4

Als ich am nächsten Morgen voller Erwartung und Angst auf Station 6-Süd kam, bot sich mir ein seltsames Bild: Potts saß in der Stationszentrale und sah aus, als wäre er aus einer Kanone abgeschossen worden. Sein Kittel war schmutzig, sein glattes, blondes Haar zerzaust. Er hatte Blut unter den Fingernägeln und Erbrochenes auf den Schuhen. Seine Augen waren gerötet, wie die Augen eines kranken Kaninchens. Neben ihm saß Ina, auf einen Stuhl geschnallt, den Footballhelm der RAMS noch auf dem Kopf. Potts schrieb etwas in ihre Akte. Ina gelang es, sich zu befreien. Sie kreischte: »Geh weg geh weg geh weg …«, und versetzte Potts einen Schlag mit ihrer linken Faust. Wütend schrie Potts, der sanfte, Molière lesende Potts aus der Legare Street:

»Verdammt, Ina, halt’s Maul und benimm dich!« und schubste sie in den Stuhl zurück. Ich konnte es nicht glauben. In einer einzigen Nacht im Dienst war aus einem Südstaaten-Gentleman ein Sadist geworden.

»Hallo, Potts, wie war’s letzte Nacht?«

Er hob den Kopf und antwortete mit Tränen in den Augen:

»Wie es war? Entsetzlich. Der Dicke hat mir zwar gesagt: ›Mach dir keine Sorgen, die Privates wissen, daß die neuen Interns hier sind und nehmen nur Notfälle auf.‹ Aber was passiert? Ich kriege fünfeinhalb Notfälle.«

»Was ist ein halber?«

»Eine Überweisung von einer anderen Station. Ich habe den Dicken auch danach gefragt, und er antwortete: ›Solange Sie nur halb für die Aufnahme zuständig sind, machen Sie auch nur die halbe Untersuchung.‹«

»Welche Hälfte?«

»Welche du willst. Bei diesen Patienten bin ich für die obere, Roy.«

Ina versuchte wieder, aufzustehen, und gerade als Potts sie auf ihren Stuhl zurückstieß, kamen der Dicke und Chuck.

»Ich sehe, Sie haben meinen Rat nicht befolgt und Ina hydriert, stimmt’s?« fragte Dickie.

»Yes Sir,« sagte Potts verlegen. »Ich habe sie hydriert, und Sie hatten recht, sie wurde gewalttätig. Sie hat sich völlig psychotisch aufgeführt, deshalb habe ich ihr ein Antipsychotikum gegeben, Thorazin.«

»Sie haben ihr was gegeben?«

»Thorazin.«

Der Dicke lachte laut los. Große, dicke Tränen rollten ihm über die Wangen zum Kinn und tropften auf seinen Bauch, als er sagte:

»Thorazin! Darum benimmt sie sich wie ein Schimpanse. Ihr Blutdruck wird nicht höher als sechzig sein. Holt mal eine Manschette. Potts, Sie sind phantastisch. Ihr erster Tag Internship und Sie versuchen, einen Gomer mit Thorazin umzubringen. Ich habe ja schon viel von militanten Südstaatlern gehört, aber das ist einsame Spitze.«

»Ich habe nicht versucht, sie umzubringen …«

»Blutdruck fünfundfünfzig systolisch«, sagte Levy, der BMS.

»Legt sie flach auf ihr Bett«, sagte der Dicke. »Damit wieder Blut in ihren Kopf kommt.«

Während Levy und die Schwester Ina in ihr Zimmer brachten, erklärte uns der Dicke, daß Thorazin bei Gomers den Blutdruck senkt, so daß die höheren Regionen nicht mehr durchblutet werden.

»Ina hat versucht, aufzustehen, um sich hinlegen zu können. Sie hätten sie fast geschafft.«

»Aber letzte Nacht ist sie völlig durchgedreht.«

»Sonnenuntergang«, sagte Dickie. »Da passiert das immer mit den Gomers im House. Sie sind verwirrt. Wenn die Sonne untergeht und es dunkel wird, drehen sie durch. Kommt, gehen wir die Karten durch, ja? Thorazin? Entzückend.«

Der Dicke nahm sich die Akten vor, fing bei den fünfeinhalb Aufnahmen an, die Potts zum Sadisten gemacht hatten. Wie am Tag zuvor mußte ich feststellen, daß das meiste, was ich auf der BMS gelernt hatte, entweder unwichtig oder falsch war. Der dehydrierten Ina ging es nach der Hydrierung schlechter. Bei Depression war ein Bariumeinlauf angesagt, und die richtige Behandlung für Potts’ dritte Aufnahme – einem Mann mit Bauchschmerzen, der genau wußte, daß alle Ärzte Nazis sind, »ich bin nur nicht sicher, wer von Euch Himmler ist« – war weder ein Bariumeinlauf noch eine Kolonpassage, sondern etwas, was der Dicke eine »Abschiebung zur Psychiatrie« nannte.

