SpagBol
In dieser Nacht kam sie sehr gut voran.
Die Schienen jagten unter ihr dahin, sie schlugen träge
Bögen um Hügel, überquerten auf baufälligen Brücken Flüsse und
strebten immer weiter dem Meer entgegen. Zweimal kam Tally durch
andere Rusty-Ruinen, kleinere Städte, die noch stärker zerfallen
waren. Nur einige verbogene Metallkonstruktionen ragten noch
zwischen den Bäumen auf, wie Totenfinger, die die Luft zu greifen
versuchen. Ausgebrannte Bodenwagen standen überall und verstopften
die Ausfahrtstraßen aus der Stadt. Sie hatten sich ineinander
verkeilt, weil es in der letzten Panik der Rusties zu so vielen
Zusammenstößen gekommen war. In einer dieser Ruinenstädte begriff
sie auch, was es mit der langen flachen Achterbahn auf sich hatte.
In einem Nest aus Schienen, die ineinander verflochten waren wie
ein riesiges Schaltbrett, fand sie einige verrostete
Achterbahnwagen, riesige Container voller Rusty-Kram,
undefinierbare Haufen aus Rost und Kunststoff. Tally fiel jetzt
wieder ein, dass die Rusty-Städte sich nicht selbst versorgen
konnten, sie hatten immer mit anderen Städten Handel getrieben,
wenn sie nicht gerade Kriege führten, um sich die Waren gegenseitig
zu entreißen. Sicher hatten sie die flache Achterbahn benutzt, um
die Waren von einer Stadt zur anderen zu bringen.
Als der Himmel hell wurde, hörte Tally in der Ferne das
Meer, ein vages Rauschen jenseits des Horizonts. Sie konnte Salz in
der Luft riechen, und das brachte Erinnerungen von früher, als sie
als Winzling mit Ellie und Sol am Ozean gewesen war.
"Kalt ist das Meer, achte auf Brecher", stand auf Shays
Zettel. Bald würde Tally sehen können, wie die Wellen sich am
Strand brachen. Vielleicht näherte sie sich dem nächsten
Stichwort.
Tally fragte sich, wie viel Zeit sie mit dem neuen
Hubbrett wohl aufgeholt hatte. Sie steigerte das Tempo und zog ihre
Schuljacke enger um sich gegen die Kälte, die dem Sonnenaufgang
vorausging. Die Schienen kletterten jetzt langsam aufwärts und
schnitten sich einen Weg durch die Kalkfelsen. Tally erinnerten
sich an weiße Felsen, die über dem Ozean aufragten und auf denen es
von nistenden Seevögeln nur so wimmelte.
Diese Campingferien mit Sol und Ellie schienen hundert
Jahre zurückzuliegen. Sie fragte sich, ob es wohl eine Operation
gab, die sie für immer in einen Winzling würde zurückverwandeln
können.
Plötzlich öffnete sich vor Tally eine Schlucht, die von
einer baufälligen Brücke überspannt wurde. Gleich darauf sah sie,
dass die Brücke nicht ganz bis zur anderen Seite reichte und dass
unten kein Fluss voller Metallablagerungen verlief, um sie
aufzufangen. Es ging einfach nur steil hinab ins Meer.
Tally riss ihr Brett seitwärts herum. Ihre Knie bogen
sich durch die Wucht des Bremsmanövers, ihre Griffschuhe
quietschten, als sie über die Oberfläche schrammten, ihr Körper lag
fast parallel zum Boden.
Aber der Boden war nicht mehr da.
Ein tiefer Abgrund klaffte unter ihr, eine Spalte, die
das Meer in die Klippen geschnitten hatte. Kochende Wellen brachen
sich in dem engen Kanal. Ihre weißen Mähnen glühten in der
Dunkelheit, ihr hungriges Gebrüll füllte Tallys Ohren. Die Lampen
des Metalldetektors erloschen eine nach der anderen, als das
abgebrochene Ende der Eisenbrücke hinter Tally zurückblieb.
