Der schlimmste Versprecher
Sie flog, sie jagte über den Boden, obwohl es unter ihr
keine Schienen und nicht einmal ein Hubbrett gab, sie hielt sich
durch pure Willenskraft und den Wind in ihrer geblähten Jacke in
der Luft. Sie streifte den Rand einer massiven Klippe, die auf
einen riesigen schwarzen Ozean hinausblickte. Eine Schar von
Seevögeln verfolgte sie, ihr wildes Geschrei tat Tallys Ohren
ebenso weh wie Dr. Cables Rasierklingenstimme.
Plötzlich zerbrachen und zerrissen die Felsen unter
ihr. Eine breite Kluft tat sich auf und der Ozean strömte mit einem
Dröhnen hinein, das die Schreie der Seevögel übertönte. Tally wurde
durch die Luft geworfen und stürzte dem schwarzen Wasser
entgegen.
Der Ozean verschlang sie, füllte ihre Lunge, ließ ihr
Herz erstarren, so dass sie nicht aufschreien konnte ...
"Nein!", brüllte Tally und fuhr im Schlafsack
hoch.
Ein kalter Seewind blies ihr ins Gesicht und schenkte
ihr einen klaren Kopf. Tally sah sich um und ihr ging auf, dass
sie, in ihren Schlafsack eingewickelt, oben auf den Klippen lag.
Müde, hungrig und mit einem wahnsinnigen Druck auf der Blase, aber
noch längst nicht vom Ozean verschlungen.
Sie holte tief Luft. Die Seevögel schrien noch immer,
jetzt aber in der Ferne.
Dieser letzte Traum war nur einer von vielen Albträumen
gewesen, in denen sie abgestürzt war.
Der Abend zog herauf, die Sonne ging hinter dem Ozean
unter und färbte das Wasser blutrot. Tally zog Hemd und Jacke an,
ehe sie sich aus dem Schlafsack heraustraute. Es schien von Minute
zu Minute kälter zu werden und vor ihren Augen verlosch das Licht.
Sie sollte möglichst schnell weiter.
Das Problem war das Hubbrett. Seine
auseinandergeklappte Oberfläche war feucht geworden, bedeckt von
einer feinen Schicht aus Gischt und Tau. Tally versuchte sie mit
ihrem Jackenärmel abzuwischen, aber es gab zu viel Wasser und zu
wenig Ärmel. Das feuchte Brett ließ sich zwar problemlos
zusammenklappen, doch als Tally fertig war, kam es ihr zu schwer
vor, als sei das Wasser noch immer zwischen den einzelnen Schichten
gefangen. Das Funktionslicht des Brettes wurde gelb und Tally sah
genauer hin. Aus den Seiten des Brettes tropfte langsam das Wasser
heraus. "Gut. Dann hab ich noch Zeit zum Essen."
Tally zog eine Packung SpagBol aus dem Rucksack, dann
fiel ihr ein, dass der Wasserreiniger leer war. Die einzige
erreichbare Wasserquelle befand sich unterhalb der Klippen, aber es
führte kein Weg nach unten. Sie wrang ihre nasse Jacke aus, was ein
paar ordentliche Spritzer erbrachte, dann schob sie das aus dem
Brett quellende Wasser in den Reiniger, bis er halbvoll war. Das
Ergebnis war eine Portion verklebte, zu stark gewürzte SpagBol, bei
der sie heftig kauen musste.
Als sie ihre wenig ansprechende Mahlzeit hinter sich
gebracht hatte, leuchtete das Funktionslicht wieder grün.
"Okay, auf geht’s", sagte Tally zu sich. Aber wohin?
Sie blieb nachdenklich stehen, einen Fuß auf dem Brett und einen
auf dem Boden.
Auf Shays Zettel stand: "Bei der zweiten mache den
schlimmsten Versprecher." Ein Versprecher, konnte damit ein Fehler
gemeint sein?
Einen Fehler zu machen dürfte ja nicht so schwer sein.
Aber was war der schlimmstmögliche? Sie hatte sich an diesem Tag ja
schon fast umgebracht.
Tally musste wieder an ihren Traum denken. In den
Abgrund zu fallen müsste doch als ziemlich übler Fehler durchgehen.
Sie stieg auf das Brett, lenkte es zum eingestürzten Ende der
Brücke und schaute in die Tiefe, wo der Fluss ins Meer
mündete.
Wenn sie hinunterkletterte, dann gab es nur noch die
Möglichkeit, dem Fluss zu folgen. Vielleicht war das gemeint. Aber
in den steilen Felsen zeichnete sich keinerlei Pfad ab und man
konnte sich nirgendwo festhalten.
Natürlich würde eine Eisenader im Felsen sie
möglicherweise sicher nach unten bringen. Ihre Augen suchten die
Wände der Kluft nach dem rötlichen Eisenton ab. Einige Stellen
sahen auch vielversprechend aus, aber es war jetzt schon so dunkel,
dass sie nicht sicher sein konnte.