»Abschiebung?« fragte Potts.

»Abschieben, loswerden, aus deiner Station in eine andere oder ganz aus dem House abschieben. Grundwissen. Die wichtigste Art der Behandlung in der Inneren. Ruf die Psychiatrie an, erzähl ihnen das mit den Nazis, sag aber nichts von den Bauchschmerzen und presto: Abschiebung in die Psychiatrie.« Er zerriß das Blatt des Nazijägers und warf die Schnipsel über die Schulter.

»Eine Abschiebung, entzückend. Weiter. Der Nächste.«

Potts präsentierte seine letzte Aufnahme, einen Mann unseren Alters, der mit seinem Sohn Baseball gespielt hatte und beim Versuch, einen knallharten, geraden Ball zu treffen, bewußtlos an der Grundlinie zusammengebrochen war.

»Was meinen Sie, ist das?« fragte Dickie.

»Intrakranielle Blutung«, sagte Potts. »Er sieht nicht gut aus.«

»Er wird sterben«, sagte Dickie. »Wollen Sie ihm vorher die Wohltat eines neurochirurgischen Eingriffs zukommen lassen?«

»Ich habe schon alles arrangiert.«

»Großartig«, sagte Dickie, zerriß den Mann unseren Alters und säte ihn auf den Boden. »Potts, Sie machen es richtig! Abschiebung zur Neurochirurgie. Drei Patienten, zwei Abschiebungen.«

Potts und ich sahen uns an. Wir waren betroffen, daß jemand in unserem Alter, der mit seinem sechsjährigen Sohn an einem dieser herrlichen Abende Ball gespielt hatte, jetzt nur noch dahinvegetierte, den Schädel mit Blut gefüllt, den ein Chirurg ihm jetzt knacken sollte.

»Sicher, es ist traurig«, sagte Dickie, »aber wir können nichts machen. Leute in unserem Alter sterben. Punkt. Die Krankheiten, die wir kriegen, kann keine internistisch-chirurgische Quatschologie heilen. Der Nächste?«

»Also, der Nächste ist der Schlimmste«, sagte Potts mit rauher Stimme.

»Und wer ist das?«

»Der Tscheche, der Gelbe, Lazlow. Gestern gegen 10 Uhr hatte er einen Krampfanfall, und was ich auch machte, er hörte nicht auf. Ich habe alles versucht. Seine Leberwerte lagen außerhalb des Meßbereichs. Er …« Potts sah Chuck und mich an, blickte dann verlegen zu Boden und fuhr fort: »Er hat eine fulminante Hepatitis. Ich habe ihn auf die Isolierstation gebracht. Er ist nicht mehr mein, äh, unser Patient.«

Dickie fragte Potts freundlich, ob er dem Gelben Steroide gegeben habe. Potts antwortete, er habe daran gedacht, es aber nicht getan.

»Warum haben Sie mir nichts von den Laborergebnissen gesagt? Warum haben Sie mich nicht um Hilfe gebeten?« fragte Dickie.

»Also, ich … ich dachte, ich müßte die Entscheidung allein treffen können.«

Ein düsteres Schweigen breitete sich über uns aus, die Stille von Traurigkeit und Kummer. Dickie legte Potts seinen breiten Arm um die Schulter und sagte:

»Ich weiß, wie beschissen Sie sich fühlen. So ein Gefühl gibt es nicht noch einmal. Aber wenn Sie es nicht mindestens einmal gehabt haben, Potts, werden Sie nie ein richtiger Arzt. Es ist alles in Ordnung. Steroide helfen sowieso nicht. Er ist also nach 6-Nord abgeschoben worden, ja? Ich sage euch was, da wir so viele Abschiebungen hatten, werde ich euch nach dem Frühstück das elektrische Gomerbett vorführen.«

Auf dem Weg zum elektrischen Gomerbett, was auch immer das sein mochte, wandte sich Potts verzagt an Chuck und sagte:

»Du hattest recht, ich hätte ihn mit Roiden vollpumpen sollen. Er wird bestimmt sterben.«

»Hätte ihm auch nich geholfen«, sagte Chuck, »war schon zu weit fortgeschritten.«

»Ich fühle mich so elend«, sagte Potts, »ich will zu Otis.«

»Wer ist Otis?« fragte ich.

