Maddy und Az

  

  
  David trieb das Brett so schnell über den Felsrücken, dass Tally glaubte hinunterfallen zu müssen. Sie bohrte ihre Finger in Davids Jacke, um Halt zu finden, und war dankbar für ihre neuen Schuhe mit den Griffsohlen. "Hör mal, David. Der Boss hat sich gewehrt, deshalb haben sie ihn umgebracht."
  "Meine Eltern hätten sich auch gewehrt."
  Sie biss sich auf die Lippe und konzentrierte sich mit aller Kraft darauf, sich auf dem Brett zu halten. Als sie das Ende des Hubpfades erreicht hatten, sprang David hinunter und rannte den Hang hinab.
  Tally sah, dass das Brett noch immer nicht ganz aufgeladen war und ließ sich einen Moment Zeit, um es aufzuklappen, ehe sie ihm folgte. Sie hatte es nicht eilig herauszufinden, was die Specials mit Maddy und Az gemacht hatten. Aber als sie sich vorstellte, dass David seine Eltern allein fand, rannte Tally dann doch los.
  Sie brauchte lange Minuten, um den Pfad im Unterholz zu finden. Vor zwei Nächten waren sie in der Dunkelheit und aus einer anderen Richtung gekommen. Sie lauschte auf David, konnte aber nichts hören. Aber dann änderte der Wind seine Richtung und Rauchgeruch wurde durch die Bäume geweht.
  Es war nicht leicht gewesen, das Haus abzubrennen.
  Da es in den Berg eingehauen gewesen war, hatten die Steinmauern und das Dach kein Futter für die Flammen geboten. Aber die Angreifer hatten
  offenbar etwas hineingeworfen, das seinen eigenen Brennstoff enthielt. Die Fenster waren herausgeschleudert worden und das Glas lag im Gras verstreut, von der Tür waren nur noch ein paar verkohlte Rest übrig, die im Wind an den Angeln hin- und herschlugen.
  David blieb davor stehen. Er schaffte es nicht, über die Schwelle zu treten.
  "Bleib hier", sagte Tally.
  Sie ging durch die Tür und im ersten Moment wurde sie von der Luft
  dort überwältigt. Morgenlicht fiel schräg herein und und ließ schwebende Ascheteilchen aufleuchten. Sie wirbelten um Tally herum, kleine Spiralgalaxien, die durch ihr Vorbeigehen in Bewegung gesetzt wurden.
  Die verkohlten Bretter zerkrümelten unter ihren Füßen, an manchen Stellen waren sie bis auf den nackten Steinboden abgebrannt. Aber einige Gegenstände hatten das Feuer überlebt. Tally erkannte die kleine Marmorstatue, und einer der Wandteppiche war aus geheimnisvollen Gründen dem Feuer entgangen. Im Wohnzimmer zeichneten sich einige Teetassen weiß von den versengten Möbeln ab. Tally hob eine hoch und begriff, dass ein menschlicher Körper mehr als nur Spuren hinterlassen würde, wenn diese Tassen überlebt hatten.
  Sie schluckte. Wenn Davids Eltern hier gewesen waren, dann würde sie ihre Überreste nur allzu leicht finden.
  Weiter hinten im Haus hingen in einer kleinen Küche Töpfe und Pfannen aus der Stadt von der Decke, ihr versengtes, verbeultes Metall leuchtete an einigen Stellen noch immer durch die Rußschicht. Tally sah einen Sack Mehl und einige Stücke Dörrobst, die aus irgendwelchen Gründen ihren leeren Magen knurren ließen.
  Als Letztes kam das Schlafzimmer.
  Die Steindecke war niedrig und kantig, die Farbe warf Risse und war durch die Hitze des wütenden Feuers geschwärzt. Tally merkte, dass das Bett noch immer Hitze ausstrahlte, die Strohmatratze und die dicken Steppdecken hatten den Flammen die perfekte Nahrung geboten.
  Aber Az und Maddy waren nicht hier gewesen. Nichts hier drin konnte von Menschen stammen. Tally seufzte erleichtert auf und ging wieder hinaus, wobei sie in jedem Zimmer noch einmal nachsah.
  Sie schüttelte den Kopf, als sie das Haus verließ. "Entweder haben die Specials sie mitgenommen oder sie sind entkommen."
  David nickte und drängte sich an ihr vorbei. Tally brach auf dem Boden zusammen und hustete, jetzt endlich wehrte ihre Lunge sich gegen den Rauch und die Staubteilchen, die sie eingeatmet hatte. Ihre Hände und Arme waren schwarz vor Ruß, das ging ihr jetzt auf.
  Als David herauskam, hielt er ein langes Messer in der Hand."Streck die Hände aus."
  "Was?"
  "Die Handschellen. Ich will sie nicht mehr sehen."
  Sie nickte und streckte die Hände aus. Vorsichtig schob er die Klinge zwischen Haut und Kunststoff und bewegte das Messer wie eine Säge hin und her.
  Nach etwas mehr als einer Minute zog er frustriert das Messer wieder heraus. "Das geht nicht."
  Tally sah sich ihre Handgelenke an. Der Kunststoff wies kaum Spuren auf. Sie hatte nicht gesehen, womit der Special hinter ihrem Rücken die Handschellen gekappt hatte, aber das hatte nur eine Sekunde gedauert. Vermutlich hatte er einen chemischen Katalysator benutzt.
  "Vielleicht ist es irgendein Flugzeugkunststoff", sagte sie. "Manches von diesem Zeug ist härter als Stahl."
  David runzelte die Stirn. "Aber wie hast du sie dann zerschnitten?"
