Käferaugen

  

  
  Sie zogen sie ans Ufer und aus dem Wasser und dann in die Flugmaschine.
  Tallys Lunge schien mit Wasser und Rauch gefüllt zu sein. Sie konnte kaum atmen, ohne dass ein wildes Husten ihren ganzen Leib schüttelte.
  "Setz sie ab."
  "Wo zum Teufel ist sie denn hergekommen?"
  "Gibt ihr eine Runde Ozwo."
  Sie ließen Tally rücklings auf den Boden fallen, der vom weißen Schaum bedeckt war. Der Mann, der sie getragen hatte, zog seine Käferaugenmaske aus und Tally riss die Augen auf.
  Er war hübsch. Ein neuer Pretty, und mindestens genau so schön wie Peris.
  Der Mann drückte ihr die Maske aufs Gesicht. Tally widersetzte sich einen Moment lang müde, aber dann strömte kalte, reine Luft in ihre Lunge. Ihr Kopf wurde leicht, als sie sie dankbar in sich hineinsog.
  Er zog die Maske weg. "Nicht übertreiben. Sonst hyperventilierst du."
  Sie versuchte etwas zu sagen, konnte aber nur husten.
  "Es wird langsam gefährlich", sagte eine andere Gestalt. "Jenks will wieder nach oben."
  "Jenks kann warten."
  Tally räusperte sich. "Mein Brett."
  Der Mann zeigte ein wunderschönes Lächeln und schaute hoch. "Das hängt über uns. He. Jemand soll das Teil in den Heli legen Wie heißt du, Kleine?"
  "Tally." Hust.
  "Na, Tally, bist du abmarschbereit? Das Feuer wartet nicht." Sie räusperte sich noch einmal und hustete wieder. "Glaub schon."
  "Na, dann los." Der Mann half ihr beim Aufstehen und zog sie zur Maschine. Sie wurde hineingeschoben, wo der Lärm viel geringer war, und zu drei anderen mit Käfermasken auf den Rücksitz gezwängt. Eine Tür knallte zu.
  Die Maschine dröhnte los und dann spürte Tally, wie sie vom Boden abhob. "Mein Brett!"
  "Keine Panik, Kleine. Das haben wir." Die Frau zog ihre Maske ab. Auch sie war eine neue Hübsche.
  Tally fragte sich, ob mit Shays Hinweis diese Leute gemeint waren. Die Käferaugen. Hatte sie nach ihnen suchen sollen?
  "Wird sie es schaffen?", fragte eine Stimme von irgendwo in der Kabine.
  "Sie wird leben, Jenks. Mach den üblichen Umweg und arbeite auf dem Heimweg noch ein bisschen mit dem Feuer."
  Tally schaute nach unten, als die Maschine aufstieg. Sie folgten dem Flusslauf und sie sah, wie die Feuer sich auf dem anderen Ufer ausbreiteten, getrieben vom Wind, den die Maschine verursachte. Ab und zu jagte die Maschine ein Flammenbündel los. Sie schaute in die Gesichter der anderen. Für neue Pretties traten sie sehr entschieden auf, sehr konzentriert auf ihre Arbeit. Aber was sie da taten, war Wahnsinn. "Was macht ihr eigentlich?", fragte sie.
  "Ein bisschen kokeln."
  "Das sehe ich auch. Aber warum?"
  "Um die Welt zu retten, Kleine. Aber he, es tut uns wirklich leid, dass du uns in die Quere gekommen bist."
        ***
  Sie nannten sich >Förster<.
  Der Mann, der sie aus dem Fluss gefischt hatte, hieß Tonk. Sie sprachen alle mit Akzent und kamen aus einer Stadt, von der Tally noch nie gehört hatte.
  "Die liegt nicht sehr weit von hier entfernt", sagte Tonk. "Aber wir Förster sind meisten draußen in der Wildnis. Die Feuerhelikopter haben ihre Basis in den Bergen."