»Mein Hund, ich will zu meinem Hund.«

Der Dicke versammelte uns um das elektrische Gomerbett, in dem mein Patient, Mr. Rokitansky, lag. Er erklärte, das Ziel jedes Interns sei es, so wenige Patienten wie möglich zu haben. Das war genau das Gegenteil dessen, was die Privates, die Schlecker und die Hausverwaltung wünschten. Nach Regel Nr. 1 – Gomers sterben nicht – würden die Gomers aber nicht auf diesem natürlichen Weg von der Station verschwinden. Also mußte ein Intern andere Wege finden, um sie loszuwerden. Ärztliche Versorgung bestünde darin, den Patienten aufzunehmen und abzuschieben. Das Drehtürprinzip. Das Problem beim Abschieben war, daß der Patient zurückprallen konnte. Ein Gomer, der zum Beispiel in die Urologie abgeschoben worden war, weil er wegen seiner geschwollenen Prostata kein Wasser lassen konnte, würde in die Innere zurückprallen, wenn der Urologie-Intern mit seinen fadenförmigen und flexiblen Sonden und Kathetern eine totale Septikämie erreicht hatte, die eine Versorgung in der Inneren erfordert. Das Geheimnis des professionellen Abschiebens, ohne daß der Patient zurückprallt, sei das »Frisieren«, sagte der Dicke. Wir fragten, was das sei.

»Genau wie man einen Wagen frisiert«, sagte Dickie. »Ihr müßt die Gomers frisieren, so daß sie nicht zurückprallen können, wenn ihr sie abschiebt. Denkt immer daran, daß ihr nicht die einzigen seid, die abzuschieben versuchen. Jeder Intern und Resident im House of God liegt nachts wach und denkt darüber nach, wie er seine Gomers frisieren und sonstwohin abschieben kann. Gath, der Resident unten in der Chirurgie, gibt in diesem Augenblick seinen Interns wahrscheinlich die gleiche Lektion: ›Wie provoziert man bei Gomers einen Herzanfall, um sie dann in die Innere abzuschieben?‹ Nun, eins der wichtigsten Instrumente, um Gomers irgendwohin abzuschieben, ist das elektrische Gomerbett. Ich werde es an Mr. Rokitansky demonstrieren. Mr. R., wie geht es Ihnen heute?«

»Prrachvell.«

»Gut. Wir machen einen kleinen Ausflug, OK

»Prrachvell.«

»Gut. Als erstes werdet ihr bemerken, daß das elektrische Gomerbett Seitengitter hat. Sie sind ohne jede Bedeutung. Denn Regel Nr. 2 lautet, bitte wiederholen: Gomers gehen zu Boden.«

Bereitwillig wiederholten wir: »Gomers gehen zu Boden.«

»Seitengitter hoch, Seitengitter runter«, sagte Dickie, »egal wie sicher angeschnallt, egal wie verrückt, egal wie hilflos sie zu sein scheinen, Gomers gehen zu Boden. Als nächstes seht ihr am Gomerbett ein Fußpedal. Gomers haben meist einen niedrigen Blutdruck, und wenn, wie bei Ina, die neueren Teile ihres Gehirns nicht mehr durchblutet werden, drehen sie durch, fangen an zu schreien und versuchen, zu Boden zu gehen. Wenn ihr mitten in der Nacht gerufen werdet, weil euer Gomer den Blutdruck einer Amöbe hat, tretet ihr auf das Pedal. Das ist Grundwissen, wie die C-Dur-Tonleiter. OK, Maxine, messen Sie den Blutdruck, damit wir einen Ausgangspunkt haben.«

»Siebzig zu fünfzig«, sagte Maxine.

»Gut«, sagte Dickie und trat auf das Pedal. Das elektrische Gomerbett setzte sich dröhnend in Bewegung. In weniger als dreißig Sekunden stand Mr. Rokitansky praktisch auf dem Kopf. Seine Füße zeigten in einem Winkel von fünfundvierzig Grad nach oben und sein Kopf stieß unten gegen das Kopfende.

»Blutdruck, Max? Mr. Rokitansky, wie geht’s?«

Obwohl Mr. Rokitansky nicht aussah, als ginge es ihm besonders gut, während Maxine versuchte, den Blutdruck von seinem nahezu vertikal stehenden Arm abzulesen, sagte er:

»Prrachvell.«

Ein ganzer Kerl.

»Hundertneunzig zu hundert,« sagte Maxine.

»Diese Position heißt Trendelenburg«, sagte Dickie. »ihr könnt von einem Gomer jeden Blutdruck, den ihr wollt, bekommen. Es ist nur davon abhängig, wieviel Trendelenburg ihr einstellt. Die Umkehrung von Trendelenburg ist was?«

Wir wußten es nicht.

