Die Ölpest
Tally und David brachen bei Sonnenuntergang auf.
Sie lenkten jetzt jeweils zwei Hubbretter.
Zusammengepresst wie ein Butterbrot konnte so ein Paar doppelt so
viel Gewicht tragen, das meiste in Satteltaschen, die an der
Unterseite befestigt waren. Sie packten alles Brauchbare ein, das
sie finden konnten, dazu die vom Boss geretteten Zeitschriften. Was
immer auch passieren würde, es gab keinen Grund, nach Smoke
zurückzukehren.
Tally folgte dem Fluss vorsichtig den Berg hinunter,
das zusätzliche Gewicht schwang unter ihr hin und her wie eine
Kugel an einer Kette, die um ihre beiden Knöchel lag. Aber immerhin
trug sie jetzt wieder Auffangarmbänder, ihre Reise würde einem ganz
anderen Weg folgen als dem, auf dem Tally hergekommen war. Jene
Route hatte leicht sein sollen, und dazu hatte auch die
Helikopter-Tour mit den Förstern gehört. Diese hier würde nicht so
direkt verlaufen. So überladen, wie sie waren, konnten Tally und
David nicht einmal kurze Strecken zu Fuß bewältigen. Und nach der
Invasion würden sie um alle Städte einen großen Bogen machen
müssen.
Glücklicherweise hatte David den Weg zu Tallys Stadt
schon viele Male zurückgelegt, allein und in Begleitung von
unerfahrenen Uglies. Er kannte die Flüsse und die Schienenstränge,
die Ruinen und die natürlichen Erzadern, und er kannte Dutzende von
Fluchtwegen, die er ersonnen hatte, falls er jemals von den
Behörden verfolgt würde.
"Zehn Tage", sagte er, als sie aufbrachen. "Wenn wir
die ganze Nacht
unterwegs sind und uns tagsüber bedeckt halten."
"Klingt gut", sagte Tally, aber sie fragte sich, ob sie
früh genug eintreffen würden, um irgendwen vor der Operation zu
retten.
Gegen Mitternacht des ersten Reisetages verließen sie
den Bach, der zum kahlköpfigen Berg hinunterführte, und folgten
einem vertrockneten Bachlauf durch die weißen Blumen. Auf diese
Weise gelangten sie an den Rand einer riesigen Wüste.
"Wie kommen wir da durch?"
David zeigte auf scharfe Umrisse, die sich aus dem Sand
erhoben, eine Reihe von ihnen verlor sich in der Ferne. "Das waren
früher mal mit Stahlkabeln verbundene Türme."
"Wozu das denn?"
"Die Kabel haben Strom von einer Windkraftanlage in
eine der alten Städte gebracht."
Tally runzelte die Stirn. "Ich wusste gar nicht, dass
die Rusties Windkraft genutzt haben."
"Sie waren nicht alle verrückt. Nur die meisten eben."
Er zuckte mit den Schultern. "Du darfst nicht vergessen, wir
stammen doch so mehr oder weniger von den Rusties ab, und wir
benutzen immer noch ihre grundlegende Technologie. Einige von ihnen
müssen einfach auf die richtigen Ideen gekommen sein."
Die Kabel waren noch immer in der Wüste begraben,
geschützt von Wanderdünen und dem fast vollständigen Fehlen von
Regen. An manchen Stellen waren sie zerbrochen oder durchgerostet
und Tally und David mussten vorsichtig sein und die ganze Zeit die
Metalldetektoren ihrer Bretter im Auge behalten. Wenn sie eine
Lücke erreichten, über die sie nicht springen konnten, rollten sie
ein langes Kabel auseinander, das David bei sich hatte, und
gingen dann neben den Brettern her, führten sie wie störrische Esel
über eine schmale Brücke. Dann rollten sie das Kabel wieder
auf.
Tally hatte noch nie eine echte Wüste gesehen. Sie
hatte in der Schule gelernt, dass es in Wüsten jede Menge Leben
gab, aber diese hier war wie die Wüsten, die sie sich als Winzling
vorgestellt hatte – nichtssagende Sandhaufen, die sich unendlich
weit in die Ferne zogen. Nichts bewegte sich außer Sandschwaden,
die der Wind langsam vor sich hertrieb.
Sie kannte nur eine einzige große Wüste in diesem
Erdteil mit Samen. "Ist das die Mojave?"
David schüttelte den Kopf. "Die hier ist bei weitem
nicht so groß und auch nicht natürlich. Wir stehen hier an der
Stelle, wo das weiße Unkraut zuerst gewachsen ist."
