Besondere Umstände
Dieser Hubwagen war größer, aber nicht so bequem.
Der Flug war viel weniger angenehm als Tallys erster an
diesem Tag. Der seltsam aussehende Mann flog mit einer aggressiven
Ungeduld, er ließ sich immer wieder wie ein Stein fallen, um
zwischen Flugschneisen eine Abkürzung zu nehmen, und bei jeder
Drehung ging er so steil hoch wie ein Hubbrett. Tally war noch nie
luftkrank gewesen, aber jetzt klammerte sie sich an die
Sicherheitsgriffe, ihre Fingerknöchel waren weiß und sie starrte
krampfhaft nach unten. Sie konnte noch einen letzten Blick auf New
Pretty Town werfen, ehe die Stadt hinter ihnen zurückblieb.
Sie flogen flussabwärts, über Uglyville hinweg, über
den grünen Gürtel und weiter hinaus zum Transportring, wo die
Fabriken ein Stück aus dem Boden lugen. Neben einem großen,
unförmigen Hügel senkte der Wagen sich auf einen Komplex aus
rechteckigen Gebäuden, kompakt wie die Ugly-Wohnhäuser und in der
Farbe von getrocknetem Gras.
Sie landeten mit einem schmerzhaften Aufprall und der
Mann führte sie in eins dieser Gebäude und durch ein Labyrinth aus
gelbbraunen Gängen. Tally hatte nie solch Übelkeit erregende Farben
auf so großer Fläche gesehen, das Haus schien dem Zweck zu dienen,
seinen Bewohnern leichten Brechreiz zu verpassen.
Und es gab hier noch mehr Leute, die aussahen wie der
Mann.
Alle trugen eine Art Uniform aus schwarzer und grauer
Rohseide, und ihre Gesichter hatten den gleichen kalten
Raubtierausdruck. Männer und Frauen waren größer als die
Durchschnitts-Pretties und kräftiger gebaut, ihre Augen waren so
bleich wie die von Uglies. Es gab auch einige normale Leute, aber
die wirkten unbedeutend neben den Raubtiergestalten, die sich auf
elegante Weise durch die Gänge bewegten.
Tally fragte sich, ob hier Leute hingebracht wurden,
wenn die Operationen misslungen waren, wenn Schönheit grausam
wurde. Aber warum war sie dann hier? Sie war ja noch nicht einmal
operiert worden. Tally schluckte. Was, wenn diese schrecklichen
Pretties ganz bewusst so gemacht worden waren? Als Tally am Vortag
ausgemessen worden war, hatte man dabei entschieden, dass sie
niemals dem verletzlichen rehäugigen Modell angepasst werden
könnte? Vielleicht war sie ausgesucht worden, um für diese seltsame
andere Welt zurechtgestutzt zu werden.
Der Mann hielt vor einer Metalltür an und Tally kam
hinter ihm zum Stehen. Sie fühlte sich wie ein Winzling, der an
einer unsichtbaren Leine hinter einem Hüter hergezogen wird. Ihr
ganzes Selbstbewusstsein, das sie als Ugly im letzten Jahrgang
erworben hatte, war in dem Moment verschwunden, als sie im
Krankenhaus diesen Mann erblickt hatte. Vier Jahre voller Streiche
und Unabhängigkeit waren wie ausgewischt.
Das Türauge leuchtete auf und der Mann wies hinein.
Tally wurde klar, dass er kein Wort mehr gesagt hatte, seit er sie
im Krankenhaus abgeholt hatte. Sie holte tief Luft, was die
verkrampften Muskeln in ihrer Brust vor Schmerz zucken ließ, und
sagte mit einem Krächzen: "Bitte, warum?"
"Drinnen", war die Antwort.
Tally lächelte und erklärte es in Gedanken zu einem
kleinen Sieg, dass sie ihm doch noch ein Wort entlockt hatte, dann
aber tat sie wie ihr geheißen.
***
"Ich bin Dr. Cable."
"Tally Youngblood."
Dr. Cable lächelte. "Ach, ich weiß, wer du bist."
Diese Frau war eine grausame Pretty. Sie hatte eine
Adlernase, scharfe Zähne und nicht reflektierende graue Augen. Ihre
Stimme hatte den gleichen gemessenen, neutralen Tonfall wie eine
Gutenachtgeschichte. Aber sie machte Tally wirklich nicht
schläfrig. Es gab da einen scharfen Unterklang, wie ein Stück
Metall, das langsam über Glas kratzt.
"Du hast ein Problem, Tally."
"Das hab ich mir schon fast gedacht, äh ..." Es war ein
seltsames Gefühl, die Frau nicht mit Vornamen anreden zu
können.
"Dr. Cable reicht."
Tally blinzelte. Sie hatte in ihrem ganzen Leben noch
niemanden mit Nachnamen angeredet.
"Na gut, Dr. Cable." Sie räusperte sich und konnte dann
mit trockener Stimme weiterreden. "Mein Problem im Moment ist, dass
ich keine Ahnung habe, was hier eigentlich los ist. Also, bitte,
sagen Sie es mir."
"Was glaubst du denn, was los ist, Tally?"
