Hässlich fürs Leben

  

  
  Sie hatten die Hüter offenbar über ihre Rückkehr informiert. Alle anderen Uglies waren verschwunden, auf irgendeinen nicht angekündigten Schulausflug. Aber die Zeit hatte nicht gereicht, um Tallys Habseligkeiten zu retten. Als Tally ihr altes Zimmer betrat, sah sie, dass schon alles recycelt worden war. Kleider, Bettzeug, Möbel, die Bilder auf dem Wandschirm - alles war wieder zur Ugly-Grundform geworden. Es sah aus, als sei eine fremde Person vorübergehend ein- und dann wieder ausgezogen und habe nur einen seltsamen Getränkekarton im Kühlschrank hinterlassen.
  Tally setzte sich aufs Bett und war zu verwirrt, um zu weinen. Sie wusste, dass sie bald losheulen würde, vermutlich im blödesten Moment und am unpassendsten Ort. Jetzt, wo ihre Begegnung mit Dr. Cable hinter ihr lag, verflogen ihre Wut und ihr Trotz und sie hatte nichts mehr, was ihr noch Kraft gab. Ihre Sachen waren verschwunden, ihre Zukunft war verschwunden, nur der Blick aus dem Fenster blieb.
  Sie saß da und starrte und musste sich alle paar Minuten erneut klarmachen, dass es wirklich passiert war: die grausamen Pretties, die seltsamen Gebäude am Stadtrand, das entsetzliche Ultimatum, das Dr. Cable ihr gestellt hatte. Tally hatte das Gefühl, als sei ein wilder Streich auf entsetzliche Weise schiefgegangen. Eine bizarre und entsetzliche neue Wirklichkeit hatte sich ihr eröffnet und die Welt verschlungen, die sie gekannt und verstanden hatte.
  Sie besaß nur noch die kleine Reisetasche, die sie für das Krankenhaus gepackt hatte. Sie konnte sich nicht einmal daran erinnern, wie sie sie mit zurückgebracht hatte. Tally zog die wenigen Kleidungsstücke heraus, die sie wahllos hineingestopft hatte, und fand Shays Zettel.
  Sie las ihn und suchte nach Anhaltspunkten.
        ***
     Über die Lücke spring mit der Acht bis hin zu einer, die lang ist und flach.
     Kalt ist das Meer, achte auf Brecher.
     Bei der zweiten mache den schlimmsten Versprecher.
     Nimm die Seite, die du verachtest, vier Tage darauf und pass bei den Blumen auf Feuerkäferaugen auf.
     Sind die gefunden, genieß den Flug über den Garten.
     Auf dem kahlen Kopf musst das Licht du erwarten.
        ***
  Kaum etwas ergab für Tally einen Sinn, höchstens ein Bruchstück hier und dort. Shay hatte offenbar den Sinn ihrer Mitteilung vor allen anderen verbergen wollen und nutzte deshalb Anspielungen, die nur sie und Tally verstehen konnten. Ihr Verfolgungswahn war plötzlich sehr gut nachvollziehbar. Jetzt, wo sie Dr. Cable begegnet war, begriff Tally, warum David seine Stadt - oder sein Lager oder was immer das war - geheim halten wollte.
  Während Tally den Zettel noch in der Hand hielt, ging ihr auf, dass Dr. Cable genau das gewollt hatte. Die Frau hatte die ganze Zeit dicht vor dem Zettel gesessen, aber niemand hatte sich die Mühe gemacht, Tally zu durchsuchen. Das bedeutete, dass Tally Shays Geheimnis bewahrt hatte und dass sie noch eine Handelsware besaß.
  Es bedeutete außerdem, dass auch die Specials und ihre Abteilung für Besondere Umstände Fehler machen konnten.
