Die Zukunft vor Augen

  

  
  "Hier ist die zweite Möglichkeit." Tally berührte ihren Interface-Ring und der Bildschirm, der die ganze Wand bedeckte, änderte sich.
  Diese Tally war schlank, sie hatte sehr hohe Wangenknochen, grüne Katzenaugen und einen breiten Mund, der sich zu einem wissenden Lächeln kräuselte.
  "Das ist, äh, ganz schön was anderes."
  "Ja. Ich glaub ja nicht mal, dass das erlaubt ist." Tally schob die Augenformparameter zusammen und zog den Bogen der Brauen auf fast normales Maß herunter. In einigen Städten waren exotische Operationen erlaubt - wenn auch nur für neue Pretties -, aber die Behörden hier waren für ihre konservative Haltung bekannt. Tally glaubte nicht, dass irgendein Arzt dieses Morpho auch nur ein zweites Mal ansehen würde, aber es machte Spaß, die Software bis an ihre Grenzen zu treiben. "Findest du, ich sehe unheimlich aus?"
  "Nein. Du siehst aus wie eine echte Miezekatze." Shay kicherte. "Leider meine ich das wortwörtlich, also im Mäuse fressenden Sinn."
  "Na gut, weiter geht’s."
  Die nächste Tally war viel eher das standardmorphologische Modell, mit braunen Mandelaugen, glatten schwarzen Haaren und langem Pony, ihre dunklen Lippen zur höchsten Fülle gebracht.
  "Ziemliche Dutzendware, Tally."
  "Ach, hör doch auf. An dem hier hab ich lange gearbeitet. Ich finde, ich würde so großartig aussehen. Da läuft doch eine richtige Kleopatranummer ab."
  "Weißt du was", sagte Shay, "ich hab gehört, dass die echte Kleopatra überhaupt nicht toll aussah. Sie hat alle Männer verführt, weil sie so clever war."
  "Ja, klar! Und hast du ein Bild von ihr gesehen?"
  "Damals gab’s noch keine Kameras, Scheelauge."
  "Eben. Und woher willst du dann wissen, dass sie hässlich war?"
  "Weil die Historiker damals das geschrieben haben."
  Tally zuckte mit den Schultern. "Sie war vermutlich eine klassische Pretty und die wussten das nicht einmal. Damals hatten sie doch komische Vorstellungen von Schönheit. Und sie hatten keine Ahnung von Biologie."
  "Die Glücklichen." Shay starrte aus dem Fenster.
  "Also, wenn du alle meine Gesichter Schrott findest, warum zeigst du mir nicht ein paar von deinen?" Tally leerte den Wandbildschirm und ließ sich auf dem Bett zurücksinken.
  "Das geht nicht."
  "Du kannst austeilen, aber du kannst nicht einstecken, ja?"
  "Nein, ich meine, ich kann einfach nicht. Ich hab nie eins gemacht."
  Tally klappte das Kinn herunter. Alle Welt machte Morphos, sogar Winzlinge, deren Gesichtsstrukturen sich noch gar nicht gefestigt hatten. Es gab kaum eine bessere Art, den Tag zu vertrödeln, als sich die vielen unterschiedlichen Möglichkeiten zu überlegen, wie man aussehen könnte, wenn man erst einmal hübsch wäre.
  "Kein einziges?"
  "Vielleicht als ich klein war. Aber meine Freunde und ich haben schon vor langer Zeit damit aufgehört."
  "Na." Tally setzte sich auf. "Dann sollten wir das jetzt aber nachholen."
  "Ich würde lieber eine Runde fliegen." Shay machte sich nervös unter ihrem Hemd zu schaffen. Tally stellte sich vor, dass Shay mit dem Bauchsensor schlief und im Traum mit dem Hubbrett durch die Gegend jagte.
  "Nachher, Shay. Ich kann einfach nicht glauben, dass du nicht ein einziges Morph hast. Bitte!"
  "Das ist doch blöd. Die Ärzte machen schließlich, was sie wollen, egal, was du ihnen erzählst."
