Streit
"Sieh dir nur diese Bande an. Was für peinliche
Gestalten!" "Haben wir je so ausgesehen?"
"Wahrscheinlich. Aber dass wir mal peinlich waren, ist
für sie ja wohl keine Entschuldigung."
Tally nickte und versuchte sich daran zu erinnern, wie
es gewesen war, zwölf zu sein, wie das Wohnheim an ihrem ersten Tag
dort ausgesehen hatte. Sie wusste noch, wie einschüchternd das
Gebäude ihr vorgekommen war. Es war natürlich viel größer als das
Haus von Sol und Ellie, und viel größer als die Hütten, in denen
die Winzlinge unterrichtet wurden, nur zehn Kinder von einem
Lehrer.
Jetzt kam ihr das Haus klein und klaustrophobisch vor.
Schrecklich kindisch, mit seinen grellen Farben und den
gepolsterten Treppenstufen. So langweilig tagsüber, und nachts war
es so leicht, daraus zu entkommen.
Die neuen Uglies drängten sich dicht aneinander, sie
hatten Angst, sich zu weit von ihren Betreuern zu entfernen. Ihre
hässlichen kleinen Gesichter schauten zu den vier Stockwerken des
Gebäudes hoch, ihre Augen waren erfüllt von Entsetzen und
Staunen.
Shay zog ihren Kopf im Fenster zurück. "Das wird ein
solcher Spaß werden."
"Das wird eine Orientierungsstunde, die sie nie im
Leben vergessen."
In zwei Wochen würde der Sommer zu Ende sein. Die
Anzahl der Bewohner von Tallys Haus war im Laufe des Jahres immer
mehr geschrumpft, denn nach und nach waren fast alle sechzehn
geworden. Es war fast so weit, dass ein neuer Jahrgang an ihre
Stelle trat. Tally sah zu, wie die letzten Uglies hereinkamen,
unbeholfen und nervös, zerzaust und unkoordiniert. Zwölf war
eindeutig ein Wendepunkt, dann verwandelte man sich aus einem
niedlichen Winzling in einen übergroßen, unbeholfenen und
unterbelichteten Ugly.
Es war eine Lebensphase, die sie zu ihrer großen
Erleichterung hinter sich hatte.
"Bist du sicher, dass das klappen wird?", fragte
Shay.
Tally lächelte. Es kam nicht oft vor, dass Shay zur
Vorsicht mahnte. Sie zeigte auf den Kragen der Bungeejacke. "Siehst
du das grüne Lämpchen? Das bedeutet, dass sie funktioniert. Die
sind für Notfälle, deshalb sind sie immer einsatzbereit."
Shays Hand verschwand unter der Jacke, um an ihrem
Bauchsensor zu ziehen, ein Zeichen dafür, dass sie nervös war.
"Was, wenn die Jacke merkt, dass gar kein richtiger Notfall
vorliegt?"
"Dazu ist sie nicht intelligent genug. Wenn du fällst,
dann wirst du aufgefangen. Keine Tricks nötig."
Shay zuckte mit den Schultern und legte die Jacke
an.
Sie hatten sie aus der Kunstschule geliehen, dem
höchsten Gebäude in Uglyville. Es war ein überzähliges Teil aus dem
Keller und sie hatten nicht einmal die Garderobe austricksen
müssen, um sie herunternehmen zu können. Tally wollte auf keinen
Fall bei einem falschen Feueralarm erwischt werden, um nicht von
den Wächtern mit einem gewissen Zwischenfall in Verbindung gebracht
zu werden, der sich zu Beginn des Sommers in New Pretty Town
abgespielt hatte.
Shay zog ein überdimensionales Basketballtrikot über
die Bungeejacke. Das Trikot zeigte die Farben ihres Hauses und die
Lehrer hier kannten ihr Gesicht nicht gerade gut. "Wie macht sich
das?"
"Als ob du zugenommen hättest. Steht dir gut."