  Tally öffnete den Mund, brachte aber kein Wort heraus. Sie konnte ihm ja nicht erzählen, dass die Specials selber sie freigelassen hatten.
  "Und warum hast du an jedem Handgelenk zwei Fesseln?"
  Sie schaute verdutzt nach unten, dann fiel ihr ein, dass sie bei ihrer Festnahme Handschellen angelegt bekommen hatte, und dann noch einmal bei Dr. Cable, ehe sie auf die Suche nach dem Anhänger geschickt worden war.
  "Ich weiß nicht", brachte sie heraus. "Wahrscheinlich wollten sie  sichergehen. Aber der Rest war einfach. Ich hab sie an einem scharfen Felsen zerschnitten."
  "Das kann doch nicht sein." David sah das Messer an. "Dad sagt immer, das hier sei das nützlichste Gerät, das er je aus der Stadt mitgebracht hat. Das besteht nur aus Hightechlegierungen und Mono-Fasern."
  Sie zuckte mit den Schultern. "Vielleicht war das Zwischenteil aus anderem Material."
  Er schüttelte den Kopf, nicht überzeugt von ihrer Erklärung. Aber dann zuckte er mit den Schultern. "Na egal, dann müssen wir eben damit leben. Aber eins steht fest: Meine Eltern sind nicht entkommen."
  "Woher weiß du das?"
  Er hielt das Messer hoch. "Mein Vater wäre niemals ohne dieses Messer geflohen. Also müssen die Specials sie total überrumpelt haben."
  "Das tut mir leid, David."
  "Immerhin leben sie ja noch."
  Er schaute ihr in die Augen und Tally sah, dass seine Panik sich gelegt hatte. "Also, Tally, willst du dich noch immer auf die Suche nach ihnen machen?"
  "Ja, natürlich."
  David lächelte. "Gut." Er setzte sich neben sie, schaute sich zum Haus um und schüttelte den Kopf. "Es ist schon komisch, Mom hat immer gesagt, dass das passieren würde. Sie haben mich meine ganze Kindheit hindurch darauf vorzubereiten versucht. Und ich habe ihnen lange geglaubt. Aber nach all den Jahren kamen mir dann Zweifel. Vielleicht litten meine Eltern ja einfach an Verfolgungswahn. Vielleicht war es so, wie die Flüchtlinge immer behaupteten, vielleicht gab es die Specials ja gar nicht."
  Tally nickte schweigend, sie wagte nicht, etwas zu sagen.
  "Und jetzt, wo es passiert ist, kommt es mir noch weniger wirklich vor."
  "Es tut mir leid, David." Aber er würde nie erfahren, wie leid es ihr tat. Oder jedenfalls erst, wenn sie ihm geholfen hatte seine Eltern zu retten. "Mach dir keine Sorgen, wir werden sie finden."
  "Wir müssen vorher noch einen Halt einschieben."
  "Wo denn?"
  "Ich hab dir ja gesagt, dass meine Eltern so etwas erwartet haben, seit sie damals Smoke gründeten. Sie haben ihre Vorbereitungen getroffen."
  "Zum Beispiel, indem sie dafür sorgten, dass du allein zurechtkommst", sagte sie und berührte das weiche Leder seiner selbst genähten Jacke.
  Er lächelte sie an und rieb ihr mit einem Finger Ruß von der Wange. "Sie haben noch viel mehr gemacht. Komm mit."
        ***
  In der Nähe des Hauses gab es eine Höhle mit einer so schmalen Öffnung, dass Tally auf dem Bauch hineinkriechen musste. David zeigte ihr den Vorrat, den seine Eltern zwanzig Jahre lang gehütet hatten.
  Es gab Wasserreiniger, Positionsfinder, l.eichtgewichtskleidung und  Schlafsäcke - aus Smokey-Sicht einen absoluten Schatz an Überlebensausrüstung. Die vier Hubbretter sahen altmodisch aus, aber sie besaßen die gleichen Zusatzgeräte, die Dr Cable Tally für ihre Reise nach Smoke mitgegeben hatte, und es gab auch Bauchsensoren. Alles war von höchster Qualität.
  "Meine Güte, sie waren auf alles vorbereitet."
  "Immer", sagte David. Er hob eine Taschenlampe hoch und richtete ihren Strahl auf die Steinwand. "Jedes Mal, wenn ich hier war, um den ganzen Kram durchzusehen, habe ich mir diesen Moment vorgestellt. Eine Million Mal habe ich genau geplant, was ich dann brauchen würde. Es ist fast so, als ob ich es mir so sehr vorgestellt habe, dass es einfach passieren musste."
  "Es ist nicht deine Schuld, David."
  "Wenn ich hier gewesen wäre ..."
  "Dann würdest du jetzt in einem Hubwagen der Specials liegen, mit Handschellen, und dann könntest du niemanden retten."
  "Ja, aber stattdessen bin ich hier." Er sah sie an. "Und immerhin bist du das auch. Und gerade dich habe ich mir in a|l deJ Jahren nie vorgestellt. Eine unerwartete Verbündete."
  Sie brachte ein Lächeln zu Stande.
  Er zog eine große wasserdichte Tasche hervor. "Ich bin am Verhungern."
  Tally nickte und für einen Moment drehte sich alles vor ihrenAugen. Sie hatte seit dem Abendessen vor zwei Tagen nichts mehr gegessen.
  David durchwühlte die Tasche. "Jede Menge Instant-Kram. Mal sehen: VegiReis, CurryNuds, FrikNuds, PadThai … irgendeinen Wunsch?"
  Tally holte tief Atem. Zurück in der Wildnis.
  "Alles, nur nicht SpagBol."