Sie spürte, wie das Brett seine Kraft verlor und
absackte.
Ein Gedanke jagte ihr durch den Kopf: Wenn sie jetzt
sprang, könnte sie das Ende der zerbrochenen Brücke erreichen. Aber
dann würde das Hubbrett in den Abgrund stürzen und sie käme nicht
mehr weiter.
Irgendwo auf halber Strecke verlangsamte das Brett
endlich seinen Sturz, aber Tally bewegte sich weiterhin nach unten.
Die letzten Finger der zerfallenen Brücke waren jetzt über ihr,
außerhalb ihrer Reichweite. Das Brett senkte sich Zoll für Zoll,
die Lampen des Metalldetektors erloschen eine nach der anderen, als
die Magneten nichts mehr spürten. Tally war zu schwer. Sie streifte
den Rucksack ab, bereit, ihn fallen zu lassen. Aber wie sollte sie
ohne ihn überleben? Ihre einzige Rettung wäre dann, zur Stadt
zurückzukehren und sich eine neue Ausrüstung zu besorgen, und dabei
würde sie zwei weitere Tage verlieren. Ein kalter Seewind fegte
durch die Kluft und ließ Tally erschauern wie von einem
Todeshauch.
Aber der Wind hielt das Brett fest und für einen Moment
hing Tally bewegungslos in der Luft. Dann aber senkte das Brett
sich wieder nach unten ...
Tally bohrte die Hände in die Jackentaschen und
breitete die Arme aus, um den Wind wie ein Segel einzufangen. Eine
stärkere Brise kam auf, hob sie leicht an und nahm so ein wenig
Gewicht vom Brett. Eine Detektorlampe flackerte.
Wie ein Vogel mit ausgebreiteten Flügeln begann Tally
aufzusteigen.
Die Hubvorrichtungen bekamen wieder Kontakt zu den
Schienen und etwas später hatte das Brett Tally auf die Höhe des
zerbrochenen Brückenendes gebracht. Sie dirigierte es vorsichtig
zurück über den Klippenrand und ein Zittern durchlief sie, als das
Brett über festen Boden schwebte. Mit weichen Knien stieg Tally
herunter.
"Kalt ist das Meer, achte auf Brecher", sagte sie
heiser. Wie hatte sie so dumm sein können und ihr Tempo steigern,
wo Shay sie doch zur Vorsicht ermahnt hatte?
Tally ließ sich auf den Boden fallen, plötzlich war ihr
schwindlig und sie war müde. In Gedanken sah sie immer wieder, wie
die Kluft sich auftat, wie die Wellen unter ihr gleichgültig gegen
die scharfen Felsen schlugen. Sie könnte jetzt dort unten liegen
und immer wieder gegen die Felsen geworfen werden, bis nichts mehr
von ihr übrig wäre.
Das hier war die Wildnis, schärfte sie sich ein. Hier
hatten Fehler schwerwiegende Konsequenzen.
***
Noch ehe Tallys Herz aufgehört hatte wild zu hämmern,
fing ihr Magen an zu knurren.
Sie zog den Wasserreiniger, den sie im letzten Fluss
gefüllt hatte, aus dem Rucksack und leerte das Schmutzsieb. Ein
esslöffelgroßer Klecks braunen Schlamms fiel heraus. "Uääh", sagte
sie und öffnete den Reiniger, um hineinzuschauen. Sein Inhalt sah
klar aus und roch wie Wasser.
Sie trank einen Schluck, den sie dringend nötig hatte,
bewahrte aber das restliche Wasser für ihr Abendessen oder ihr
Frühstück oder was auch immer auf. Tally hatte vor, vor allem
nachts zu fliegen, damit das Hubbrett sich im Sonnenschein aufladen
konnte. Auf diese Weise würde sie keine Zeit verschwenden.
Sie griff in den wasserdichten Rucksack und zog wahllos
eine Packung Essen heraus. "SpagBol", stand auf dem Etikett und
Tally zuckte mit den Schultern. Der Inhalt sah aus wie ein
fingergroßes Garnknäuel und fühlte sich auch so an. Sie ließ es in
den Reiniger fallen und der blubberte los, als das Wasser zu kochen
begann.