Shay runzelte die Stirn. Sie hasste es, Heuschrecke,
Schweineauge oder Ähnliches genannt zu werden, Namen, die sich die
Uglies ständig gaben. Shay behauptete manchmal, es wäre ihr egal,
wenn sie niemals operiert würde. Das war natürlich nur blödes
Gerede. Shay war nicht gerade ein Freak, aber sie war auch keine
geborene Schönheit Von denen hatte es im Laufe der Geschichte aber
auch nur ein knappes Dutzend gegeben. "Willst du vielleicht
springen, Scheelauge?"
"Ich hab das alles schon gemacht, Shay, noch ehe wir
uns überhaupt kannten. Und du bist diejenige, die diese geniale
Idee hatte."
Shays Gesicht öffnete sich zu einem Lächeln. "Die ist
wirklich genial, du wirst schon sehen."
"Sie werden nicht wissen, wie ihnen geschieht."
***
Sie warteten, bis die neuen Uglies in der Bibliothek
saßen, sie hatten sich dort an den Arbeitstischen verteilt, um sich
irgendein Einführungsvideo anzusehen. Shay und Tally lagen
bäuchlings oben in der Galerie, wo die verstaubten alten
Papierbücher aufbewahrt wurden, und lugten durch die Geländerstäbe
hinunter auf die Neuen. Sie warteten darauf, dass ein Betreuer die
plappernden Uglies zum Schweigen brachte.
"Das ist fast zu einfach", sagte Shay und klebte sich
dicke schwarze Augenbrauen über ihre eigenen.
"Du hast gut reden. Du wirst aus der Tür sein, ehe
irgendwer kapiert, was passiert ist. Ich dagegen muss die Treppe
runterlaufen."
"Und wenn schon, Tally. Was können sie schon machen,
wenn wir erwischt werden?"
Tally zuckte mit den Schultern. "Stimmt." Aber sie
setzte trotzdem ihre aschblonde Perücke auf.
Während des Sommers, als die letzten aus dem oberen
Jahrgang sechzehn und damit hübsch wurden, waren die Streiche immer
schlimmer geworden. Aber niemals schien irgendwer bestraft zu
werden und Tally kam es wie eine Ewigkeit vor, dass sie Peris ihr
Versprechen gegeben hatte. Wenn sie erst hübsch war, würde nichts,
was sie in diesem Monat angestellt hatte, noch eine Rolle spielen.
Sie wollte alles hinter sich zurücklassen, aber nicht ohne ein
großartiges Finale.
Als sie an Peris dachte, setzte Tally eine Plastiknase
auf. Sie hatten am Vorabend den Theaterraum in Shays Haus
geplündert und besaßen deshalb jede Menge Verkleidungsgegenstände.
"Fertig?", fragte sie. Dann kicherte sie, weil die falsche Nase
ihre Stimme so nasal klingen ließ.
"Moment noch." Shay zog ein großes dickes Buch aus dem
Regal. "Okay, los geht’s."
Sie standen auf.
"Her mit dem Buch", schrie Tally Shay an. "Das gehört
mir!"
Sie hörte, wie die Uglies unten verstummten, und musste
sich zwingen, nicht in ihre neugierigen Gesichter zu blicken.
"Nichts da, Schweinenase. Ich hab es zuerst
gesehen!"
"Soll das ein Witz sein, Fettsack? Du kannst ja nicht
mal lesen!" "Ach, was? Dann lies das hier mal!"
Shay zielte mit dem Buch auf Tally, die sich duckte.
Tally schnappte sich das Buch und holte damit aus und knallte es
gegen Shays erhobene Arme. Shay wurde von dem Schlag
zurückgeschleudert und kippte über das Geländer.
Tally beugte sich vor und sah aus großen Augen zu, wie
Shay dem Hauptsaal der Bibliothek entgegenschoss, drei Stock unter
ihr. Die neuen Uglies schrien wie aus einem Munde und flohen vor
dem Körper, der auf sie zustürzte.
Eine Sekunde darauf wurde die Bungeejacke aktiviert und
Shay tanzte mitten in der Luft nach oben, wobei sie laut und irre
lachte. Tally wartete noch einem Moment und sah zu, wie die Angst
der Uglies sich in Verwirrung verwandelte, während Shay abermals
aufprallte, sich dann an einem Tisch aufrichtete und auf die Tür
zulief.
Tally ließ das Buch fallen und rannte zur Treppe, dann
jagte sie mit großen Sprüngen zur Hintertür des Hauses.
