Das Geheimnis


  
  Sie kletterten den Felsrücken auf der anderen Seite über einen steilen, schmalen Pfad hinunter. David führte sie zügig durch die Dunkelheit, seine Füße fanden, ohne zu zögern, Halt auf dem fast unsichtbaren Weg. Tally musste sich anstrengen, ihn nicht zu verlieren.
  Der Tag hatte ihr einen Schock nach dem anderen gebracht, und jetzt sollte sie zu allem Überfluss auch noch Davids Eltern kennenlernen. Das war wirklich das Letzte, was sie erwartet hatte, nachdem sie ihm den Anhänger gezeigt und ihm gesagt hatte, dass sie Smoke nicht geheim gehalten hatte. Er reagierte anders als alle, die ihr je begegnet waren. Vielleicht lag es daran, dass er hier draußen aufgewachsen war, weit weg von den Sitten der Stadt. Oder vielleicht war er einfach ... anders.
  Sie ließen den vertrauten Felsrücken weit hinter sich zurück. Zu ihrer einen Seite ragte jetzt der Berg auf.
  "Deine Eltern leben nicht in Smoke?"
  "Nein, das ist zu gefährlich."
  "Wieso denn gefährlich?"
  "Das gehört zu dem, was ich dir an deinem ersten Tag hier erzählt habe, im Eisenbahntunnel."
  "Das von deinem Geheimnis? Dass du in der Wildnis aufgewachsen bist?"
  David blieb für einen Moment stehen und drehte sich in der Dunkelheit zu ihr um. "Das ist noch nicht alles."
  "Was denn noch?"
  "Das sollen sie dir sagen. Komm weiter."
  Einige Minuten darauf sahen sie ein kleines, schwach erleuchtetes Viereck, das vor dem Berg zu schweben schien. Tally sah, dass es sich um ein Fenster handelte, und das Licht dahinter glühte tiefrot durch einen geschlossenen Vorhang. Das Haus kam ihr halb eingegraben vor, wie in den Berg gekeilt.
  Als sie noch einen Steinwurf entfernt waren, blieb David stehen. "Wir wollen sie nicht überraschen. Sie können ganz schön schreckhaft sein", sagte er, dann rief er: "Hallo!"
  Gleich darauf wurde eine Tür geöffnet und ein Lichtstreifen fiel heraus.
  "David?", rief eine Frauenstimme. Die Tür öffnete sich weiter, bis das Licht sie erreicht hatte. "Az, es ist David."
  Als sie näher kam, sah Tally, dass sie eine alte Ugly vor sich hatte. Sie wusste nicht, ob die Frau jünger oder älter war als der Boss, aber sie sah jedenfalls nicht so beängstigend aus. Ihre Augen leuchteten wie die einer Pretty und die Falten in ihrem Gesicht verschwanden in einem herzlichen Lächeln, als sie ihren Sohn an sich zog.
  "Hallo, Mom."
  "Und du bist sicher Tally."        
  "Schön, dich kennenzulernen." Tally fragte sich, ob sie der Frau die Hand geben sollte oder etwas in der Art. In der Stadt war man nie viel mit den Eltern anderer Uglies zusammen, außer wenn man in den Ferien Freunde besuchte.
  Das Haus war viel wärmer als das Schlafhaus in Smoke und der Holzboden längst nicht so rau. Davids Eltern schienen schon so lange hier zu leben, dass ihre Füße den Boden geglättet hatten. Das Haus kam Tally irgendwie solider vor als alle Gebäude in Smoke. Es war wirklich in
  den Berg eingehauen, das sah sie jetzt. Eine der Mauern bestand aus kahlem Fels, auf dem eine Art Versiegelung glänzte.
  "Gleichfalls, Tally", sagte Davids Mutter. Tally hätte gern gewusst wie sie wohl hieß. David sprach immer von "Mom" und "Dad", Namen, die Tally für Ellie und Sol zuletzt als Winzling benutzt hatte.
  Ein Mann erschien, schüttelte David die Hand und wandte sich dann ihr zu. "Schön, dich kennenzulernen, Tally."
  Sie blinzelte, bekam keine Luft mehr und konnte einen Moment lang nichts sagen. David und sein Vater sahen so ... gleich aus. Das ergab aber keinen Sinn. Die beiden mussten mehr als dreißig Jahre auseinander sein, wenn der Vater bei Davids Geburt wirklich schon Arzt gewesen war. Aber ihre Wangen, die Stirn, sogar das leicht schiefe Lächeln sahen sich so ähnlich.
  "Tally?", fragte David.
  "Tut mir leid. Aber ihr ... ihr seht euch so ähnlich!"
  Davids Eltern prusteten los und Tally merkte, dass sie rot anlief.
  "Das hören wir sehr oft", sagte Davids Vater. "Für euch Leute aus der Stadt ist das immer ein Schock. Aber du weißt doch Bescheid über Vererbungslehre, nicht wahr?"