Tally schloss die Augen, um sich vom Anblick der
scharfen Kanten im Gesicht der Frau zu erholen. "Na ja, die
Bungeejacke wurde doch nicht gebraucht, wissen Sie, und wir haben
sie auch wieder zum Aufladen hingelegt."
"Es geht hier nicht um irgendeinen Ugly-Streich."
Tally seufzte und öffnete die Augen. "Ja, das hab ich
mir schon gedacht."
Natürlich war Shay mit ihrem Verschwinden zu weit
gegangen und Tally sollte jetzt alles erklären. "Ich weiß nicht, wo
sie ist." Dr. Cable lächelte. Dabei waren nur ihre oberen Zähne zu
sehen. "Aber irgendetwas weißt du."
"Wer sind Sie denn überhaupt?", platzte es aus Tally
heraus. "Und wo bin ich?"
"Ich bin Dr. Cable", sagte die Frau. "Und ich gehöre zu
den Specials von der Abteilung für Besondere Umstände."
***
Zuerst stellte Dr. Cable ihr jede Menge Fragen. "Du
hast Shay nicht lange gekannt, oder?"
"Nein. Nur diesen Sommer. Wir waren nicht im selben
Haus."
"Und du kennst keinen von ihren Freunden?"
"Nein. Die waren alle älter als sie. Sie hatten schon
gewechselt."
"Wie dein Freund Peris?"
Tally schluckte. Was wusste diese Frau wohl alles über
sie?
"Ja. Wie Peris und ich."
"Aber Shays Freunde sind nicht hübsch geworden,
oder?"
Tally holte langsam Atem und dachte an das Versprechen,
das sie Shay gegeben hatte. Sie wollte aber nicht lügen. Dr. Cable
würde sie dann sofort durchschauen, da war Tally sich sicher. Und
sie hatte wirklich schon Ärger genug. "Aber warum denn
nicht?"
"Hat sie dir von ihren Freunden erzählt?"
"Über solche Dinge haben wir nicht geredet. Wir waren
einfach zusammen unterwegs. Weil ... es wehgetan hat, allein zu
sein. Wir haben uns einfach Streiche ausgedacht."
"Hast du gewusst, dass sie zu einer Clique
gehörte?"
Tally schaute in Dr. Cables Augen. Die waren fast so
groß wie die einer formalen Pretty, aber die Augenwinkel zeigten
aufwärts wie bei einem Wolf.
"Einer Clique? Wie meinen Sie das?"
"Tally, warst du mit Shay jemals in der
Ruinenstadt?"
"Da gehen doch alle hin."
"Aber habt ihr jemals heimlich die Ruinenstadt
besucht?"
"Ja. Das machen viele."
"Ist euch da jemals irgendwer begegnet?"
Tally biss sich auf die Lippe. "Was bedeutet
>Besondere Umstände<?"
"Tally." Der Unterton in Dr. Cables Stimme war
plötzlich scharf wie eine Rasierklinge.
"Wenn Sie mir sagen, was >Besondere Umstände<
bedeutet, dann werde ich Ihnen antworten."
Dr. Cable lehnte sich zurück. Sie faltete die Hände und
nickte. "Diese Stadt ist ein Paradies, Tally. Sie ernährt euch,
bildet euch aus, sorgt für eure Sicherheit. Lässt euch hübsch
werden."
Tally musste einfach Hoffnung schöpfen, als sie das
hörte.
"Und unsere Stadt kann sehr viel Freiheit ertragen,
Tally. Sie lässt jungen Leuten Freiraum für ihre Streiche, lässt
sie ihre Kreativität und ihre Unabhängigkeit entwickeln. Aber ab
und zu kommt etwas Schlechtes von außerhalb der Stadt."
Dr. Cable kniff die Augen zusammen und ihr Gesicht sah
jetzt noch viel raubtierhafter aus. "Wir leben mit unserer Umwelt
im Gleichgewicht, Tally, wir reinigen das Wasser, das wir in den
Fluss zurückleiten, wie recyceln die Biomasse und nutzen nur
Energie, die wir aus unseren eigenen Solaranlagen gewinnen. Aber
manchmal können wir das, was wir von außen hereinholen, nicht
reinigen. Manchmal kommen aus der Umwelt Bedrohungen, denen wir uns
stellen müssen." Sie lächelte. "Manchmal gibt es >Besondere
Umstände<."
"Diese Abteilung, ihr Specials, ihr seid also wie
Hüter, nur eben für die ganze Stadt."
Dr. Cable nickte. "Manchmal stellen andere Städte diese
Herausforderung dar. Und manchmal machen die wenigen Leute, die
nicht in Städten leben, eben Ärger."
Tally bekam große Augen. Nicht in den Städten? Shay
hatte also die Wahrheit gesagt - es gab wirklich Orte wie
Smoke.
"Und jetzt musst du meine Fragen beantworten, Tally.
Ist euch in den Ruinen irgendwer begegnet? Jemand, der nicht aus
dieser Stadt kam? Oder aus irgendeiner Stadt?"
Tally grinste. "Nein, wirklich nicht."