***
"Das war perfekt!"
"Hast du ihre Gesichter gesehen?"
"Nicht so genau", sagte Shay. "Ich hab eher gesehen,
wie der Boden auf mich zukam."
"Ja, das weiß ich noch von damals, als ich vom Dach
gesprungen bin. Das zieht schon die Aufmerksamkeit von anderen
Dingen ab."
"Wo wir gerade von Gesichtern reden, tolle Nase!"
Tally kicherte und zupfte sie sich aus dem Gesicht.
"Ja, aber kein Grund, hässlicher rumzulaufen als normal."
Shays Gesicht verdüsterte sich. Sie riss sich eine
Augenbraue ab und starrte Tally dann an. "Du bist nicht
hässlich."
"Ach, komm schon, Shay."
"Nein, das meine ich ernst." Sie streckte die Hand aus
und berührte Tallys echte Nase. "Du hast ein tolles Profil."
"Sei nicht pervers, Shay. Ich bin eine Ugly, du bist
eine Ugly. Wir werden das noch zwei Wochen lang sein. Es ist
wirklich nicht der Rede wert." Sie lachte. "Du, zum Beispiel, hast
eine riesige Augenbraue und eine winzige."
Shay wandte sich ab und befreite sich schweigend von
ihrer restlichen Verkleidung.
Sie hatten sich in den Umkleidehütten am Sandstrand
versteckt, wo sie ihre Interface-Ringe und Kleidung zum Wechseln
abgelegt hatten. Wenn jemand sie fragte, würden sie sagen, sie
seien die ganze Zeit geschwommen. Schwimmen war ein toller Trick.
Er verbarg die Körpersignatur, verlangte einen Kleiderwechsel und
war die perfekte Entschuldigung dafür, den Interface-Ring nicht zu
tragen. Der Fluss spülte alle Vergehen fort.
Eine Minute darauf planschten sie im Wasser herum und
versenkten ihre Verkleidungsstücke. Die Bungeejacke würden sie
abends in den Keller der Kunstschule zurückbringen.
"Ich mein das wirklich ernst, Tally", sagte Shay, als
sie im Wasser waren. "Deine Nase ist nicht hässlich. Und deine
Augen gefallen mir auch."
"Meine Augen? Jetzt spinnst du aber total. Die sitzen
viel zu dicht beieinander."
"Wer behauptet das?"
"Die Biologie."
Shay bespritzte sie mit einer Handvoll Wasser. "Diesen
ganzenBlödsinn glaubst du doch nicht wirklich, oder - dass es nur
ein Aussehen gibt und dass wir alle darauf programmiert
sind?"
"Das hat nichts mit Glauben zu tun, Shay. Du weißt es
einfach.Du hast doch die Pretties gesehen. Die sehen ...
wunderschön aus."
"Die sehen alle gleich aus."
"Das hab ich früher auch geglaubt. Aber wenn Peris und
ich in der Stadt waren, haben wir viele gesehen und dabei ist uns
aufgegangen, dass die Pretties doch unterschiedlich aussehen. Sie
sind schon individuell verschieden. Die Unterschiede sind nur
feiner, weil sie nicht alle Missgeburten sind."
"Wir sind auch keine Missgeburten, Tally. Wir sind hier
normal. Wir sind vielleicht keine Schönheiten, aber wir sind
zumindest keine aufgeputzten Barbiepuppen."
"Was für Puppen?"
Shay wandte sich ab. "Von denen hat David mir
erzählt."
"Ach, Klasse, David mal wieder." Tally stieß sich ab
und ließ sich auf dem Rücken treiben, sie schaute zum Himmel hoch
und wünschte sich, dieses Gespräch wäre zu Ende. Sie hatten die
Ruinen noch einige Male besucht und immer hatte Shay darauf
bestanden, das Strahlersignal zu geben, aber David war nicht
aufgetaucht. Es jagte Tally Schauer über den Rücken, in der toten
Stadt auf einen Typen zu warten, den es offenbar gar nicht gab. Es
war schon sehr lustig, dort draußen auf Entdeckungsreise zu gehen,
aber Shays Besessenheit von David drohte doch Tally das ganze
Vergnügen zu verderben.