Als Tally zu dem glühenden Horizont hinüberschaute,
machte sie große Augen. Sie hatte außerhalb der Stadt noch nie den
Sonnenaufgang gesehen. Wie die meisten Uglies stand sie nur selten
früh genug auf und der Horizont war ja außerdem immer hinter den
Türmen von New Pretty Town versteckt. Der Anblick eines echten
Sonnenaufgangs verblüffte sie.
Ein orange- und gelbfarbener Streifen ließ den Himmel
entflammen, strahlend und unerwartet, so spektakulär wie Feuerwerk,
aber sanft fließend in seinem Farbenspiel. So war es hier draußen
in der Wildnis, das lernte sie jetzt. Gefährlich oder schön. Oder
beides.
Der Reiniger machte pling. Tally öffnete den
Deckel und schaute hinein. Sie sah Nudeln mit einer roten Soße, mit
kleinen Kernen aus Sojafleisch. Es duftete köstlich. Sie las noch
einmal das Etikett. "SpagBol ... Spaghetti Bolognese!"
Im Rucksack fand sie eine Gabel und stürzte sich
hungrig auf das Essen. Der Sonnenaufgang wärmte sie und sie hörte
das wilde Rauschen des Meeres, und das alles machte es zur besten
Mahlzeit, die sie seit ewigen Zeiten zu sich genommen hatte.
***
Das Hubbrett war noch nicht ganz leer, deshalb
beschloss sie nach dem Frühstück, weiterzufliegen. Sie las noch
einmal die ersten Zeilen von Shays Botschaft:
Über die Lücke spring mit der Acht,
Bis hin zu einer, die lang ist und flach.
Kalt ist das Meer, achte auf Brecher.
Bei der zweiten mache den schlimmsten
Versprecher.
***
Wenn die "zweite" eine weitere eingestürzte Brücke
bedeutete, dann wollte Tally die noch bei Tageslicht erreichen.
Wenn sie die Lücke auch nur den Bruchteil einer Sekunde später
entdeckt hätte, dann wäre sie als SpagBol am Fuße der Felsen
gelandet. Aber zuerst musste sie auf die andere Seite des Abgrunds
gelangen. Der war viel breiter als die Lücke in der Achterbahn,
hinüberspringen könnte sie auf keinen Fall. Die einzige Möglichkeit
war offenbar, zu Fuß zu gehen. Sie wanderte durch das struppige
Gras, ihre Beine waren dankbar, weil sie sich nach der langen Nacht
auf dem Brett ausstrecken konnten. Bald schloss die Kluft sich und
eine Stunde später war sie auf der anderen Seite oben
angekommen.
Tally flog jetzt viel langsamer, starrte konzentriert
nach vorn und wagte nur ab und zu, einen kurzen Blick auf ihre
Umgebung zu werfen.
Zu ihrer Rechten ragten Berge auf, so hoch, dass ihre
Gipfel schon jetzt im Frühherbst mit Schnee bedeckt waren. Tally
hatte die Stadt immer groß gefunden, eine in sich geschlossene
Welt, aber alles hier war um so viel großartiger. Und so schön. Sie
konnte verstehen, warum manche Menschen in der Natur leben wollten,
auch wenn es keine Partytürme oder Wohnvillen gab. Oder auch nur
Schulwohnheime.
Als sie an zu Hause dachte, wurde Tally aber auch
bewusst, wie sehr ihre schmerzenden Muskeln sich jetzt über ein
heißes Bad gefreut hätten. Sie stellte sich eine riesige Badewanne
vor, wie es sie in New Pretty Town gab, mit Whirlpooldüsen und
jeder Menge Massageblasen, die sich darin auflösten. Sie überlegte,
ob der Wasserreiniger genug Wasser für eine Wanne kochen könnte,
für den unwahrscheinlichen Fall, dass sie eine fand. Wie die Leute
in Smoke wohl badeten? Und enthielt der Überlebensrucksack Seife?