Tally stieß einen Pfiff aus. Der Sand schien kein Ende
zu nehmen. "Was für eine Katastrophe!"
"Als erst einmal die anderen Pflanzen von den Orchideen
verdrängt worden waren, gab es nichts mehr, was den fruchtbaren
Erdboden festhalten konnte. Er wurde verweht und jetzt ist nur noch
Sand übrig."
"Wird das hier jemals etwas anderes sein als eine
Wüste?"
"Sicher, in tausend Jahren oder so. Vielleicht hat bis
dahin irgendwer
eine Methode gefunden, um das Unkraut an der Rückkehr
zu hindern.
Wenn nicht, dann wird alles wieder von vorne
losgehen."
***
Bei Tagesanbruch erreichten sie eine Rusty-Stadt. Es
war eine Ansammlung von nichtssagenden Gebäuden, gestrandet in
einem Meer aus Sand.
Im Laufe der Jahrhunderte hatte die Wüste dort Einzug
gehalten, Dünen strömten wie Wasser durch die Straßen, aber die
Häuser waren in besserem Zustand als andere Rusty-Gebäude, die
Tally gesehen hatte. Sand schliff die Kanten der Gegenstände ab,
zersetzte sie aber nicht so hungrig wie Regen und Vegetation.
Sie waren beide noch nicht müde, aber tagsüber konnten
sie nicht weiterreisen, da die Wüste keinen Schutz vor der Sonne
und keine Versteckmöglichkeiten bot. Sie ließen sich im zweiten
Stock eines niedrigen Fabrikgebäudes nieder, von dem noch fast das
ganze Dach erhalten war. Uralte Maschinen, so groß wie ein
Hubwagen, umstanden sie schweigend.
"Was war das hier?", fragte Tally.
"Ich glaube, hier wurden Zeitungen gemacht", sagte
David. "So was wie Bücher, nur warf man sie weg und bekam jeden Tag
eine neue."
"Du machst Witze!"
"Durchaus nicht. Und du hast gedacht, wir hätten in
Smoke Bäume vergeudet!"
Tally fand eine Stelle, wo die Sonne durch das
eingefallene Dach schien, und klappte die Hubbretter zum Aufladen
auseinander. David zog zwei Packungen RussEi hervor.
"Schaffen wir es heute Nacht, aus der Wüste
herauszukommen?", fragte sie und sah zu, wie David die letzten
Tropfen ihres Wasservorrats in die Reiniger lockte.
"Kein Problem. Den nächsten Fluss haben wir noch vor
Mitternacht erreicht."
Ihr fiel etwas ein, das Shay vor langer Zeit gesagt
hatte, als sie Tally ihre Überlebensausrüstung zeigen wollte. "Kann
man wirklich in einen Reiniger pissen? Und das dann trinken, meine
ich?"
"Ja. Ich hab das schon gemacht."
Tally schnitt eine Grimasse und schaute aus dem
Fenster. "Na gut, ich hätte nicht fragen dürfen."
Er trat hinter sie, lachte leise, legte ihr die Hände
auf die Schultern. "Es ist ganz erstaunlich, wozu man bereit ist,
um zu überleben", sagte er.
Sie seufzte. "Ich weiß."
Das Fenster blickte auf eine Seitenstraße, die
teilweise vor dem Anmarsch der Wüste geschützt war. Einige
ausgebrannte Bodenwagen waren halb im Sand begraben, ihre verrußten
Umrisse hoben sich scharf vom weißen Sand ab.
Sie rieb sich die Handschellen, die noch immer an ihren
Handgelenken saßen. "Die Rusties wollten ja offenbar unbedingt
überleben. Bei allen Ruinen, die ich gesehen habe, stehen diese
Wagen herum, bereit zur Flucht. Aber geschafft haben sie das
scheinbar nie."
"Einige schon. Aber nicht in Wagen."
Tally lehnte sich zurück in seine beruhigende Wärme.
Die Morgensonne war noch Stunden davon entfernt, die Kälte der
Wüste zu vertreiben.
"Das ist schon komisch. In der Schule wird nie viel
darüber gesagt, wie es passiert ist - diese letzte Panik, als die
Rusty-Welt zusammenbrach. Die Lehrer zucken mit den Schultern und
sagen, die hätten einfach so viele Fehler gemacht, bis das Ganze
wie ein Kartenhaus eingestürzt ist."
