Warten auf David
"Das ist ein Witz, oder?"
Shay gab keine Antwort. Sie befanden sich wieder im
Herzen der Ruinenstadt, im Schatten des höchsten Gebäudes weit und
breit. Shay starrte mit nachdenklichem Gesicht daran hoch. "Ich
glaube, ich weiß noch, wie man das macht", sagte sie.
"Wie man was macht?"
"Nach oben kommen. Ja, so geht das."
Sie ließ ihr Brett vorschnellen und schlüpfte dann mit
eingezogenem Kopf durch eine Lücke in der zerfallenden Mauer.
"Shay?"
"Mach dir keine Sorgen. Ich mach das nicht zum ersten
Mal."
"Aber ich habe für heute Nacht genug zum ersten Mal
erlebt, Shay." Tally war nicht in Stimmung für weitere von Shays
Witzen. Sie war müde und es war ein weiter Weg zurück in die Stadt.
Und sie musste am nächsten Morgen ihr Wohnheim putzen. Bloß weil
Sommer war, durfte sie noch längst nicht den Tag verschlafen.
Aber Tally folgte Shay durch die Lücke. Zu
widersprechen würde sicher noch mehr Zeit in Anspruch nehmen.
Sie stiegen senkrecht nach oben, die Bretter nutzten
dazu das Metallskelett in der Mauer. Es war unheimlich, im Haus zu
sein und aus den leeren Fenstern auf die gezackten Umrisse der
anderen Gebäude zu blicken. Wie ein Rusty-Geist, der zusah, wie
seine Stadt im Laufe der Jahrhunderte zerfiel.
Es gab kein Dach mehr und oben bot sich ihnen ein
sensationeller Anblick. Die Wolken waren verschwunden und Mondlicht
zeichnete die Ruinen im scharfen Relief, die Häuser wie Reihen
zerbrochener Zähne. Tally sah, dass sie von der Achterbahn aus
wirklich aufs Meer geblickt hatte. Von hier oben leuchtete das
Wasser im Mondlicht wie ein schmales Silberband.
Shay zog etwas aus ihrer Schultertasche und brach es in
zwei Stücke.
Die Welt ging in Flammen auf.
"He! Willst du mich blenden?", rief Tally und schlug
die Hände vor die Augen.
"Ach, Himmel. Tut mir leid." Shay hielt den
Sicherheitsstrahler auf Armlänge von sich fort. Der gewann in der
Stille der Ruinen mit einem Zischen seine volle Kraft und warf
flackernde Schatten über die Innenseiten des Gemäuers. Shays
Gesicht sah in seinem Licht monströs aus. Funken stoben nach unten
und verloren sich in den Tiefen des zerstörten Gebäudes.
Endlich war der Strahler verbraucht. Tally blinzelte,
um die tanzenden Flecken vor ihren Augen zu verscheuchen. Ihre
Nachtsicht war ruiniert und sie konnte außer dem Mond am Himmel so
gut wie nichts mehr erkennen. Sie schluckte, als ihr aufging, dass
der Strahler überall im Tal zu sehen gewesen war. Vielleicht sogar
auf dem Meer. "Shay, war das ein Signal?"
"Ja, das sollte eins sein."
Tally schaute nach unten. Die dunklen Gebäude waren von
herumgeisternden Lichtern erfüllt, die der Strahler noch immer vor
ihren Augen tanzen ließ. Plötzlich ging ihr auf, wie blind sie war,
und sie spürte einen kalten Schweißtropfen ihr Rückgrat
hinunterlaufen. "Wen wollen wir denn überhaupt treffen?"
"Er heißt David."
"David? Das ist ein komischer Name." Für Tally
klang er erfunden. Abermals war sie
sicher, dass alles nur ein Witz sein sollte. "Und er wird einfach
so hier antanzen? Der Typ wohnt doch nicht wirklich in den Ruinen,
oder?"
"Nein. Er lebt ziemlich weit weg von hier. Aber
er könnte in der Nähe sein. Er kommt manchmal her."