       ***
 Kurz vor dem Mittagessen sah Tally die anderen Uglies zurückkommen. Als sie aus dem Schulbus kletterten, reckten alle die Hälse und schauten zu Tallys Fenster hoch. Einige zeigten auf sie, ehe sie sich in den Schatten zurückziehen konnte. Wenig später konnte Tally draußen im Treppenhaus Kinder hören, sie verstummten, als sie an ihrer Tür vorüberkamen. Einige kicherten, wie neue Uglies eben kichern, wenn sie den Mund halten sollen. Lachten sie etwa über Tally?
  Ihr Magenknurren erinnerte Tally daran, dass sie kein Frühstück und am Vortag kein Abendessen bekommen hatte. Sechzehn Stunden vor der Operation waren weder Essen noch Wasser erlaubt. Sie war kurz vor dem Verhungern.
  Aber sie blieb bis nach dem Mittagessen in ihrem Zimmer. Sie konnte sich jetzt nicht in einer Mensa voller Uglies zeigen, die jede ihrer Bewegungen beobachten und sich fragen würden, womit sie es verdient hatte, ihr hässliches Gesicht behalten zu müssen. Als sie den Hunger nicht mehr ertragen konnte, schlich Tally auf die Dachterrasse, wo das restliche Essen bereitgestellt wurde, falls noch jemand etwas wollte.
  Ein paar Uglies sahen sie im Treppenhaus. Sie drängten sich aneinander und wichen Tally aus, als ob sie eine ansteckende Krankheit hätte. Was mochten die Hüter ihnen erzählt haben? Dass sie einen Streich zu viel versucht hatte? Dass sie inoperabel war, eine Ugly-fürs-Leben? Oder dass es sich bei ihr um einen Besonderen Umstand handelte?
  Wo immer sie hinging, überall wandten die Blicke sich ab, aber nie hatte Tally sich so sichtbar gefühlt.
  Auf dem Dach war ein Teller für sie bereitgestellt, eingewickelt in Plastikfolie und mit ihrem Namen versehen. Irgendwer hatte bemerkt, dass sie nichts gegessen hatte. Und natürlich war allen klar, dass sie sich versteckte.
  Der Anblick des Essens, zerkocht und einsam, trieb ihr die bisher unterdrückten Tränen in die Augen. Tallys Kehle brannte, als ob sie etwas Scharfes verschluckt hätte, und sie konnte nur noch in ihr Zimmer zurückrennen, ehe sie in lautes, abgehacktes Schluchzen ausbrach.
  Wenigstens hatte sie den Teller nicht vergessen. Sie aß und weinte gleichzeitig und jeder Bissen schmeckte nach dem Salz ihrer Tränen.
        ***
  Ungefähr eine Stunde darauf kamen ihre Eltern.
  Ellie fegte zuerst ins Zimmer und riss Tally in eine Umarmung, die ihr die Luft aus der Lunge trieb und ihre Füße von Boden hob. "Tally, mein armes Herzchen!"
  "Nun zerdrück die Kleine nicht, Ellie. Sie hat einen harten Tag hinter sich."
  Auch ohne Sauerstoff fühlte Tally sich in der erdrückenden Umarmung wohl. Ellie roch einfach immer richtig, genau wie eine Mutter, und Tally kam sich in ihren Armen vor wie ein Winzling. So standen sie mindestens eine Minute, bevor Ellie sie losließ - immer noch viel zu früh. Tally trat zurück und hoffte, dass sie nicht wieder in Tränen ausbrechen würde. Sie schaute ihre Eltern unglücklich an und fragte sich, was die wohl dachten. Sie kam sich vor wie eine Versagerin. "Ich wusste nicht, dass ihr kommen wolltet."
  "Natürlich sind wir gekommen", sagte Ellie.
  Sol schüttelte den Kopf. "So was habe ich noch nie gehört. Das ist doch lächerlich. Und wir werden der Sache schon auf den Grund gehen, mach dir da keine Sorgen."