  "Ich weiß, aber es macht Spaß."
  Shay verdrehte dramatisch ihre Augen, aber dann nickte sie. Sie glitt vom Bett, ließ sich vor dem Bildschirm nieder und strich sich die Haare aus dem Gesicht.
  Tally schnaubte. "Du machst es ja doch nicht zum ersten Mal."
  "Ich hab doch gesagt, ich hab’s gemacht, als ich ein Winzling war."
  "Ja, sicher." Tally drehte an ihrem Interface-Ring, um das Menü auf den Bildschirm zu holen, und zappte mit einem Blinzeln durch die Auswahlliste der visuellen Maus. Die Kamera des Bildschirms ließ das Laserlicht aufleuchten und ein grünes Gitter legte sich über Shays Gesicht, ein Feld aus winzigen Karos zog sich über ihre Wangenknochen, ihre Nase, ihre Lippen und ihre Stirn.
  Sekunden später erschienen zwei Gesichter auf dem Bildschirm. Beide waren Shay, aber es gab deutliche Unterschiede. Die eine Shay sah wild aus, ein wenig zornig, die andere hatte einen leicht weggetretenen Gesichtsausdruck, wie eine Tagträumerin.
  "Komisch, wie das läuft, nicht?", fragte Tally. "Wie zwei verschiedene Leute."
  Shay nickte. "Unheimlich."
  Hässliche Gesichter waren immer asymmetrisch, keine Hälfte sah genauso aus wie die andere. Deshalb nahm die Morpho-Software sich zuerst jede Gesichtshälfte vor und verdoppelte sie, so, als halte sie einen Spiegel genau in die Mitte, um zwei Beispiele von perfekter Symmetrie zu produzieren. Schon jetzt sah jede der symmetrischen Shays besser aus als das Original.
  "Also, Shay, welche hältst du für deine gute Seite?"
  "Warum muss ich symmetrisch sein? Ich hätte lieber ein Gesicht mit zwei unterschiedlichen Seiten."
  Tally stöhnte. "Das ist ein Zeichen für Kindheitsstress. Kein Mensch will so aussehen."
  "Himmel, gestresst will ich natürlich nicht aussehen", schnaubte Shay und zeigte auf das wilder wirkende Gesicht. "Na, was soll’s. Das rechte ist besser, findest du nicht?"
  "Ich hasse meine rechte Seite. Ich fange immer mit der linken an."
  "Na und? Zufällig gefällt mir meine rechte Seite. Sieht härter aus."
  "Na gut. Du bestimmst."
  Tally zwinkerte und die rechte Gesichtshälfte füllte den Bildschirm.
  "Zuerst die Grundlage." Jetzt ging die Software ans Werk. Langsam wuchsen die Augen, reduzierten dadurch die Größe der Nase, Shays Wangenknochen wanderten nach oben, ihre Lippen wurden ein wenig voller (sie hatten jetzt schon fast Pretty-Größe). Jeder Makel verschwand, ihre Haut wurde wunderbar glatt. Der Schädel bewegte sich ein wenig unter den Zügen, die Stirnkante wich zurück, ihr Kinn wurde energischer, ihre Wangenknochen stärker.
  Danach flüsterte Tally: "Wow, das ist schon ziemlich gut."
  "Klasse." Shay stöhnte. "Ich sehe aus wie jede andere neue Pretty auf der ganzen Welt."
  "Ja, sicher, aber wir haben ja auch gerade erst angefangen. Wie wäre es mit ein paar Haaren?" Tally ging rasch die Menüs durch und suchte wahllos eine Frisur heraus.
  Als der Bildschirm sich änderte, warf Shay sich kichernd auf den Boden. Die Hochfrisur ragte wie eine Narrenkappe über ihrem Gesicht auf, die weißblonden Haare passten kein bisschen zu Shays olivbrauner Haut.