  "Die Feuerwas?"
  "Helikopter. So ein Ding, in dem du jetzt sitzt."
  Sie schaute sich in der dröhnenden Maschine um und brüllte über den Lärm: "Das ist so rusty!"
  "Genau. Echte Antiquität, ein paar Teile davon sind an die zweihundert Jahre alt. Wir bauen die Teile nach, wenn sie verschlissen sind."
  "Aber warum?"
  "Du kannst damit überall hinfliegen, mit oder ohne magnetisches Gitter. Und um Feuer zu verbreiten, sind sie perfekt. Die Rusties wussten schon, wie man Unheil anrichtet."
  Lilly schüttelte den Kopf. "Und ihr legt Feuer, weil ..."
  Er lächelte, hob einen ihrer Schuhe hoch und zog eine zerquetschte, aber nicht verbrannte Blume aus der Sohle. "Wegen Phragmipedium panthera", sagte er.
  "Wie bitte?"
  "Diese Blume war früher einmal eine der seltensten Pflanzen auf der Welt. Eine weiße Frauenschuhorchidee. In Rusty-Zeiten war eine einzelne Zwiebel mehr wert als ein Haus."
  "Aber wieso? Es gibt doch Abermillionen davon."
  "Ist dir das aufgefallen?" Er hielt die Blume hoch und starrte in ihr zartes Inneres. "Vor an die dreihundert Jahren hat irgendeine Rusty herausgefunden, wie man die Art an andere Bodengegebenheiten anpassen kann. Sie hat die Gene manipuliert, damit sie sich leichter vermehren konnten."
  "Warum?"
  "Das Übliche. Um sie gegen allen möglichen Kram einzutauschen. Aber sie war ein wenig zu erfolgreich. Schau nach unten."
  Tally blickte aus dem Fenster. Die Maschine hatte jetzt an Höhe gewonnen und den Feuersturm hinter sich gelassen. Unten zogen sich endlose weiße Flächen dahin, unterbrochen nur von einigen wenigen kahlen Stellen. "Scheint ja gute Arbeit geleistet zu haben, die Frau. Na und? Sie sind doch schön."
  "Eine der schönsten Pflanzen auf der Welt. Aber zu erfolgreich. Sie hat sich in das perfekte Unkraut verwandelt. Das, was wir Monokultur nennen. Sie verdrängt jede andere Art, erstickt Bäume und Gräser und außer einer einzigen Kolibrisorte, die sich vom Nektar ernährt, wird sie von keinem Wesen gegessen. Aber diese Kolibris nisten in Bäumen."
  "Da unten sind aber keine Bäume", sagte Tally. "Da sind nur die Orchideen."
  "Genau. Das eben ist Monokultur: Alles ist dasselbe. Wenn in einer Gegend genug Orchideen wachsen, gibt es irgendwann nicht mehr genug Kolibris, um sie zu befruchten. Du weißt, den Samen zu verbreiten."
  "Ja", sagte Tally. "Das mit den Vögeln und den Bienen kenne ich."
  "Aber klar doch, Kleine. Also sterben die Orchideen dann irgendwann
  aus, als Opfer ihres eigenen Erfolges, und hinterlassen eine Wüste. Biologischer Nullpunkt. Wir Förster versuchen, ihre Ausbreitung zu verhindern. Wir haben es mit Gift probiert, haben Seuchen entwickelt, haben Raubtiere auf die Kolibris angesetzt … aber wirklich helfen tut nur Feuer." Er drehte sie Orchidee in seiner Hand um, griff zu einem Feuerzünder und ließ die Flamme an der Blüte lecken. "Müssen vorsichtig sein, verstehst du?"
  Tally sah zu, wie die übrigen Förster ihre Stiefel und Uniformen säuberten und zwischen Schaum und Lehm nach Spuren der Blumen suchten. Sie schaute auf das endlose Weiß hinunter. "Und das macht ihr seit..."