  "Sicher. Ich weiß alles über Gene. Ich habe zwei Schwestern gekannt, Uglies, die fast gleich aussahen. Aber Eltern und Kinder? Das ist einfach merkwürdig."
  Davids Mutter zwang sich zu einem ernsten Gesicht, das Lächeln saß aber noch in ihren Augen. "Es sind die Züge, die wir von Eltern übernehmen, die uns unterschiedlich aussehen lassen. Eine große Nase, schmale Lippen, eine hohe Stirn – alles, was die Operation entfernt."
  "Der Hang zum Mittelwert", sagte der Vater.
  Tally nickte und dachte an den Unterricht in der Schule. Der allgemeine Durchschnitt der menschlichen Gesichtscharakteristika war die Grundlage der Operation. "Sicher. Durchschnittlich aussehende Züge gehören zu den Dingen, nach denen wir in einem Gesicht suchen."
  "Aber Familien reichen nicht-durchschnittliches Aussehen weiter. Wie unsere großen Nasen." Der Mann kniff seinem Sohn in die Nase und David verdrehte die Augen. Tally ging auf, dass David eine viel größere Nase hatte als irgendein Pretty. Warum war ihr das bisher nie aufgefallen?
  "Das gehört zu den Dingen, die man aufgibt, wenn man hübsch wird. Die Familiennase", sagte die Mutter. "Az? Dreh doch mal die Heizung höher."
  Tally merkte, dass sie noch immer fror, aber das lag nicht an der Kälte draußen. Das hier war alles so seltsam. Sie konnte sich nicht mit der Ähnlichkeit zwischen David und seinem Vater abfinden. "Schon gut. Es ist sehr schön hier, äh ..."
  "Maddy", sagte die Frau. "Wollen wir uns setzen?"
        ***
  Az und Maddy hatten sie offenbar erwartet. Im vorderen Zimmer des Hauses standen vier uralte Tassen auf kleinen Untertassen. Bald pfiff leise ein Kessel auf einer elektrischen Kochplatte und Az goss das kochende Wasser in eine antike Kanne, wobei Blumenduft durch den Raum schwebte.
  Tally schaute sich um. Das Haus war anders als die Gebäude in Smoke. Es war wie das typische Haus alter Leute, vollgestopft mit unpraktischen Gegenständen. Eine kleine Marmorstatue stand in einer Ecke, dicke Gobelins hingen an den Wänden, färbten das Licht im Zimmer und glätteten alle scharfen Kanten. Maddy und Az hatten bei ihrer Flucht offenbar sehr viel aus der Stadt mitgenommen. Und anders als Uglies die nur ihre Schuluniformen und einige andere entbehrliche Dinge besaßen, hatten die beiden offenbar ihr Leben lang Gegenstände gesammelt, ehe sie der Stadt entkommen waren.
  Tally dachte daran, wie sie zwischen Sols Holzarbeiten aufgewachsen war, abstrakten Formen aus abgebrochenen Ästen, die sie als Winzling im Park gesammelt hatte. Vielleicht war Davids Kindheit doch nicht ganz anders gewesen als ihre eigene.
  "All das kommt mir so bekannt vor", sagte sie.
  "Hat David es dir nicht erzählt?", fragte Maddy. "Az und ich stammen aus derselben Stadt wie du. Wenn wir dortgeblieben wären, hätten wir dich vielleicht hübsch gemacht."
  "Ja, kann schon sein", murmelte Tally, Wenn sie in der Stadt geblieben wären, würde es kein Smoke geben und Shay wäre niemals weggelaufen.
  "David sagt, dass du ganz allein hergekommen bist", fuhr Maddy fort.
  Tally nickte. "Ich bin einer Freundin gefolgt. Sie hatte mir Anweisungen hinterlassen."
  "Und du hast beschlossen, allein zu kommen? Hättest du nicht
  warten können, bis David wieder in der Nähe war?"
  "Dazu hat die Zeit nicht gereicht", erklärte David. "Sie ist in der
  Nacht vor ihrem sechzehnten Geburtstag weggelaufen."
  "Da hast du ja wirklich bis zur allerletzten Minute gewartet", sagte Az.
  "Wie dramatisch", sagte Maddy beifällig.
  "Eigentlich hatte ich auch keine Wahl. Ich hatte noch nicht einmal
  von Smoke gehört, bis Shay, meine Freundin, mir erzählt hat, dass sie hinwollte. Das war ungefähr eine Woche vor meinem Geburtstag."
  "Shay? Ich glaube nicht, dass wir sie kennen", sagte Az.
  Tally sah David an, und der zuckte mit den Schultern. Er war also nie mit Shay hier gewesen? Für einen Moment fragte Tally sich, was wirklich zwischen David und Shay gelaufen war.
  "Du hast deinen Entschluss schnell gefasst", sagte Maddy.
  Tally zwang sich, wieder an die Gegenwart zu denken. "Das musste ich. Ich hatte ja nur diese eine Chance."