»Ein umgekehrter Trendelenburg«, sagte Dickie. »Da die meisten Gomers Schwierigkeiten mit dem Blutdruck haben, wird ein Gomer nicht allzu oft in einen umgekehrten Trendelenburg gebracht.«

Dann zeigte der Dicke, wie man bei Lungenödem nur das Kopfteil hochstellte, das Fußteil bei Stauungsulcera am Fuß, das Mittelstück bei Unregelmäßigkeiten in der Mitte. Schließlich, nachdem er alles mit dem Gomerbett angestellt hatte, außer es zu einer Bretzel zu krümmen – mit Mr. Rokitansky in den Zwischenräumen – wurde er feierlich und sagte mit bebender Stimme:

»Das Wichtigste habe ich für den Schluß aufgehoben. Dieser Knopf kontrolliert die Höhe. Mr. Rokitansky, sind Sie bereit?«

»Prrachvell.«

»Gut, los geht’s«, und er drückte auf den Knopf. Das Bett sackte nach unten. »Das ist der Rauf-Runter-Knopf, und jetzt geht’s abwärts. Nach Regel Nr. 2, die da lautet …«

»Gomers gehen zu Boden«, sagten wir automatisch.

»… ist die einzige Möglichkeit, sie an der Selbstverletzung zu hindern, daß man die Matratze praktisch auf den Boden legt. Die Schwestern hassen diese Position, weil sie auf den Knien nach den Bettpfannen suchen müssen. Wir haben es letztes Jahr ausprobiert, und es hat nicht funktioniert. Der Bettpfannenaustausch ging zurück, und die Station fing an zu stinken wie eine Rinderfarm in Topeka. So, es geht wieder nach oben.« Er rief:

»Aufwärts!«, drückte den Knopf, und Mr. Rokitansky fuhr nach oben. Während der sanften Fahrt rief Dickie: »Staubsauger, Damenunterwäsche, Haushaltswaren, Spielzeug«, und schließlich, als Mr. Rokitansky sich in Brusthöhe, fünf Fuß über dem Boden befand, sagte er: »Dies ist eine der wichtigsten Positionen. Wenn ein Gomer aus dieser Höhe fällt, ist das automatisch eine intertrochantäre Fraktur der Hüfte und eine Abschiebung in die Orthopädie. Diese Höhe«, sagte Dickie strahlend, »heißt die Orthopädische. Die vorletzte. Und jetzt die letzte.«

Wieder drückte Dickie auf den Knopf, und Mr. Rokitansky schwebte noch höher hinauf, um schließlich in unserer Kopfhöhe anzuhalten. »Diese Höhe heißt die Neurochirurgische. Ein Fall aus dieser Höhe ist eine Abschiebung in die Neurochirurgie. Und von dort prallen sie selten zurück. Ich danke Ihnen, meine Herren, wir sehen uns beim Essen.«

»Warten Sie«, sagte Levy, der BMS. »Sie waren grausam zu Mr. Rokitansky.«

»Wie meinen Sie das? Mr. Rokitansky, wie geht es Ihnen?«

»Prrachvell.«

»Aber das sagt er doch immer.«

»Ach, ja? Hallo, Mr. Rokitansky, he, Sie da oben, wollen Sie uns noch etwas sagen?«

Wir warteten mit angehaltenem Atem.

»Ja«, erklang es von der Neurochirurgischen Höhe zu uns herab.

»Was?«

»Langsam runterlassen.«

»Meine Herren, nochmals danke. Sie werden sehen, wenn Sie auf den Knopf nach unten drücken, wird Mr. Rokitansky zu Ihnen herabschweben. Essenszeit.«

»Das war doch nicht sein Ernst«, sagte Potts. »So sadistisch kann keiner sein. Das war ein abartiger Versuch, mich aufzuheitern.«

»Glaub’ ich nicht«, sagte ich. »Ich glaube, er meinte es ernst.«

»Das ist doch verrückt«, sagte Potts. »Du meinst, er will, daß wir das Bett benutzen, um alten Leuten die Hüften zu brechen? Das ist krank.«

»Was meinst du, Chuck?«

»Wer weiß, Mann, wer weiß?«

Potts und ich sahen beim Essen zu, wie der Dicke Nahrung in sich hineinschaufelte. Chuck, der diese Nacht Dienst hatte, war abgerufen worden, um seinen ersten Patienten aufzunehmen. Potts konnte über nichts anderes reden als darüber, daß er dem Gelben Steroide hätte geben sollen und wie sehr er sich nach Otis, seinem Hund, sehnte. Ich war mehr verwirrt als erschrocken, befremdet von der Auffassung von ärztlicher Versorgung, die der Dicke an den Tag legte.