  Tally konnte vor Lachen kaum etwas sagen. "Okay, vielleicht nicht die." Sie ließ weitere Frisuren zeigen und entschied sich für ein Basismodell, dunkel und kurz. "Lass uns erst das Gesicht richtig hinbekommen."
  Sie dünnte die Augenbrauen aus und ließ ihren Bogen auf diese Weise dramatischer wirken, sie fügte Rundungen zu den Wangen hinzu. Shay war noch immer zu dünn, auch nachdem die Morpho-Software sie in Richtung Durchschnitt verändert hatte.
  "Und vielleicht eine Spur heller?" Tally brachte den Teint ein wenig näher an die übliche Farbgrundlage heran.
  "He, Scheelauge", sagte Shay. "Wessen Gesicht ist das eigentlich?"
  "Ich spiel doch nur", sagte Tally. "Willst du’s mal versuchen?"
  "Nein, ich will fliegen gehen."
  "Ja, klasse. Aber lass uns das erst noch in Ordnung bringen."
  "Was meinst du mit >in Ordnung bringen<? Vielleicht finde ich mein Gesicht ja jetzt schon in Ordnung."
  "Klar, es ist toll." Tally verdrehte die Augen. "Für eine Ugly."
  Shay runzelte die Stirn. "Ach, kannst du mich nicht aushalten? Brauchst du irgendein Bild, das du dir vorstellen kannst, um mein Gesicht nicht sehen zu müssen?"
  "Shay! Hör doch auf. Das ist doch nur zum Spaß."
  "Dafür zu sorgen, dass wir uns hässlich fühlen, ist kein Spaß."
  "Wir sind aber hässlich."
  "Dieses ganze Spiel hat nur den Zweck, dass wir uns selbst hassen."
  Tally stöhnte und ließ sich wieder aufs Bett fallen, sie starrte die Decke an. Shay benahm sich manchmal wirklich komisch. Immer redete sie über die Operation, als ob sie dazu gezwungen würde, sechzehn zu werden. "Klar, und alles war toll, damals, als noch alle hässlich waren. Oder hast du da in der Schule gerade gefehlt?"
  "Ja, ja, ich weiß", deklamierte Shay. "Alle beurteilten alle anderen nach ihrem Aussehen. Menschen, die groß waren, bekamen die besseren Jobs, und manche Leute wählten sogar irgendwelche Politiker, weil die nicht ganz so hässlich waren wie andere. Bla, bla, bla."
  "Ja, und Menschen wurden umgebracht, nur weil sie eine andere Hautfarbe hatten." Tally schüttelte den Kopf. Egal, wie oft das in der Schule auch wiederholt worden war, sie hatte das einfach nicht so ganz glauben können. "Was ist also schlimm daran, wenn die Leute jetzt so ziemlich gleich aussehen? Das macht sie eben auch gleich."
  "Wie wäre es, sie klüger zu machen?"
  Tally lachte. "Als ob das möglich wäre. Egal, es geht doch nur darum zu wissen, wie du und ich aussehen werden, in nur ... zwei Monaten und fünfzehn Tagen."
  "Können wir nicht so lange warten?"
  Tally schloss die Augen und seufzte. "Manchmal glaube ich nicht, dass ich das schaffe."
  "Na, dein Pech." Sie spürte Shays Gewicht auf dem Bett und einen leichten Klaps auf ihrem Arm. "Hör mal, machen wir doch das Beste daraus. Können wir jetzt fliegen gehen? Bitte?"
  Tally öffnete die Augen und sah, dass ihre Freundin lächelte. "Okay, fliegen." Sie setzte sich auf und schaute den Bildschirm an. Auch ohne große Mühe wurde Shays Gesicht bereits attraktiv, verletzlich, gesund ... hübsch. "Findest du dich nicht schön?"
  Shay sah nicht hin, sie zuckte nur mit den Schultern. "Das bin ich nicht. Das ist eine Vorstellung, die irgendein Komitee von mir hat."
  Tally lächelte und umarmte sie.
  "Du wirst es aber trotzdem sein. Du ganz allein. Und schon sehr bald."