"Klasse." Tally wurde klar, dass sie zu lange
geschlafen hatte. Wenn sie auf die Morgendämmerung wartete, würde
sie zwölf Stunden verlieren, und sie hatte kein Wasser mehr.
Die einzige andere Möglichkeit war, dem Fluss hier oben
auf den Felsen zu folgen. Aber es konnte Tage dauern, bis sie eine
geeignete Abstiegsmöglichkeit fand. Und wie sollte sie die nachts
überhaupt erkennen?
Sie musste Zeit aufholen und nicht irgendwo in der
Dunkelheit herum- irren.
Tally schluckte und fasste einen Entschluss. Es musste
eine Möglichkeit
geben, mit dem Brett nach unten zu gelangen. Vielleicht
machte sie hier einen Fehler, aber das verlangte der Zettel ja
gerade.
Sie lenkte das Brett von der Brücke fort, bis es den
Metallkontakt verlor. Es rutschte am Felsenrand nach unten und
wurde immer schneller, je weiter es sich vom Metall der Schienen
entfernte.
Tallys Augen suchten die Klippen verzweifelt nach
irgendeiner Spur von Eisen ab. Sie lenkte das Brett dichter an die
Felswand heran, konnte aber nichts sehen. Einige
Metalldetektorlampen verloschen. Wenn sie jetzt noch tiefer ging,
würde sie abstürzen.
Das konnte nicht klappen. Tally schnippte mit den
Fingern. Das Brett wurde für einen Moment langsamer, versuchte sich
zu heben, dann zitterte es und bewegte sich weiter nach
unten.
Zu spät.
Tally öffnete ihre Jacke, aber die Luft in der Schlucht
stand still. Sie entdeckte einen rostig schimmernden Streifen in
der Felswand und brachte mit Mühe das Brett näher heran, aber der
Streifen entpuppte sich als verschmierte, klebrige Flechte. Das
Brett fiel immer schneller nach unten und ein Detektorlicht nach
dem anderen verlosch.
Und dann war das Brett tot.
Tally wusste, dass dieser Fehler ihr letzter sein
würde.
Sie stürzte wie ein Stein den tosenden Wellen entgegen.
Wie in ihrem Traum wurde ihre Stimme von einer eiskalten Hand
erstickt, ihre Lunge schien sich bereits mit Wasser gefüllt zu
haben. Das Brett wurde unter ihr hin und her geworfen, wie ein
Blatt im Wind.
Tally schloss die Augen und wartete auf den tödlichen
Aufprall.
Plötzlich wurde sie an den Handgelenken gepackt und
brutal hochgerissen. Ihre Schultern schrien vor Schmerz, als sie
durch die Luft gewirbelt wurde, und sie drehte sich um sich selbst
wie eine Turnerin an den Ringen.
Tally riss die Augen auf, dann blinzelte sie. Sie wurde
auf das Hubbrett hinabgelassen, das felsenfest unmittelbar über der
Wasseroberfläche auf sie wartete.
"Was zum ...", fragte sie laut. Als ihre Füße dann Halt
fanden, ging ihr auf, was passiert war.
Der Fluss hatte sie aufgefangen. Er hatte hier seit
Jahrhunderten, oder wie lange so ein Fluss nun existieren mochte,
Metalle abgelagert, und die Magnete im Brett hatten gerade noch
rechtzeitig Kontakt bekommen.
"Gerettet, mehr oder weniger", murmelte Tally. Sie rieb
sich die Schultern, die von der Wucht der Auffangarmbänder
schmerzten, und fragte sich, wie tief sie würde fallen können, ehe
die Armbänder ihr die Arme aus den Gelenken reißen würden. Aber sie
hatte es nach unten geschafft. Vor ihr zog der Fluss dahin und
schlängelte sich zu den schneebedeckten Bergen weiter. Tally
zitterte im Meerwind und zog die nasse Jacke fester um sich.
"Nimm die Seite, die du verachtest, vier Tage darauf",
zitierte sie Shays Botschaft. "Vier Tage. Da mach ich mich wohl
besser auf den Weg."
***
Nach ihrem ersten Sonnenbrand klebte sich Tally jeden
Morgen in der Dämmerung einen Sonnenblocker ins Gesicht. Aber
obwohl sie jeden Tag nur einige Stunden in der Sonne verbrachte,
wurden ihre ohnehin schon braunen Arme immer dunkler, die SpagBol
schmeckten nie wieder so gut wie beim ersten Mal auf den Felsen.
Tallys Mahlzeiten variierten zwischen erträglich und entsetzlich.
Am schlimmsten war das SpagBol-Frühstück, im Sonnenaufgang, wenn
der bloße Gedanke an Nudeln ihr schon auf ewig den Appetit zu
verderben drohte. Sie wünschte fast, keine mehr zu haben und
entweder einen Fisch fangen und braten zu müssen, oder ganz einfach
zu verhungern und ihren Ugly-Speck auf die harte Tour zu
verlieren.