Die drei Interns von 6-Nord kamen zu uns herüber. Runt, der Kleine, wurde von Motorrad-Eddie und Hyper Hooper gestützt. Er machte den gleichen aus-einer-Kanone-geschossenen Eindruck wie Potts. Chuck war dem Kleinen schon vorher begegnet und hatte berichtet, wie nervös er war.

»Mann, der rennt mit ’ner Riesenpackung Valium rum und knallt sich alle fünf Minuten eine rein.«

Harold »Runt« Runtsky, genannt »der Kleine«, und ich waren während der ganzen vier Jahre auf der BMS befreundet gewesen. Er war ein kleiner, untersetzter Abkömmling zweier Top-Psychoanalytiker und wirkte, als sei ihm irgend etwas weganalysiert worden. Und obwohl er mindestens so gescheit war wie jeder andere in der Klasse, blieb er scheu und still, ein schlaffer Junge, der eher reagierte als agierte. Sein rauhes Lachen galt gewöhnlich den Scherzen der anderen. Der Kleine hatte Schwierigkeiten mit Frauen. Während der BMS-Zeit wohnte er mit dem geilsten Typen der ganzen Klasse zusammen, der ihm manchmal erlaubte, durchs Schlüsselloch zuzusehen, was bei ihm lief. So war der Kleine auf den zweidimensionalen Sex gekommen, auf Magazine und Filme. Nach vielen Sticheleien hatte er kurz vor Beginn unseres Internships eine Beziehung mit einer intellektuellen Dichterin namens June angefangen. Ihre Gedichte waren ohne jeden Sex, ohne Erotik, einfach knochentrocken.

Der Kleine sah völlig geschafft aus. Sein Schnurrbart hing herunter. Kaum hatte er sich gesetzt, holte er eine Pillenschachtel hervor, legte eine Pille in seinen Hamburger und mampfte ihn runter. Als ich fragte, was das sei, sagte er:

»Valium, Vitamin V. Ich war noch nie im Leben so nervös.«

»Hattest du letzte Nacht Dienst?«

»Nein. Heute. Hooper hatte letzte Nacht Dienst.«

Als ich Hooper fragte, wie es gewesen sei, bekam er den gleichen Glanz in die Augen wie beim BM-Empfang, als Pearl die Geschichte von der heimlichen Autopsie erzählte. Er kicherte und sagte:

»Super, einfach super. Zwei Tote. Eine Obduktionserlaubnis. Ich habe heute morgen zugesehen. Phantastisch.«

»Hilft das Valium?« fragte Potts den Kleinen.

»Es macht mich ein bißchen schläfrig, aber ich fühle mich wie die Ruhe selbst. Ich verordne es allen meinen Patienten.«

»Was?« fragte ich. »Du setzt sie alle auch auf Valium?«

»Warum nicht? Sie sind nervös, weil sie mich als Arzt haben. Ach ja, Potts, vielen Dank für den Gelben, die Überweisung letzte Nacht«, sagte der Kleine sarkastisch. »Echt klasse.«

»Tut mir leid«, sagte Potts, »ich hätte ihm Steroide verpassen sollen. Haben die Krampfanfälle aufgehört?«

»Nein. Noch nicht.«

Ich wurde auf die Station gepiepst, doch bevor ich die anderen verließ, fragte ich Motorrad-Eddie, wie es ihm ergangen sei.

»Wie’s mir ergangen ist? Verglichen mit Kalifornien, große Scheiße.«

 

Als die Rokitansky-Schwestern wieder mit mir sprechen wollten, fühlte ich mich phantastisch. Ihre Hörgeräte waren auf volle Lautstärke gedreht. Sie fragten nach dem letzten Krankenbericht vom »Arzt ihres Bruders«. Ich kam mir vor, als hätte ich alles im Griff, als hätte ich etwas zu geben. Sie hingen förmlich an meinen Lippen. Als mein Piepser mich wegrief, sagten sie, es täte ihnen leid, daß sie mich gestört hätten, sicher hätte ich Wichtigeres zu tun. So war ich, als ich zu meiner ersten Sprechstunde in die Ambulanz hinunterging, wie elektrisiert. Im Fahrstuhl sahen die Leute mich an, versuchten, mein Namensschild zu lesen. Sie wußten, daß ich Arzt war. Ich war stolz auf mein Stethoskop, auf das Blut an meinem Ärmel. Der Dicke war ein ausgebrannter Fall. Arzt zu sein war spannend. Man konnte etwas für die Menschen tun. Sie glaubten an dich. Man durfte sie nicht fallen lassen. Rokitansky würde gesund werden.