  "Da höre ich eine wahre Smokey sprechen", sagte Az und goss aus dem Kessel eine dunkle Flüssigkeit in die Tassen. "Tee?"
  "Ja, bitte." Tally ließ sich eine Untertasse geben und spürte die glühend heiße Flüssigkeit durch das dünne, weiße Porzellan. Als ihr aufging, dass das so eine zungenverbrennende Smokey- Erfindung war, nippte sie nur vorsichtig daran. Ihr Gesicht verzog sich bei dem bitteren Geschmack. "Hu. Ich meine ... tut mir leid. Ich hab noch nie Tee getrunken."
  Az machte große Augen. "Wirklich nicht? Als wir noch dort gelebt haben, war Tee sehr beliebt."
  "Ich habe davon gehört. Aber heute wird er eher von Runzlingen getrunken. Äh, ich meine, vor allem von späten Pretties." Tally gab sich alle Mühe, nicht rot zu werden.
  Maddy lachte. "Na, wir sind ziemlich runzlig, also ist es wohl in Ordnung für uns."
  "Sprich für dich selbst, Liebes."
  "Probier das mal", sagte David. Er ließ einen weißen Würfel in Tallys Tee fallen. Beim nächsten Schluck hatte sich süßer Geschmack im Tee verbreitet, der die Bitterkeit auflöste. Sie konnte jetzt an dem Gebräu nippen, ohne das Gesicht zu verziehen.
  "David hat dir ein wenig über uns erzählt, glaube ich", sagte Maddy.
  "Na ja, er hat gesagt, dass ihr vor langer Zeit weggelaufen seid. Noch
  vor seiner Geburt."
  "Ach wirklich?" Az schaute jetzt genauso wie David, wenn jemand aus dem Eisenbahnkommando mit einer Vibra-Säge etwas Gedankenloses und Gefährliches anstellte.
  "Ich habe ihr nicht alles erzählt, Dad", sagte David. "Nur, dass ich in der Wildnis aufgewachsen bin."
  "Den Rest überlässt du uns?", fragte Az ein wenig steif. "Reizend von dir."
  David hielt dem Blick seines Vaters stand. "Tally ist hergekommen, um sich davon zu überzeugen, dass es ihrer Freundin gut geht. Den ganzen Weg allein. Aber vielleicht will sie nicht bleiben."
  "Hier wird niemand zum Bleiben gezwungen", sagte Maddy.
  "So hab ich das nicht gemeint", sagte David. "Ich finde, sie sollte es wissen, ehe sie entscheidet, ob sie in die Stadt zurückkehren will."
  Tally ließ ihren Blick von David zu seinen Eltern wandern und staunte. Die drei kommunizierten auf eine so seltsame Weise, überhaupt nicht wie Uglies und Runzlinge. Es war viel eher wie eine Auseinandersetzung unter Uglies. Unter gleichen.
  "Was sollte ich wissen?", fragte sie leise.
  Alle sahen sie an. Maddy und Az musterten sie forschend.
  "Das große Geheimnis", sagte Az dann. "Das, weswegen wir vor zwanzig Jahren weggelaufen sind."
  "Und das wir meistens für uns behalten", fügte Maddv gelassen hinzu und sah dabei David an.
  "Tally hat es verdient, es zu erfahren", sagte David und ließ den
  Blick seiner Mutter nicht los. "Sie wird verstehen, wie wichtig das ist."
  "Sie ist ein Kind. Ein Kind aus der Stadt."
  "Sie ist ganz allein hergekommen, nur mit einer Handvoll unverständlicher Anweisungen."
  Maddy runzelte unwillig die Stirn. "Du warst nie in einer Stadt David. Du ahnst ja nicht einmal, wie verweichlicht die Leute da sind. Die verbringen ihr ganzes Leben in einer Luftblase."
  "Sie hat neun Tage allein überlebt, Mom. Hat sogar einen Steppenbrand überstanden."
  "Bitte, ihr zwei", schaltete Az sich ein. "Sie sitzt hier vor euch. Oder was, Tally?"
  "Richtig", sagte Tally leise. "Und ich wünschte, ihr würdet endlich erzählen, wovon ihr hier redet."
  "Tut mir leid, Tally", sagte Maddy. "Aber dieses Geheimnis ist sehr wichtig. Und sehr gefährlich."
  Tally nickte und starrte zu Boden. "Alles hier draußen ist gefährlich."
  Die anderen schwiegen für einen Moment. Tally hörte nur das Klirren des Löffels, als Az seinen Tee umrührte.
  "Seht ihr?", sagte David schließlich. "Sie versteht. Ihr könnt ihr vertrauen. Sie hat es verdient, die Wahrheit zu erfahren."
  "Das verdienen alle", sagte Maddy gelassen. "Irgendwann."
  "Nun gut", sagte Az und trank dann einen Schluck Tee. "Sieht so aus, als müssten wir es dir sagen, Tally."
  "Mir was denn sagen?"
  David holte tief Atem. "Die Wahrheit über das Hübsch werden."