Operation

  

  
  Als es so weit war, wartete Tally allein auf den Wagen.
  Am folgenden Tag, nach der Operation, würden ihre Eltern vor dem Krankenhaus warten, zusammen mit Peris und ihren anderen älteren Freunden. So war es Brauch. Aber es war schon seltsam, dass hier auf dieser Seite niemand bei ihr war. Niemand verabschiedete sich von ihr, außer ein paar Uglies, die gerade vorbeikamen. Sie wirkten in Tallys Augen jetzt so jung, vor allem der frisch eingetroffene Jahrgang, der sie anglotzte wie einen Haufen Dinosaurierknochen.
  Sie war immer gern unabhängig gewesen, aber jetzt kam Tally sich vor wie der letzte Winzling, der darauf wartet, von der Schule abgeholt zu werden, verlassen und allein. Es war schon Mist, im September geboren zu sein.
  "Du bist Tally, ja?"
  Sie schaute auf. Es war ein frischer Ugly, der sich noch nicht daran gewöhnt hatte, plötzlich in die Höhe geschossen zu sein. Er zupfte an seiner Schuluniform herum, als sei die schon wieder zu eng. "Ja."
  "Bist du nicht die, die heute überwechselt?"
  "Genau, Kleiner."
  "Warum siehst du dann so traurig aus?"
  Tally zuckte mit den Schultern. Was wusste dieser Halb-Winzling, Halb-Ugly denn schon? Sie dachte daran, was Shay über die Operation gesagt hatte.
  Am Vortag war Tally zum letzten Mal vermessen und durch eine Bildwurfröhre geschoben worden. Sollte sie diesem neuen Ugly vielleicht erzählen, dass irgendwann an diesem Nachmittag ihr Körper aufgeschnitten werden würde, damit ihre Knochen zur richtigen Form zurechtgehobelt werden konnten? Dass einige gedehnt oder gepolstert wurden, Nasenknorpel und Wangenknochen entfernt und durch programmierbaren Kunststoff ersetzt wurden, man ihre Haut wegschrubbte und neu einsäte, wie auf einem Fußballplatz im Frühling? Dass ihre Augen für lebenslange perfekte Sicht mit Laser behandelt wurden, dass unter der Iris implantierte Reflektoren ihr nichts sagendes Braun mit funkelnden Goldflecken aufpeppen würden? Ihre Muskeln würden über Nacht durch Elektroimpulse gestrafft und ihr Babyspeck abgesaugt werden. Ihre Zähne würden durch Keramik von der Stärke eines Weltraumfliegers ersetzt werden, so weiß wie das gute Porzellan in der Schulmensa.
  Angeblich tat das alles nicht weh, bis auf die neue Haut, die sich einige Wochen lang anfühlen sollte wie der absolute Supersonnenbrand.
  Während diese Informationen über die Operation durch ihren Kopf wirbelten, konnte sie verstehen, warum Shay weggelaufen war. Man musste wirklich ungeheuer viel über sich ergehen lassen, nur um ein bestimmtes Aussehen zu erlangen. Wenn die Leute nur gescheiter wären, wenn die Evolution sie schon dazu gebracht hätte, alle gleich zu behandeln, auch wenn sie unterschiedlich aussahen. Oder hässlich.
  Wenn nur Tally das richtige Argument gefunden hätte, um Shay zum Bleiben zu bewegen.
  Wieder waren die Gespräche da, die sie sich so oft ausgemalt hatte, diesmal
  aber viel schlimmer als nach Peris' Verschwinden.
  In Gedanken hatte sie tausend Kämpfe mit Shay ausgefochten - lange, ausführliche Diskussionen über Schönheit, Biologie, Erwachsenwerden. Bei ihren vielen Ausflügen zu den Ruinen hatte Shay ihre Meinung über Uglies und Pretties gesagt, über die Stadt und die Welt draußen, darüber, was echt war und was Täuschung. Aber nicht ein einziges Mal wäre Tally auf die Idee gekommen, dass ihre Freundin wirklich weglaufen könnte und ein Leben voller Schönheit, Glamour, Eleganz aufgeben würde. Wenn sie nur das Richtige gesagt hätte. Oder überhaupt irgendetwas.
  So, wie sie hier saß, hatte sie das Gefühl, kaum einen Versuch gemacht zu haben.
  Tally schaute dem neuen Ugly in die Augen. "Im Grunde ist es doch so: Zwei Wochen Wahnsinns-Sonnenbrand sind ein fairer Preis für ein Leben in Schönheit."
  Der Kleine kratzte sich am Kopf. "Hä?"
  "Das hätte ich sagen sollen, aber ich habe es nicht gesagt. Das ist alles."
       ***
  Der Hubwagen des Krankenhauses traf endlich ein und setzte so leicht auf dem Schulgelände auf, dass das frisch gemähte Gras sich kaum bewegte.
  Der Fahrer war ein Mittel-Pretty, der Vertrauen und Autorität ausstrahlte. Er hatte solche Ähnlichkeit mit Sol, dass Tally fast den Namen ihres Vaters gerufen hätte.