Ganz von der Illusion erfüllt, jemand würde Rokitanskys Gehirn wiederherstellen können, betrat ich forsch die Ambulanz. Chuck und ich hatten am selben Tag Sprechstunde, und Seite an Seite vernahmen wir die Anweisungen. Wir würden genau wie Praktische Ärzte arbeiten, nur daß wir nicht bezahlt wurden. Man wies jedem von uns ein Dienstzimmer zu, das wir alle vierzehn Tage benutzen konnten. Die Krönung war, als jeder von uns sein Schild gezeigt bekam:

Roy G. Basch, M. D. Ambulanz, House of God.

Aufgebläht vor Stolz, so als wüßte ich genau, was ich tat, watete ich durch meine erste Sprechstunde. In die Ambulanz kamen Patienten, die zu arm waren, um einen Private Doctor bezahlen zu können. Es handelte sich überwiegend um zweiundfünfzig Jahre alte, unverheiratete Mütter mit Bluthochdruck und zweiundsiebzig Jahre alte, unverheiratete jüdische LAD in GAZ mit Bluthochdruck. Selten sah man einen Mann. Und jemanden unter zweiundfünfzig, der nicht unter »geistigen Störungen« oder Geschlechtskrankheiten litt, hätte man der Sensationspresse melden müssen. Meine erste eigene Patientin war eine LAD in GAZ, die eine allgemeine Untersuchung brauchte und ein Rezept für einen künstlichen Busen und einen BH mit auswechselbarer Füllung. Wer wußte, wie man ein Rezept schreibt? Ich nicht. Sie schrieb das Rezept, ich unterschrieb und sie ging dankbar. Die Nächste war eine Portugiesin, die etwas gegen ihre Hühneraugen brauchte. Wer wußte etwas über Hühneraugen? Ich spielte mit dem Gedanken, ihr ein Rezept für einen künstlichen Fuß und einen gepolsterten Schuh mit auswechselbarer Sockenfüllung zu schreiben. Aber dann dachte ich an den Dicken und schob sie zum Fußspezialisten ab. Die nächste LAD in GAZ war fünfundsiebzig, jüdisch, und hatte ihre Augenlider mit Pflasterstreifen an die Stirn geklebt. In ihrer Akte las ich, daß es sich hier um »herunterhängende Augenlider, Ursache unbekannt« handelte und daß mein Vorgänger sie in die Ophthalmologie abgeschoben hatte, wo der Resident ihr riet, »die Lider mit Pflaster an die Stirn zu kleben oder sich operieren zu lassen«. Sie hatte es vorgezogen, sie anzukleben und war in die Innere zurückgeprallt.

»Oh, ich freue mich, alle die jungen Ärzte kennenzulernen,« sagte sie.

»Wie lange haben Sie schon Pflaster an den Lidern?«

»Acht Jahre. Wie lange muß ich sie noch tragen?«

»Was passiert, wenn Sie es abmachen?«

»Die Lider fallen mir zu.«

Ich schrieb ihr ein Rezept für neues Pflaster aus. Sie ergriff meine Hand und plapperte los, wie froh sie sei, mich als Arzt zu haben. Es fiel mir schwer zuzuhören, denn durch die hochgeklebten Lider traten ihre Augen hervor wie bei einem Seeungeheuer, und nur die Schwester, die meinen nächsten Patienten hereinbrachte, verhinderte, daß ihre ganze Lebensgeschichte aus ihr herausschwappte. Die letzte Patientin an diesem Nachmittag war eine vierundfünfzigjährige Schwarze namens Mae mit Bluthochdruck, sonst keinen besonderen Beschwerden, außer: »Mir tun die Gelenke weh, wenn ich mit den Kindern Baseball spiele.« Zudem bat sie um eine gynäkologische Untersuchung. Während sie auf dem Stuhl lag, deklamierte sie Gospels der Zeugen Jehowas, und nachdem sie beim Anziehen die ganze Zeit über Religion, ihre Familie und über die ehemaligen Interns in der Ambulanz geschwatzt hatte, legte sie noch einige Traktate der Zeugen Jehovas aus und ging. Diese Frauen genossen es, zum Arzt zu gehen. Ich ging rüber in Chucks Arbeitszimmer und traf ihn ebenfalls mit einer LAD in GAZ an. Er tat etwas, was ich noch nie einen Arzt hatte tun sehen, etwas mit einem Maßband und einer Brust.