  Tally fühlte sich wie von einer Last befreit. Endlich war jemand auf ihrer Seite. Die Mittel-Pretty-Augen ihres Vaters leuchteten mit gelassener Sicherheit. Es stand außer Frage, dass er alles in Ordnung bringen würde.
  "Was haben sie euch gesagt?", fragte Tally.
  Sol zeigte aufs Bett und Tally setzte sich. Ellie ließ sich neben ihr nieder, Sol lief in dem kleinen Zimmer auf und ab.
  "Na, sie haben uns von dieser Shay erzählt. Die macht ja offenbar jede Menge Ärger."
  "Sol!", fiel Ellie ihm ins Wort. "Das arme Mädchen ist verschwunden."
  "Das hat sie ja wohl auch so gewollt."
  Tallys Mutter verzog schweigend den Mund.
  "Das war nicht ihre Schuld, Sol", sagte Tally. "Sie wollte einfach nicht hübsch werden."
  "So, Anarchistin ist sie also auch noch. Von mir aus. Aber sie sollte vernünftig genug sein, um nicht auch noch andere Leute da mit reinzuziehen."
  "Sie hat mich nirgendwo reingezogen. Ich bin doch hier." Tally schaute aus dem Fenster auf den vertrauten Anblick von New Pretty Town. "Wo ich offenbar für den Rest meines Lebens bleiben werde."
  "Aber, aber", sagte Ellie. "Sie haben gesagt, dass alles ganz normal weitergehen wird, sowie du ihnen geholfen hast, diese Shay zu finden."
  "Es spielt doch keine Rolle, ob diese Operation um ein paar Tage verschoben wird. Und wenn du alt bist, wirst du eine tolle Geschichte erzählen können." Sol schmunzelte.
  Tally biss sich auf die Lippe. "Ich glaube nicht, dass ich ihnen helfen kann."
  "Na, tu einfach dein Bestes", sagte Ellie.
  "Aber das kann ich nicht. Ich meine, ich habe Shay versprochen, niemandem von ihren Plänen zu erzählen."
  Sie schwiegen für einen Moment.
  Sol setzte sich und nahm eine ihrer Hände. Seine waren warm und stark und fast so faltig wie die von Runzlingen, weil er jeden Tag in der Holzwerkstatt stand. Tally ging auf, dass sie ihre Eltern seit der einen Woche Sommerferien nicht mehr besucht hatte, und da hatte sie unbedingt wieder weggewollt, um die Zeit mit Shay zu verbringen. Aber es tat jetzt gut, sie zu sehen.
  "Tally, als Kinder versprechen wir so vieles. Das gehört zum Ugly-Dasein - alles ist aufregend und mitreißend und wichtig, aber darüber musst du hinauswachsen. Du bist diesem Mädchen nichts schuldig. Sie hat dir nur Ärger gebracht."
  Ellie nahm ihre andere Hand. "Und du würdest ihr doch nur helfen, Tally. Wer kann denn wissen, wo sie jetzt ist und was ihr passiert? Es überrascht mich, dass du einfach zugesehen hast, wie sie weggelaufen ist. Weißt du nicht, wie gefährlich es dort draußen ist?"
  Tally ertappte sich bei einem Nicken. Wenn sie Ellie und Sol ins Gesicht sah, dann wirkte alles so klar. Vielleicht würde sie Shay wirklich helfen, wenn sie mit Dr. Cable zusammenarbeitete, und für sie selbst würde wieder alles in Ordnung kommen. Aber beim Gedanken an Dr. Cable zuckte sie zusammen. "Ihr hättet diese Leute sehen sollen. Die, die nach Shay suchen. Die sehen aus wie ..."
  Sol lachte. "Ja, in deinem Alter kann das sicher ein Schock sein. Aber wir Alten wissen natürlich alles über die Besonderen Umstände. Die Leute da wirken hart, aber sie machen nur ihre Arbeit, weißt du. Da draußen geht es eben hart her."