"Heißt das, er kommt aus einer anderen Stadt?"
Shay sah sie an, aber Tally konnte in der Dunkelheit
ihren Gesichtsausdruck nicht erkennen. "So ungefähr."
Shay wandte ihren Blick wieder dem Horizont zu und
schien auf ein Antwortsignal zu warten. Tally wickelte sich in ihre
Jacke. Jetzt, wo sie hier herumstand, wurde ihr klar, wie kalt es
inzwischen war. Sie hätte gern gewusst, wie spät es war. Ohne ihren
Interface-Ring konnte sie das nicht feststellen.
Der fast volle Mond stand jetzt tiefer am Himmel,
Mitternacht musste also schon vorbei sein, das hatte Tally im
Astronomieunterricht gelernt. Das war zumindest ein Vorteil daran,
sich hier draußen aufzuhalten: Der ganze Naturkram, den man in der
Schule lernte, wirkte hier viel nützlicher. Sie erinnnerte sich
jetzt auch, wie in den Bergen Regen fiel und dann im Boden
versickerte, ehe er mit Mineralien angereichert wieder hervorquoll.
Dann strömte er zurück zum Meer und kerbte im Laufe der
Jahrhunderte Flüsse und Schluchten in die Erdoberfläche. Wenn man
hier draußen lebte, konnte man mit dem Hubbrett an den Flüssen
entlangfliegen, wie in den ganz alten Zeiten, vor den Rusties, als
die nicht ganz so verrückten Prä-Rusties in kleinen, aus
Baumstämmen angefertigten Booten herumgefahren waren.
Ihre Nachtsicht stellte sich langsam wieder ein und sie
suchte den Horizont ab. Würden sie wirklich ein zweites Auflodern
sehen, das Shays beantwortete? Tally hoffte auf das Gegenteil. Ihr
war noch nie jemand aus einer anderen Stadt begegnet. In der Schule
hatte sie gelernt, dass in manchen Städten andere Sprachen
gesprochen wurden, dass die Leute dort erst mit achtzehn hübsch
wurden, und dass es noch mehr bizarre Dinge dieser Art gab. "Shay,
vielleicht sollten wir uns auf den Heimweg machen."
"Lass uns noch ein bisschen warten."
Tally biss sich auf die Lippe, "Hör mal, vielleicht ist
dieser David heute Nacht nicht in der Nähe."
"Ja, vielleicht. Vermutlich. Aber ich hatte gehofft,
dass er hier sein würde." Sie drehte sich zu Tally um. "Es wäre so
toll, wenn du ihn kennenlernen könntest. Er ist ... anders."
"Klingt auch so."
"Ich hab das hier nicht erfunden, weißt du."
"Ja, ich glaub dir ja", sagte Tally, obwohl sie sich
bei Shay nie ganz sicher war.
Shay schaute wieder zum Horizont hinüber und nagte an
ihrem Fingernagel. "Na gut, dann ist er wohl nicht in der Nähe. Wir
können gehen, wenn du willst."
"Es ist nur, weil es schon so spät ist und wir einen
weiten Weg vor uns haben. Und ich muss morgen putzen."
Shay nickte. "Ich auch."
"Danke, dass du mir das gezeigt hast, Shay. Das alles
war wirklich ungeheuer aufregend. Aber ich glaube, noch ein tolles
Erlebnis würde mich umbringen."
Shay lachte. "Die Achterbahn hat dich nicht
umgebracht."
"Aber fast."
"Wirst du mir das je verzeihen?"
"Dann sag ich dir Bescheid, Skelett."
Shay lachte. "Na gut. Aber vergiss nicht, du darfst
niemandem was von David erzählen."
"He, das hab ich versprochen. Du kannst dich auf mich
verlassen, Shay. Wirklich."
"Alles klar. Dann verlass ich mich auf dich, Tally."
Shay ging in die Knie und ihr Brett setzte zum Aufstieg an.