Wovor Tally sich aber wirklich fürchtete, war, dass ihr
das Toilettenpapier ausging. Ihre einzige Rolle war schon halb
verbraucht, daher teilte sie sie jetzt ganz streng ein und zählte
die Blätter. Und jeden Tag stank sie ein wenig mehr.
Am dritten Tag auf dem Fluss beschloss sie, ein Bad zu
nehmen.
Tally erwachte wie immer eine Stunde vor
Sonnenuntergang und kam sich in ihrem Schlafsack klebrig vor. Sie
hatte am Morgen ihre Kleider gewaschen und zum Trocknen auf einen
Felsen gelegt. Bei der Vorstellung, mit schmutziger Haut in saubere
Kleidung schlüpfen zu müssen, bekam sie eine Gänsehaut.
Das Wasser im Fluss bewegte sich sehr schnell und
hinterließ im Schmutzfilter des Wasserreinigers fast keine Reste,
was bedeutete, dass es sauber war. Aber es war eiskalt, vermutlich
wegen des schmelzenden Schnees aus den näher rückenden Bergen.
Tally hoffte, dass es so spät am Tag ein bisschen weniger eiskalt
sein möge, nachdem die Sonne die Möglichkeit gehabt hatte, es
anzuwärmen.
Ihre Überlebensausrüstung enthielt Seife, wie sie nun
feststellte - einige kleine Stücke, die in eine Ecke des Rucksacks
gequetscht worden waren. Eines davon hielt Tally in der Hand, als
sie am Flussufer stand, mit nichts am Leib als dem Sensor an ihrem
Bauchring. Sie bibberte in der kalten Brise.
"Na dann los", sagte sie mit zitternder Stimme.
Sie hielt einen Fuß ins Wasser und fuhr zurück, weil
ein eiskalter Schmerz ihr Bein hochjagte. An dieses Wasser würde
sie sich nicht langsam gewöhnen können. Sie musste sich
hineinstürzen.
Tally ging am Ufer entlang, suchte nach einer guten
Absprungstelle und nahm ihren ganzen Mut zusammen. Ihr ging auf,
dass sie draußen noch nie nackt gewesen war. In der Stadt waren
alle Stellen unter freiem Himmel für alle zugänglich, aber hier
hatte sie seit Tagen kein menschliches Gesicht mehr gesehen. Die
Welt schien ihr zu gehören. Sogar in der kalten Luft war es
wunderschön, die Sonne auf ihrer Haut zu spüren.
Sie biss die Zähne zusammen und schaute den Fluss an.
Hier in der Wildnis herumzustehen würde sie nicht sauber machen.
Sie zählte auf drei, dann noch mal auf zehn, aber es half nichts.
Dann ging ihr auf, dass sie auch beim Herumstehen fror.
Und endlich sprang Tally.
Das eiskalte Wasser schloss sich wie eine Faust um sie.
Es lähmte jeden ihrer Muskeln und verwandelte ihre Hände in
zitternde Krallen. Für einen Moment fragte Tally sich, wie sie ans
Ufer zurückgelangen sollte. Vielleicht würde sie hier ganz einfach
sterben und für immer unter dem eisigen Wasser verschwinden.
Sie holte tief und zitternd Atem und machte sich klar,
dass die Menschen vor den Rusties bestimmt immer in eiskalten
Bächen gebadet hatten. Tally biss die Zähne zusammen, um sie am
Klappern zu hindern, hielt den Kopf unter Wasser, hob ihn wieder
und schleuderte ihre nassen Haare nach hinten.
Einige Augenblicke später entzündete sich irgendwo in
ihrem Bauch ein unerwartetes Feuer, als hätte das Eiswasser eine
geheime Energiereserve in ihrem Körper aktiviert. Sie riss die
Augen auf und hörte sich einen Freudenschrei ausstoßen. Die Berge,
die nach drei Tagen Flug ins Binnenland über ihr aufragten, kamen
ihr plötzlich kristallklar vor, ihre schneebedeckten Gipfel fingen
die letzten Sonnenstrahlen ein. Tallys Herz klopfte wild, das Blut
strömte überraschend warm durch ihren Körper.
Aber der Energieschub drohte rasch zu verlöschen. Sie
riss die Seifenpackung auf, verteilte die Seife zwischen ihren
Fingern, auf ihrer Haut, in ihrem Haar. Noch einmal untertauchen,
dann war sie fertig.
Als sie zum Ufer hinüberblickte, sah Tally, dass die
Strömung sie von ihrem Lager weggetragen hatte. Sie schwamm einige
Züge, dann watete sie auf das felsige Ufer zu. Der Wind jagte
Schauer über ihre Haut, doch plötzlich hörte Tally etwas, das ihr
Herz erstarren ließ.
Etwas kam näher. Etwas Großes.