"Das ist nur ein Teil der Wahrheit. Der Boss hatte ein
paar alte Bücher darüber."
"Und was steht darin?"
"Na ja, die Rusties haben schon in einem Krankenhaus
gelebt, aber irgendwer hat diesem Haus einen gewaltigen Schubs
verpasst. Niemand hat jemals herausgefunden, wer oder was das war.
Vielleicht eine Rusty-Waffe, die sie nicht mehr unter Kontrolle
hatten. Vielleicht Leute aus einem armen Land, denen es nicht
gefiel, wie die Rusties alles eingerichtet hatten. Vielleicht war
es nur ein Unfall, wie die Blumen, oder irgendein einsamer
Wissenschaftler, der einfach Ärger machen wollte."
"Aber was ist passiert?"
"Ein Virus ist durchgeknallt, aber es hat keine
Menschen infiziert. Sondern Petroleum."
"Öl wurde infiziert?"
Er nickte. "Öl ist organisch, es besteht aus alten
Pflanzen und Dinosauriern und solchem Kram. Irgendwer hat eine
Bakterie hergestellt, die Öl verzehrt. Die Sporen wurden durch die
Luft verbreitet, und wenn sie auf Petroleum trafen, egal ob
raffiniert oder roh, dann keimten sie. Wie ein Schimmelpilz oder so
was. Und sie haben die chemische Zusammensetzung des Öls verändert.
Hast du schon mal Phosphor gesehen?"
"Das ist ein Element, ja?"
"Ja. Und bei der Berührung mit Luft entzündet es
sich."
Tally nickte. Sie konnte sich daran erinnern, wie sie
im Chemieunterricht damit herumexperimentiert hatten, sie hatten
Schutzbrillen getragen und über all die Streiche geredet, die sie
damit spielen könnten. Aber ihnen waren nur Streiche eingefallen,
bei denen jemand ums Leben gekommen wäre.
"Öl, das mit diesem Virus infiziert war, war ebenso
instabil wie Phosphor. Es explodierte bei der Berührung mit
Sauerstoff. Und wenn es verbrannte, wurden die Sporen in den Rauch
abgegeben und vom Wind verbreitet. Bis sie dann das nächste Auto
oder das nächste Flugzeug erwischten und sich vermehren
konnten."
"Himmel. Und sie haben doch alles mit Öl betrieben,
oder?"
David nickte. "Wie diese Wagen da unten. Sie waren
sicher schon infiziert, als die Leute versucht haben aus der Stadt
zu fliehen."
"Warum sind sie nicht einfach zu Fuß gegangen?"
"Zu blöd, nehme ich an."
Wieder zitterte Tally, aber nicht vor Kälte. Es fiel
ihr schwer, sich die Rusties als echte Menschen vorzustellen und
nicht als eine idiotische, gefährliche und manchmal komische Macht
der Geschichte. Aber da unten waren menschliche Wesen, oder was
nach einigen hundert Jahren von ihnen übrig sein mochte, und sie
saßen noch immer in ihren verrußten Autos, als ob sie noch immer
versuchten ihrem Schicksal zu entgehen.
"Ich wüsste gern, warum wir das im Geschichtsunterricht
nicht erfahren. Sie lieben doch sonst alles, was die Rusties wie
ein jämmerlicher Haufen wirken lässt."
David senkte seine Stimme. "Vielleicht sollt ihr nicht
begreifen, dass jede Zivilisation ihre Schwächen hat. Es gibt immer
etwas, wovon wir abhängig sind. Und wenn irgendwer das wegnimmt,
bleibt nichts übrig als eine Lektion für den
Geschichtsunterricht."
"Nicht bei uns", widersprach sie. "Erneuerbare Energie,
unerschöpfliche Rohstoffe, eine festgesetzte
Bevölkerungsmenge."
Die beiden Reiniger piepten und David ging sie holen.
"Es muss nicht mit dem Wirtschaftssystem zu tun haben" , sagte er,
als er mit dem Essen
zurückkam. "Auch eine Idee konnte diese Schwäche
sein."
Sie drehte sich zu ihm um und nahm ihre Portion, und
dabei sah sie sein ernstes Gesicht. "Also, David, gehört das zu den
Dingen, über die du in all den Jahren nachgedacht hast, wenn du dir
eine Invasion von Smoke vorgestellt hast? Hast du dich je gefragt,
was die Städte zur Geschichte machen würde?"
Er lächelte und biss in sein Ei. "Das wird mir jeden
Tag klarer."