  "Tally Youngblood?", fragte er.
  Tally hatte schon den Lichtblitz gesehen, der ihren Augenabdruck gelesen hatte, aber sie sagte trotzdem: "Ja, die bin ich." Etwas an diesem Mittel-Pretty machte es schwer, eine patzige Antwort zu geben. Er war die personifizierte Weisheit, sein Auftreten so ernst und förmlich, dass Tally sich bei dem Wunsch ertappte, sich passender angezogen zu haben.
  "Bist du so weit? Viel Gepäck hast du ja nicht."
  Ihre Reisetasche war nur halb voll. Alle wussten, dass die neuen Pretties das meiste von dem, was sie über den Fluss mitnahmen, doch gleich recycelten. Sie würde dann ja auch alle Kleider und jede neue Pretty-Spielerei haben können, die sie sich wünschte. Eigentlich wollte sie nur Shays Zettel behalten, und den hatte sie zwischen allerlei willkürlich in die Tasche gestopftem Kram versteckt. "Das reicht doch."
  "Gut gemacht, Tally. Das ist sehr erwachsen."
  "So bin ich eben, Sir."
  Die Tür wurde geschlossen und der Wagen hob ab.
        ***
  Das große Krankenhaus lag am anderen Ende von New Pretty Town. Hierhin kamen alle, die umfassende Operationen brauchten, Winzlinge, Uglies, sogar späte Pretties von weit draußen in Crumblyville, die sich zu lebensverlängernden Behandlungen einfanden.
  Der Fluss funkelte unter einem wolkenlosen Himmel und Tally ließ sich von der Schönheit von New Pretty Town mitreißen. Auch ohne die nächtlichen Lichter und das Feuerwerk funkelten überall Glas und Metall, die fantastisch geformten Partytürme warfen dünne Schatten über die Insel. Alles hier war viel realer als in der Ruinenstadt, das sah Tally jetzt plötzlich. Nicht so dunkel und geheimnisvoll vielleicht, aber viel lebendiger.
  Es war Zeit, Shay nicht mehr nachzutrauern. Das Leben würde von jetzt an eine einzige lange Party sein, voller schöner Menschen. Wie Tally Youngblood.
  Der Hubwagen landete auf einem roten X auf dem Krankenhausdach und der Fahrer brachte Tally ins Haus und führte sie in ein Wartezimmer. Ein Krankenhausmitarbeiter schlug Tallys Namen nach, ließ ihr Auge wieder aufblitzen und sagte, sie solle warten.
  "Kommst du zurecht?", fragte der Fahrer.
  Sie schaute in seine klaren, sanften Augen und hätte ihn gern gebeten zu bleiben. Aber eine solche Bitte kam ihr nicht gerade erwachsen vor. "Ja, kein Problem. Danke." Er lächelte und ging.
  Sie war allein im Wartezimmer. Tally ließ sich im Sessel zurücksinken und zählte die Platten an der Decke. Beim Warten fielen ihr ihre Gespräche mit Shay wieder ein, aber die machten ihr jetzt nicht mehr so viel Sorgen. Es war zu spät, um irgendetwas zu bereuen.
  Tally wünschte, es gäbe ein Fenster mit Blick auf New Pretty Town. Sie war jetzt so nahe dran. Sie stellte sich den nächsten Abend vor, ihren ersten Abend als Pretty, sie würde die neuen schönen Kleider tragen (und ihre Schuluniformen in den Recycler stecken) und vom höchsten Partyturm herabschauen, den sie finden konnte. Sie würde zusehen, wie auf dem anderen Flussufer die Lichter ausgingen, Schlafenszeit für Uglyville, und wissen, dass noch die ganze Nacht vor ihr lag, zusammen mit Peris und ihren neuen Freunden und den vielen schönen Menschen, die sie jetzt kennenlernen würde.
  Sie seufzte.
  Sechzehn Jahre. Endlich.
  Eine endlose Stunde lang passierte gar nichts. Tally trommelte mit den Fingern und fragte sich, ob man immer so ewig warten musste.
  Und dann kam der Mann.
  Er sah seltsam aus, ganz anders als alle Pretties, die Tally je gesehen hatte. Er war einwandfrei mittleren Alters, aber wer immer seine Operation vorgenommen hatte, hatte dabei gepatzt. Er war schön, das ja, aber es war eine entsetzliche Schönheit.
  Statt weise und vertrauenerweckend zu wirken, sah der Mann kalt aus, gebieterisch, einschüchternd, wie ein Raubtier. Als er auf sie zukam, wollte Tally schon fragen, was eigentlich los sei, aber ein Blick von ihm ließ sie verstummen.
  Ihr war noch nie ein Erwachsener begegnet, der eine solche Wirkung auf sie gehabt hätte. Sie hatte Mittel- oder späten Pretties immer Respekt entgegengebracht. Aber angesichts dieses grausam schönen Mannes mischte sich Angst unter diesen Respekt.
  Der Mann sagte: "Es gibt ein Problem mit deiner Operation. Komm mit."
  Sie stand auf.