  "Seit fast dreihundert Jahren. Die Rusties haben damit angefangen, nachdem sie kapierten, was sie angerichtet hatten. Aber wir werden niemals gewinnen. Wir können nur hoffen, das Unkraut in Schach zu halten."
  Tally ließ sich zurücksinken, schüttelte den Kopf und hustete noch einmal. Die Blumen waren so schön, so zart und ungefährlich, aber sie erstickten alles, was ihnen in die Quere kam.
  Der Förster beugte sich vor und reichte ihr einen Behälter. Sie nahm ihn und trank dankbar.
  "Du willst nach Smoke, ja?"
  Tally verschluckte sich am Wasser und spuckte aus. "Ja. Woher weißt du das?"
  "Na, hör mal. Eine Ugly, die mit einem Hubbrett und einem Überlebensrucksack in den Blumen wartet?"
  "Ach, richtig." Jetzt fiel Tally die Anweisung wieder ein. >Pass bei  den Blumen auf Feuerkäferaugen auf." Natürlich hatten diese Leute schon mal Uglies gesehen.
  "Wir helfen den Smokies und sie helfen uns", erklärte Tonk. "Sie sind verrückt, wenn du mich fragst - leben unter freiem Himmel und bleiben hässlich. Aber sie wissen mehr über die Wildnis als die meisten Pretties aus den Städten. Sie sind wirklich irgendwie bewundernswert."
  "Ja", sagte Tally. "Das nehme ich an."
  Er runzelte die Stirn. "Das nimmst du an? Aber du willst doch zu ihnen. Bist du dir nicht sicher?"
  Tally erkannte, dass hier die Lügen begannen. Sie konnte den Förstern ja wohl kaum die Wahrheit sagen: dass sie eine Spionin war, eine Infiltratorin. "Natürlich bin ich mir sicher."
  "Na, wir werden dich bald absetzen."
  "In Smoke?"
  Wieder runzelte er die Stirn. "Weißt du das nicht? Wo Smoke liegt, ist ein großes Geheimnis. Die Smokies misstrauen den Pretties. Sogar uns Förstern. Wir bringen dich an die übliche Stelle, und von da an weißt du weiter, oder?"
  Sie nickte. "Sicher. Wollte euch nur testen."
        ***
  Der Helikopter setzte in einem Staubwirbel auf, die weißen Blumen legten sich im weiten Umkreis um die Landestelle flach. "Danke fürs Bringen", sagte Tally.
  "Viel Glück", sagte Tonk. "Hoffentlich gefällt es dir in Smoke."
  "Das hoffe ich auch."
  "Aber wenn du dir die Sache anders überlegst, Tally, wir halten bei den Förstern immer Ausschau nach Freiwilligen."
  Tally runzelte die Stirn. "Was sind denn Freiwillige?"
  Der Förster lächelte. "Die suchen sich ihren eigenen Job."
  "Ach so." Tally hatte gehört, dass das in manchen Städten möglich war. "Vielleicht. Und bis dahin, macht weiter gute Arbeit. Wobei mir einfällt, hier legt ihr aber kein Feuer, oder?"
  Die Förster lachten und Tonk sagte: "Wir arbeiten nur am Rand der Seuche, damit die Blumen sich nicht noch weiter ausbreiten. Diese Stelle hier aber liegt voll in der Mitte. Da gibt’s keine Hoffnung."
  Tally schaute sich um. So weit das Auge reichte, war keine andere Farbe als Weiß zu sehen. Die Sonne war vor einer Stunde untergegangen, aber die Orchideen leuchteten im Mondlicht wie Gespenster. Jetzt, wo sie wusste, was sie da vor sich hatte, machte dieser Anblick Tally eine Gänsehaut. Wie hatte Tonk das noch genannt? Biologischer Nullpunkt.
  "Klasse."
  Sie sprang aus dem Helikopter und zog ihr Hubbrett von dem magnetischen Gestell neben der Tür. Dann trat sie zurück und ging in die Hocke, wie die Förster es ihr geraten hatten.