Und Shampoo? Handtücher gab es jedenfalls nicht. Tally hatte sich
noch nie überlegt, wie viel Kram sie bisher immer gebraucht
hatte.
Die zweite Bruchstelle in den Schienen kam nach einer
weiteren Stunde, es war eine zerfallene Brücke über einem Fluss,
der sich aus den Bergen herunterschlängelte.
Tally bremste ab und schaute über die Kante. Es ging
nicht so tief nach unten wie beim ersten Mal, aber doch tief genug,
um tödlich zu sein. Zu weit für einen Sprung. Zu Fuß zu gehen würde
eine Ewigkeit dauern. Das Flusstal zog sich endlos dahin und
nirgendwo war ein leichter Abstieg zu sehen.
"Bei der zweiten mache den schlimmsten Versprecher",
murmelte sie.
Toller Rat. Was hatte Shay mit dem Versprecher gemeint?
Ihr Gehirn war zu müde, um sich diesem Problem zu stellen, und das
Brett hatte sowieso kaum noch Energie.
Später Vormittag, Schlafenszeit.
Aber zuerst musste sie das Hubbrett auseinanderklappen.
Bei der Unterweisung durch die Specials war ihr erklärt worden,
dass es zum Aufladen so viel Oberflächenkontakt mit der Sonne haben
musste wie überhaupt nur möglich. Tally zog an den Öffnungshebeln
und das Brett klappte auseinander. Es öffnete sich in ihren Händen
wie ein Buch, wurde zu zwei Hubbrettern, die sich dann weiter und
immer weiter entfalteten, wie eine Kette aus Papierpuppen, die
auseinandergezogen wird. Schließlich hatte Tally acht miteinander
verbundene Hubbretter nebeneinanderliegen, insgesamt zweimal so
breit, wie sie groß war, und
nicht dicker als ein Blatt festes Papier. Das Ganze
zappelte in der steifen Meeresbrise wie ein riesiger Papierdrachen,
aber die Magnete hinderten es am Davonfliegen.
Tally strich das Brett flach und legte es in die Sonne,
wo die metallische Oberfläche sich kohlschwarz verfärbte, während
sie die Solarenergie aufsaugte. In wenigen Stunden würde es
aufgeladen sein und sie würde problemlos weiterfliegen können. Sie
hoffte nur, dass sie es ebenso leicht wieder zusammenfügen konnte,
wie sie es auseinandergeklappt hatte.
Tally zog ihren Schlafsack hervor, befreite ihn aus
seiner Hülle und schlüpfte vollständig angezogen hinein.
"Schlafanzug", fügte sie der Liste von Dingen hinzu, die sie hier
vermisste.
Sie nahm ihre Jacke als Kissen, schälte sich aus ihrem
Hemd und bedeckte damit den Kopf. Sie spürte schon einen Anflug von
Sonnenbrand auf ihrer Nase und ihr ging auf, dass sie nach
Tagesanbruch vergessen hatte, einen Sonnenblocker aufzukleben.
Perfekt. Ein bisschen rote, sich pellende Haut würde ja so gut zu
den Schrammen in ihrem hässlichen Gesicht passen.
Der Schlaf wollte sich nicht einstellen. Es wurde immer
wärmer und es war seltsam, hier unter freiem Himmel zu liegen. Die
Schreie der Seevögel hallten in ihrem Kopf wider. Tally seufzte und
setzte sich auf. Vielleicht half es, wenn sie eine Kleinigkeit
aß.
Sie zog eine Packung nach der anderen aus dem
Rucksack.
Auf den Etiketten stand:
SpagBol
SpagBol
SpagBol
SpagBol
SpagBol ...
Tally zählte einundvierzig Packungen, genug für dreimal
SpagBol pro Tag, zwei Wochen lang. Sie ließ sich zurücksinken und
schloss, plötzlich erschöpft, die Augen. "Danke, Dr. Cable." Wenig
später war Tally eingeschlafen.