Tally schaute sich ein letztes Mal um, musterte die
unter ihr ausgebreiteten Ruinen, die dunklen Wälder, den wie
Perlmutt schimmernden Fluss, der sich auf das leuchtende Meer zu
schlängelte. Sie hätte gern gewusst, ob es da draußen wirklich
jemanden gab oder ob David einfach eine Gestalt war, die die Uglies
erfunden hatten, um sich gegenseitig Angst einzujagen.
Aber Shay schien keine Angst zu haben. Sie wirkte
ehrlich enttäuscht darüber, dass niemand auf ihr Signal geantwortet
hatte, als ob eine Begegnung mit David noch schöner gewesen wäre
als die Stromschnellen, die Ruinen und die Achterbahn.
Ob es ihn nun gab oder nicht, dachte Tally, für Shay
existierte David auf jeden Fall.
***
Sie verließen das Gebäude durch das Loch in der Wand
und flogen zum Stadtrand, dann folgten sie der Eisenader, die aus
dem Tal hinausführte. An deren Ende gerieten die Bretter ins
Schwanken und sie stiegen ab. So müde Tally auch war, es kam ihr
diesmal doch nicht mehr so unmöglich vor, das Brett zu tragen. Es
war für sie jetzt kein Spielzeug mehr, wie der Ballon eines
Winzlings. Das Hubbrett war zu etwas Soliderem geworden, zu etwas,
das seinen eigenen Regeln gehorchte und das auch gefährlich werden
konnte.
Tally überlegte sich, dass Shay in einem Punkt Recht
hatte: Sich die ganze Zeit in der Stadt aufzuhalten ließ alles auf
irgendeine Weise wie Betrug wirken. Wie die Häuser und Brücken, die
von Hubpfeilern getragen wurden, oder ein Sprung von einem Dach,
wenn man eine Bungeejacke trug, nichts war in der Stadt ganz
wirklich. Sie freute sich darüber, dass Shay ihr die Ruinen gezeigt
hatte. Zumindest bewies dieses Chaos, das die Rusties hinterlassen
hatten, dass alles fürchterlich schiefgehen konnte, wenn man nicht
vorsichtig war.
Als sie sich dem Fluss näherten, wurden die Bretter
leichter und die beiden Mädchen sprangen dankbar darauf.
Shay stöhnte, als sie in Position ging. "Ich weiß ja
nicht, wie du das siehst, aber ich will heute Nacht keinen einzigen
Schritt mehr tun."
"Garantiert keinen einzigen."
Shay beugte sich vor und lenkte ihr Brett auf den Fluss
hinaus, wobei sie sich in ihre Jacke hüllte, um sich vor der Gischt
der Stromschnellen zu schützen. Tally drehte sich um, um noch einen
letzten Blick auf die Ruinen zu werfen. Jetzt, wo die Wolken sich
verzogen hatten, konnte sie sie gerade noch erahnen.
Sie kniff die Augen zusammen. Dort, wo die Achterbahn
sein musste, schien ein winziges Licht aufzuleuchten. Vielleicht
war es nur eine Täuschung, eine Reflexion des Mondlichtes auf einem
Stück nicht verrosteten Metalls. "Shay?", fragte sie leise. "Kommst
du, oder was?", brüllte Shay durch das Tosen des Flusses.
Tally kniff noch einmal die Augen zusammen, aber jetzt
konnte sie den Lichtschein nicht mehr entdecken. Und außerdem waren
sie schon zu weit weg. Wenn sie es Shay gegenüber erwähnte, würde
die nur zurückkehren wollen. Und unter keinen Umständen wollte
Tally diese Strapaze noch einmal auf sich nehmen.
Vermutlich hatte sie sich ohnehin geirrt.
Tally holte tief Luft und rief: "Na los, Skelett. Wer
zuerst in Uglyville ist!" Sie trieb ihr Brett über den Fluss,
durchschnitt die kalte Gischt und ließ für einen Moment eine
lachende Shay hinter sich zurück.