Dr. Cable runzelte die Stirn, ihre Augen jagten für
einen Moment nach unten, schienen etwas zu überprüfen. Als sie sich
wieder auf Tally richteten, waren sie noch kälter geworden. Wieder
lächelte Tally. Sie war jetzt sicher, dass Dr. Cable wusste, dass
sie die Wahrheit sagte. Dieses Zimmer las doch sicher ihren
Herzschlag, ihr Schweißaufkommen, ihre Pupillenerweiterung. Aber
Tally konnte nicht erzählen, was sie nicht wusste.
Die Rasierklinge war wieder in der Stimme. "Versuch
hier keine Spielchen mit mir, Tally. Deine Freundin Shay wird dir
das nicht danken, denn du wirst sie niemals wiedersehen."
Die Freude über den kleinen Sieg verflog und Tally
spürte, wie ihr Lächeln verschwand.
"Sechs von ihren Freunden sind verschwunden, Tally,
alle auf einmal. Sie sind seither nicht wieder aufgetaucht. Zwei
weitere, die sich ihnen anschließen wollten, haben dann doch
beschlossen, ihr Leben nicht wegzuwerfen, und wir haben ein wenig
darüber in Erfahrung gebracht, was aus den anderen geworden ist.
Sie sind nicht aus eigenem Entschluss weggelaufen. Sie wurden von
jemandem von draußen in Versuchung geführt. Von jemandem, der
unsere klügsten kleinen Uglies stehlen will. Und da war uns klar,
dass hier besondere Umstände vorliegen."
Ein Wort ließ Tally kalte Schauer über den Rücken
laufen. War Shay wirklich gestohlen worden? Und was wussten Shay
oder irgendwelche Uglies wirklich über Smoke?
"Wir hatten Shay seither im Auge behalten und gehofft,
dass sie uns zu ihren Freunden führen würde."
"Aber warum haben Sie ...", platzte es aus Tally
heraus., "Sie wissen schon, warum haben Sie sie nicht
aufgehalten?"
"Deinetwegen, Tally."
"Meinetwegen?"
Dr. Cables Stimme wurde sanfter. "Wir dachten, sie
hätte jetzt eine Freundin, einen Grund, hier in der Stadt zu
bleiben. Wir dachten, bei ihr sei jetzt alles in Ordnung."
Tally konnte nur die Augen schließen und den Kopf
schütteln. "Aber dann ist Shay verschwunden", fuhr Dr. Cable fort.
"Sie hatte also noch mehr Tricks auf Lager als ihre Freunde. Du
warst für sie eine gute Lehrerin."
"Ich soll ihre Lehrerin gewesen sein?", rief Tally.
"Ich kenne doch nicht mehr Tricks als die meisten Uglies
auch!"
"Du unterschätzt dich", sagte Dr. Cable.
Tally wandte sich von den Wolfsaugen ab und sperrte die
Rasierklingenstimme aus. Das hier war nicht ihre Schuld. Sie hatte
sich doch dafür entschieden, in der Stadt zu bleiben. Sie wollte
hübsch werden. Sie hatte sogar versucht Shay zu überreden.
Aber das war ihr nicht gelungen.
"Das war nicht meine Schuld."
"Hilf uns, Tally."
"Wobei soll ich Ihnen helfen?"
"Sie zu finden. Sie alle zu finden."
Tally holte tief Luft. "Aber was, wenn sie nicht
gefunden werden wollen?"
"Was, wenn doch? Wenn sie belogen worden sind?"
Tally versuchte sich an Shays Gesicht am letzten Abend
zu erinnern, wie hoffnungsvoll sie gewesen war. Sie hatte sich so
sehr aus der Stadt herausgesehnt, wie Tally sich nach dem
Hübschwerden gesehnt hatte. So blödsinnig sich diese Entscheidung
auch anhörte, Shay hatte sie offenen Auges getroffen und Tallys
Entscheidung, in der Stadt zu bleiben, respektiert.
Tally schaute in Dr. Cables grausam schönes Gesicht und
auf die kotzgelbbraunen Fliesen an der Wand. Sie dachte an alle
Gemeinheiten, die diese Specials ihr heute zugemutet hatten - sie
hatte im Krankenhaus eine Stunde warten müssen, hatte gewartet und
geglaubt, sie werde bald hübsch sein, dann war der brutale Flug
hierher gefolgt, und dann die vielen grausamen Gesichter auf den
Gängen - und sie fasste ihren Entschluss. "Ich kann Ihnen nicht
helfen", sagte Tally. "Ich habe ein Versprechen abgegeben."
Dr. Cable bleckte die Zähne. Und diesmal war es nicht
einmal die Karikatur eines Lächelns. Die Frau war jetzt nur noch
ein Ungeheuer, rachsüchtig und unmenschlich. "Dann bekommst du auch
von mir ein Versprechen, Tally Youngblood. Wenn du uns nicht
hilfst, und zwar mit all deinen Kräften, wirst du niemals hübsch
werden."
Dr. Cable wandte sich ab.
"Von mir aus kannst du hässlich sterben."
Die Tür ging auf. Draußen stand der unheimliche Mann,
der die ganze Zeit gewartet hatte.