  Tally seufzte. Vielleicht widerstrebte ihr das alles so sehr, weil die grausamen Pretties ihr solche Angst gemacht hatten. "Habt ihr sie denn je gesehen? Ich konnte es nicht fassen, dass die so aussehen!"
  Ellie runzelte die Stirn. "Na ja, ich kann nicht behaupten, dass ich wirklich einen von denen gesehen hätte."
  Sol runzelte ebenfalls die Stirn, dann lachte er. "Na, das möchtest du doch auch gar nicht, Ellie. Und Tally, wenn du dich jetzt richtig verhältst, läuft dir vermutlich nie wieder so jemand über den Weg. Darauf können wir doch alle verzichten."
  Tally sah ihren Vater an und ahnte in seinem Gesicht für einen Moment etwas anderes als Weisheit und Vertrauen. Es war fast zu einfach, wie Sol über die Specials lachte und alles abtat, was sich außerhalb der Stadt abspielte. Zum ersten Mal in ihrem Leben hörte Tally einem Mittel-Pretty zu, ohne danach wirklich beruhigt zu sein, und bei dieser Erkenntnis wurde ihr schwindlig. Und sie konnte sich nicht von dem Gedanken befreien, dass Sol nichts über die Welt draußen wusste, in die Shay geflohen war. Vielleicht wollten die meisten Leute einfach nichts davon wissen. Tally hatte in der Schule alles über die Rusties und die alte Geschichte gelernt, aber nie war auch nur ein einziges Wort über Leute gesagt worden, die jetzt außerhalb der Städte lebten, über Leute wie David. Bis ihr Shay begegnet war, hatte Tally auch nie über solche Dinge nachgedacht.
  Aber sie konnte das alles nicht abtun, so wie ihr Vater.
  Und sie hatte es Shay doch feierlich versprochen. Auch wenn sie nur eine Ugly war, Versprechen musste man halten. "Ich muss mir das alles gut überlegen."
  Für einen Moment füllte eine unbehagliche Stille das Zimmer. Das hatten ihre Eltern nicht erwartet.
  Dann lachte Ellie und streichelte ihre Hand. "Natürlich musst du das, Tally."
  Sol nickte und war jetzt wieder Herr der Lage. "Wir wissen, dass du das Richtige tun wirst."
  "Sicher. Aber könnte ich bis dahin mit euch nach Hause kommen?"
  Ihre Eltern wechselten einen verblüfften Blick.
  "Ich meine, hier ist es jetzt richtig komisch. Alle wissen, dass ich ... ich habe keinen Unterricht mehr, und da wäre es doch so, als ob ich in den Herbstferien nach Hause käme, nur ein bisschen früher."
  Sol erholte sich als Erster von seiner Überraschung und streichelte ihre Schulter. "Also, Tally, meinst du nicht, in Crumblyville wäre es noch komischer für dich? Ich meine, um diese Jahreszeit sind da doch keine anderen Kinder."
  "Für dich ist es viel besser, hier mit allen anderen zusammen zu sein, Liebling", fügte Ellie hinzu. "Du bist nur ein paar Monate älter als viele von ihnen. Und außerdem ist dein Zimmer nicht fertig."
  "Das macht doch nichts. Nichts könnte schlimmer sein als das hier", sagte Tally.
  "Ach, bestell dir doch einfach neue Kleider und stell den Wandbildschirm wieder so ein, wie es dir gefällt", riet Sol.
  "Ich meine nicht das Zimmer ..."
  "Auf jeden Fall", fiel Ellie ihr ins Wort, "wozu die Aufregung? Das alles wird doch ganz bald vorbei sein. Rede einfach mit den Besonderen Umständen, erzähl ihnen alles, und dann kannst du dahin, wo du wirklich sein willst."
  Sie schauten alle aus dem Fenster auf die Türme von New Pretty Town.
  "Ja, wahrscheinlich."
  "Herzchen", sagte Ellie und streichelte Tallys Bein. "Was hast du denn für eine Wahl?"