»He, Mann, die Dame sagt, ihre Brust wird größer.«

»Nur eine?«

»Genau. Also denk ich, miß sie aus und sieh zu, ob sie in zwei Wochen größer is.«

Zurück auf Station fühlte ich mich gut. Ich war erregt, begeistert, Arzt zu sein. Da ich ein guter Student gewesen war, gab es keinen Grund, warum ich im House of God nicht auch gut sein sollte. Hatte Pearl mich nicht vormittags dafür gelobt, wie ich seinen Patienten für die Kolonpassage darmgereinigt hatte? Ich fühlte mich wie Dr. Kildarish und setzte mich in der Stationszentrale in die warme Sonne. Im Zimmer gegenüber sah ich Molly, die fesche, transparente Molly, die sich über ein Bett beugte und mit dem Laken kämpfte. Ihre Beine waren gestreckt, so daß ihr Minirock die Hüften hinaufrutschte. Mit einem letzten Griff zur anderen Bettseite zog sich der Saum hoch über ihren Po und beglückte mich mit dem Regenbogen- und Blumenmuster eines Kleinmädchenschlüpfers, der eng an den festen, vollen Pobacken saß und ein Dach über dem saftigen weiblichen Ding bildete, das dort verborgen lag. Ich spürte ein halbherziges Zucken und Grummeln in meinen weißen Hosen.

»Das ist die Gestreckte Beuge«, sagte der Dicke. Er setzte sich neben mich und rollte seine Zeitung auseinander.

»Bitte?«

»Dieses Schwesternmanöver, wenn sie in der Taille nach vorn abknicken und den Hintern zeigen. Das heißt Gestreckte Beuge. Man lernt es in der Schwesternschule. Was wollen Sie unternehmen, um Sophie abzuschieben? Sie zieht hier sonst ein, und ich sage Ihnen, dieses Mal wird sie wirklich geputzelt. Sie könnte monatelang hier bleiben.«

»Geputzelt?«

»Bob Putzel, ihr Private, erinnern Sie sich? Er arbeitet mit der Standardmethode: Nimm eine LAD in GAZ auf, mach eine Untersuchung, ruf Komplikationen hervor, mach eine neue Untersuchung, um die Komplikation zu diagnostizieren, ruf eine neue Komplikation hervor und so weiter, bis sie gomerös und unabschiebbar ist. Wollen Sie, daß diese liebe, alte Dame eine Ina Goober wird? Wehret den Anfängen! Tun Sie sofort etwas. Sie müssen sie entlassen.«

»Aber wie?«

»Machen Sie etwas Schmerzhaftes mit ihr. Sie kann schmerzhafte Untersuchungen nicht ausstehen.«

»Mir fällt nichts Passendes ein.«

»Oh. Also, sie hat Kopfschmerzen, und ihre Morgentemperatur ist um ein Grad erhöht. Es sind fast 38 ° C hier oben, und alle haben erhöhte Temperatur. Egal, ihre Akte ist nun einmal mit erhöhter Morgentemperatur frisiert worden. Ja, und sie hat einen steifen Nacken. Also: Kopfschmerzen, Fieber, steifer Nacken. Diagnose?«

»Meningitis.«

»Behandlung?«

»Lumbalpunktion, LP. Aber sie hat keine Meningitis.«

»Sie könnte aber eine haben. Wenn Sie sie nicht punktieren, versäumen Sie womöglich etwas, wie Potts bei dem Gelben. Und haben Sie keine Angst, Sophie zu verletzen, sie ist stark. Ein Grauer Panther. Molly soll Ihnen helfen.« Und in die Zeitung sehend murmelte er: »Der Dow Jones ist gestiegen, Baby, gestiegen. Gut. Gutes Klima jetzt für die Erfindung, bestimmt.«

»Für was?«

»Die Erfindung, die Erfindung! Die Große Erfindung der Amerikanischen Medizin!«

Wie hätte ich es nicht genießen können, Sophies Rückenmarkskanal zu punktieren, während der Dow Jones über Amerikas farbenfrohem Hintern aufstieg? Molly hatte nie zuvor bei einer LP assistiert und freute sich, mir helfen zu können. Zusammen betraten wir Sophies Zimmer. Levy, der Verlorene, mein BMS, saß an Sophies Bett und putzelte ihre Hand, »nahm ihre Anamnese auf«. Er hatte ihr gerade die Frage gestellt:

»Was hat Sie ins Krankenhaus gebracht?«

»Was mich hergebracht hat? Dr. Putzel in seinem weißen Continental.«

Ich unterbrach Levy und zeigte Molly, wie sie Sophie halten sollte, auf der Seite liegend, zusammengerollt wie ein Fötus, den Rücken zu mir. Als Molly sich über Sophie beugte, um ihren Hals und ihre Knie zu umfassen, die Arme ausgebreitet wie Christus am Kreuz, sah ich, daß die beiden oberen Knöpfe ihrer Rüschenbluse offen waren, und starrte in die verlockende Spalte zwischen Mollys Brüsten, die aus den Spitzenkörbchen ihres BH hervorquollen. Sie bemerkte meinen Blick und sagte grinsend:

»Es kann losgehen.«

Wie seltsam war der Kontrast zwischen diesen beiden Frauen. Ich hatte Lust, meinen Penis zwischen Mollys Brüste zu schieben. Potts steckte seinen Kopf herein und fragte, ob wir wüßten, wo er eine Bibel finden könnte.

