisst-schon-was fallen zu lassen, und schon wirst
du zu allen Partys eingeladen. Und dann musst du mich unbedingt
mitnehmen." Er rückte dichter an sie heran. "Es gibt sogar das
Gerücht, dass alle prickelnden Jobs an die Leute fallen, die als
Kinder die irrsten Streiche durchgezogen haben. Aber das liegt ja
noch Jahre in der Zukunft. Wichtig ist jetzt erst mal, dass wir
dich hübsch kriegen."
"Aber Peris", sagte sie und jetzt tat ihr Magen weh.
"Ich glaube nicht, dass ich ..."
"Es wird dir so gut gefallen, Tally. Hübsch zu werden
ist das Beste, was es gibt. Und ich werde es eine Million Mal mehr
genießen, wenn du erst bei mir bist."
"Ich kann nicht."
Er runzelte die Stirn. "Was kannst du nicht?"
Tally schaute zu Peris auf und packte seine Hand.
"Verstehst du, ich soll eine Freundin verpfeifen. Eine gute
Freundin. Ich habe sie kennengelernt, nachdem du weg warst."
"Verpfeifen? Erzähl mir jetzt bloß nicht, dass es um
irgendeinen Ugly-Streich geht."
"Doch, so ungefähr."
"Dann rede einfach. So wichtig kann das doch nicht
sein."
Tally wandte sich ab. "Das ist wichtig, Peris. Es ist
mehr als nur ein Streich. Ich habe meiner Freundin versprochen, ihr
Geheimnis zu bewahren."
Er kniff die Augen zusammen und sah für einen Moment
aus wie der alte Peris: ernst, nachdenklich. Sogar ein wenig
unglücklich. "Tally, auch mir hast du etwas versprochen."
Sie schluckte und starrte ihn an. In seinen Augen
glitzerten Tränen.
"Du hast mir versprochen, keine Dummheiten zu machen,
Tally. Und bald bei mir zu sein. Damit wir zusammen hübsch sein
können."
Sie berührte die Narbe in ihrer Handflüche, die noch
immer zu sehen war, im Gegensatz zu Peris’. Er griff nach ihrer
Hand. "Freunde fürs Leben, Tally."
Sie wusste, wenn sie jetzt in seine Augen schaute, dann
würde alles vorbei sein. Ein Blick, und ihre Widerstandskraft wäre
verflogen. "Freunde fürs Leben?", fragte sie.
"Fürs Leben."
Sie holte tief Atem und erlaubte es sich, in seine
Augen zu schauen. Er sah so traurig aus, so verletzlich und
verletzt. So perfekt. Tally stellte sich vor, wie sie neben ihm
stand, ebenso schön, wie sie jeden Tag damit verbrachten, einfach
nur zu quatschen und zu lachen und Spaß zu haben.
"Du wirst dein Versprechen halten, Tally?"
Ein Schauer der Erschöpfung und der Erleichterung
durchlief sie. Jetzt hatte sie sie, eine Entschuldigung, um ihr
Versprechen zu brechen. Sie hatte Peris etwas versprochen, ehe sie
Shay kennengelernt hatte, und dieses Versprechen war ebenso
wichtig. Ihn kannte sie seit vielen Jahren, Shay erst seit wenigen
Monaten. Und Peris war hier, nicht weit weg in einer unbekannten
Wildnis, und er sah sie mit diesen Augen an ...
"Natürlich."
"Wirklich?" Er lächelte und sein Lächeln war so hell
wie draußen der neue Tag.
"Ja." Das Sprechen war jetzt so leicht. "Ich komme, so
schnell ich kann. Versprochen."
Er seufzte und drückte sie an sich, wiegte sie sanft
hin und her. Ihr kamen wieder die Tränen.
Endlich ließ Peris sie los und schaute hinaus in die
Morgensonne.
"Ich muss jetzt wohl los." Er zeigte auf die Tür. "Du
weißt schon, ehe die ... Dingsda ... alle aufwachen."
"Natürlich."
"Ich geh sonst um diese Zeit ins Bett, und vor dir
liegt ein wichtiger Tag."
Tally nickte. Sie war noch nie so erschöpft gewesen.
Ihre Muskeln schmerzten und ihr Gesicht und ihre Hände taten jetzt
wieder weh. Aber sie war von Erleichterung überwältigt. Dieser
Albtraum hatte vor drei Monaten begonnen, als Peris den Fluss
überquert hatte. Aber nun würde er bald zu Ende sein.
"Alles klar, Peris. Wir sehen uns bald. So bald wie
möglich."
Er drückte sie noch einmal an sich, küsste ihre
salzigen, zerkratzten Wangen und flüsterte: "Vielleicht schon
übermorgen. Ich bin ja so aufgeregt."
Er sagte noch einmal "Auf Wiedersehen" und ging, wobei
er sich vorher im Treppenhaus nach allen Seiten umsah. Tally
schaute aus dem Fenster, um noch einen Blick auf Peris zu werfen,
und sah, dass unten ein Hubwagen auf ihn wartete. Die Pretties
bekamen wirklich alles, was sie wollten.
Tally wünschte sich nichts sehnlicher, als endlich
schlafen zu können, aber sie musste ihren Entschluss sofort in die
Tat umsetzen. Sie wusste, jetzt, wo Peris gegangen war, würden die
Zweifel sich wieder einstellen und ihr keine Ruhe lassen. Sie
konnte nicht noch so einen Tag ertragen, ohne zu wissen, ob dieses
Ugly-Fegefeuer jemals ein Ende nehmen würde. Und sie hatte Peris
versprochen, so bald wie möglich zu ihm zu kommen.
"Tut mir leid, Shay", sagte sie leise.
Dann nahm sie ihren Interface-Ring vom Nachttisch, wo
er die ganze Zeit gelegen hatte, und steckte ihn an. "Nachricht für
Dr. Cable oder wen auch immer", sagte sie zu dem Ring. "Ich werde
tun, was ihr wollt. Lasst mich nur erst eine Runde schlafen.
Nachricht zu Ende."
Tally seufzte und ließ sich wieder auf ihr Bett sinken.
Sie wusste, dass sie noch einmal ihre Schrammen einsprühen müsste,
ehe sie einschlief, aber beim bloßen Gedanken an eine Bewegung tat
ihr ganzer Körper weh. Ein paar Dutzend Kratzer würden sie heute
nicht vom Schlafen abhalten können. Nichts könnte das.
Sekunden später sagte das Zimmer: "Antwort von Dr.
Cable. Wir schicken einen Wagen, er ist in zwanzig Minuten
da."
"Nein", murmelte sie, wusste aber, dass Widerspruch
hier zwecklos wäre. Die Specials würden kommen, sie würden sie
aufwecken, sie würden sie mitnehmen.
Tally beschloss, wenigstens ein paar Minuten zu
schlafen. Das wäre doch besser als nichts.
Aber in den nächsten zwanzig Minuten machte sie nicht
ein einziges Mal die Augen zu.