"Es gibt ihn. Ich bin ihm mehr als einmal
begegnet."
"Von mir aus, Shay. Es gibt David. Aber es gibt auch
Leute, die hässlich sind. Das kannst du nicht durch Wunschdenken
ändern oder indem du dir einredest, du seist hübsch. Deshalb haben
sie doch die Operation erfunden."
"Aber das ist ein Trick, Tally. Du hast dein ganzes
Leben lang nur hübsche Gesichter gesehen. Deine Eltern, deine
Lehrer, alle über sechzehn. Aber es ist dir nicht angeboren, diese
Art von Schönheit zu erwarten, immer und bei allen. Dir ist nur
einprogrammiert worden, dass alles andere hässlich ist."
"Das ist nicht einprogrammiert, das ist eine natürliche
Reaktion. Und was noch wichtiger ist, es ist fair. In den alten
Zeiten war alles ein Zufall - manche Leute waren halbwegs hübsch,
die meisten Leute waren ihr Leben lang hässlich. Jetzt sind alle
hässlich ... bis sie hübsch werden. Es gibt keine Verlierer."
Shay schwieg eine Weile, dann sagte sie: "Es gibt
Verlierer, Tally."
Tally zitterte. Alle wussten von lebenslänglichen
Uglies, den wenigen, bei denen die Operation nicht geklappt hatte.
Sie waren aber nicht oft zu sehen. Sie durften sich zwar in der
Öffentlichkeit bewegen, die meisten versteckten sich aber lieber.
Und wem würde es anders gehen? Die Uglies sahen vielleicht übel
aus, aber sie waren doch immerhin noch jung. Alte Uglies dagegen
waren einfach unerträglich.
"Geht es darum? Hast du Angst, dass die Operation nicht
klappt? Das ist Unsinn, Shay. Du bist doch ganz normal. In zwei
Wochen wirst du so hübsch sein wie alle anderen."
"Ich will nicht hübsch sein."
Tally seufzte. Jetzt ging das wieder los.
"Ich hab diese Stadt satt", sagte Shay. "Ich habe die
Regeln und Vorschriften satt. Das Letzte, was ich will, ist eine
neue Pretty mit Spatzenhirn zu werden, die den ganzen Tag Party
machen muss."
"Hör doch auf, Shay. Sie machen genau das, was wir auch
tun: Bungeespringen, fliegen, mit Feuerwerk spielen. Nur brauchen
sie nicht herumzuschleichen."
"Sie haben nicht genug Fantasie, um
herumzuschleichen."
"Hör mal, Skelett, ich weiß ja, was du meinst", sagte
Tally mit scharfer Stimme. "Es macht Spaß, solche Streiche zu
spielen. Okay? Es macht Spaß, gegen die Regeln zu verstoßen. Aber
irgendwann musst du etwas anderes machen, statt nur eine clevere
kleine Ugly zu sein."
"Dann lieber eine langweilige Pretty mit
Spatzenhirn?"
"Nein, eine Erwachsene. Hast du dir je überlegt, dass
du als Pretty vielleicht keine Streiche spielen und keinen Unfug
anstellen musst? Vielleicht hacken die Uglies immer aufeinander
herum, weil sie eben hässlich sind, weil sie sich so wenig wohl in
ihrer Haut fühlen. Also, ich will glücklich sein, und auszusehen
wie ein echter Mensch ist dazu der erste Schritt."
"Ich habe keine Angst davor, so auszusehen, wie ich
aussehe, Tally."
"Vielleicht nicht, aber du hast Angst davor, erwachsen
zu werden."
Shay antwortete nicht. Tally trieb schweigend weiter,
sie schaute zum Himmel hoch und konnte vor Zorn die Wolken kaum
sehen. Sie wollte hübsch sein, sie wollte Peris wiedersehen. Es
schien eine Ewigkeit her zu sein, dass sie mit ihm gesprochen
hatte, oder mit überhaupt irgendwem außer Shay. Sie hatte diese
ganze blöde Wartezeit satt und sehnte deren Ende herbei.
Gleich darauf hörte sie Shay zum Ufer schwimmen.