  Die Maschine erwachte heulend wieder zum Leben und Tally lugte nach oben zu der funkelnden Scheibe. Tonk hatte ihr erklärt, dass die Maschine von dünnen Drehflügeln durch die Luft getragen wurde, die so rasch im Kreis jagten, dass man sie nicht sehen konnte. Tally fragte sich, ob er Witze gemacht hatte. Für sie sah das aus wie ein typisches Kraftfeld.
  Der Wind spielte wieder verrückt, als die Maschine dröhnend aufstieg, und Tally umklammerte ihr Brett und winkte, bis der Helikopter im dunklen Himmel verschwunden war. Sie seufzte.
  Wieder war sie allein.
  Sie schaute sich um und fragte sich, wie sie die Smokies in dieser endlosen Wüste aus Orchideen finden sollte.
  >Auf dem kahlen Kopf musst das Licht du erwarten", war die letzte Zeile auf Shays Zettel. Tally suchte den Horizont ab und dann öffnete ihr Gesicht sich zu einem erleichterten Lächeln.
  Ein hoher runder Hügel ragte nicht allzu weit entfernt auf. Sicher war das eine der Stellen, an denen die manipulierten Blumen zuerst Wurzeln geschlagen hatten. Die obere Hälfte des Hügels starb, dort gab es nur noch kahlen, von den Orchideen ruinierten Boden.
  Und diese Stelle sah genauso aus wie ein kahler Schädel.
        ***
  Sie hatte den kahlen Gipfel nach wenigen Stunden erreicht. Ihr Schwebebrett war hier nutzlos, aber das Klettern war leicht in den neuen Schuhen, die die Förster ihr gegeben hatten. Ihre eigenen hatten sich im Helikopter endgültig in ihre Bestandteile aufgelöst. Tonk hatte außerdem ihren Reiniger mit Wasser gefüllt.
  Während des Fluges waren Tallys Kleider schon ein Stück weit getrocknet und den Rest hatte dann die Wanderung erledigt. Ihr Rucksack hatte den Sturz ins Wasser überlebt, sogar die SpagBol waren in ihrer wasserdichten Verpackung trocken geblieben. Das Einzige, was Tally im Fluss verloren hatte, war Shays Zettel, der jetzt nur noch ein triefnasser Papierfetzen in ihrer Tasche war. Sie hatte es fast geschafft. Als sie sich oben auf dem Hügel umsah, ging Tally auf, dass sie, abgesehen von den Brandblasen auf ihren Händen und Füßen, den Schrammen an ihren Knien und einigen angesengten Haarsträhnen, im Großen und Ganzen überlebt hatte. Wenn die Smokies nun auch noch wussten, wo sie zu finden war, und wenn sie sie für eine Ugly hielten, die sich ihnen anschließen wollte, und wenn sie nicht herausfanden, dass sie als Spionin gekommen war, dann war doch alles perfekt. Sie wartete auf dem Hügel, erschöpft, aber ohne Schlaf zu finden, und fragte sich, ob sie wirklich tun konnte, was Dr. Cable von ihr verlangte. Der Anhänger um ihren Hals hatte ebenfalls alles überlebt. Tally glaubte nicht, dass ein wenig Wasser dem Sender schaden konnte, aber das würde sie erst erfahren, wenn sie Smoke erreicht und ihn aktiviert hatte.
  Sie hoffte einen Moment lang, der Sender werde nicht mehr funktionieren. Vielleicht hatte einer ihrer Abstürze den kleinen Augenleser zerbrochen, und dann würde der Sender niemals seine Botschaft an Dr. Cable schicken können. Aber das durfte sie ja wohl kaum hoffen. Ohne den Sender saß Tally in der Wildnis fest. Hässlich fürs ganze Leben.
  Ihre einzige Möglichkeit, nach Hause zu gelangen, war der Verrat an ihrer Freundin.