»Eine Bibel? Wofür, um alles in der Welt?«

»Um einen Patienten für tot zu erklären«, sagte Potts und verschwand wieder.

Ich versuchte, mich daran zu erinnern, wie eine LP gemacht wurde. In der BMS war ich darin besonders schlecht gewesen, und bei einem alten Menschen war eine LP schwieriger, weil die Bänder zwischen den Wirbelkörpern verkalkt sind wie Guano auf einem alten Stein. Und dann das Fett. Fett ist tödlich für einen Intern, denn alle anatomischen Orientierungspunkte werden von Fett unkenntlich gemacht. Es war mir unmöglich, mit den schlecht sitzenden Gummihandschuhen in dem wabernden Speck Sophies Mittellinie zu lokalisieren. Als ich dachte, ich hätte sie gefunden und die Nadel einführte, schrie Sophie und fuhr auf, und als ich die Nadel tiefer schob, jaulte sie und wehrte sich. Mollys Haar löste sich und fiel wie ein blonder Wasserfall über Sophies alten, schwitzenden Torso. Jedesmal, wenn ich auf Mollys Busen sah, wurde ich erregt, und jedesmal wenn Levy etwas sagte, wurde ich wütend und hätte ihm am liebsten eine runtergehauen, und jedesmal, wenn ich die Nadel tiefer schob, bäumte Sophie sich auf vor Schmerz. Ich fing an zu schwitzen, versuchte es nochmal an einer anderen Stelle auf Sophies fettem Rücken. Kein Glück. Noch einmal. Nichts. Ich sah, daß Blut aus der Spinalnadel kam und wußte, daß sie nicht saß, wo sie hätte sitzen sollen. Wo war bloß die richtige Stelle? Feucht von Schweiß rutschte mir die Brille runter und kontaminierte das sterilisierte Feld. Im gleichen Augenblick ließ Molly los, und Sophie streckte sich und wäre fast aus ungefähr orthopädischer Höhe zu Boden gegangen. Wir erwischten sie gerade noch rechtzeitig. Beschämt, meine Eitelkeit im Schweiß über Sophie verspritzt, sagte ich zu Levy, er solle lieber den Dicken holen, statt herumzuglotzen. Dickie kam. Mit zwei Handgriffen brachte er Molly und Sophies Schweinerücken in Position, und glitt, eine Melodie aus der Werbung summend, mit einem leichten Schub durch das Fett und traf den Subarachnoidalraum. Ich staunte über diese Virtuosität. Wir sahen die klare Spinalflüssigkeit heraustropfen. Dickie nahm mich zur Seite, legte mir wie ein Trainer den Arm um die Schultern und flüsterte:

»Sie waren meilenweit von der Mitte entfernt. Entweder haben Sie die Niere oder den Darm getroffen. Beten Sie, daß es die Niere war. Wenn es der Darm war, ist Infektion angesagt, und Sophie könnte ihre letzte Abschiebung bevorstehen, zur Pathologie.«

»Pathologie?«

»Leichenhalle. Kein Zurückprallen. Aber ich glaube, es hat geklappt. Hören Sie mal.«

»Ich will nach Hause ich will nach Hause ich will …!!!«

Ich befürchtete, daß ich eine Infektion verursacht hatte, die Sophie für immer nach Hause schicken würde. Wie als Bestätigung dafür, war Potts am Nebenbett hinter dem Vorhang mit seinem ersten Toten beschäftigt. Sein Patient, der junge Vater, der am Vortag an der Grundlinie zusammengebrochen war, war gestorben. Potts war gerufen worden, um den Tod des Patienten festzustellen, wie es das Gesetz verlangte. Wir spähten durch den Vorhang: Potts stand am Fußende des Bettes, sein BMS neben ihm mit einer Bibel, auf der Potts Hand lag. Seine andere Hand wies auf den Toten, der weiß dalag wie eine Leiche, was er ja auch war. Potts sagte:

»Kraft der mir von diesem Staat und der Nation verliehenen Autorität erkläre ich hiermit Dich, Elliot Reginald Needleman, für tot.«

Molly neigte sich zu mir, wobei ihre linke Brust meinen Arm streifte, und fragte:

»Ist das wirklich notwendig?«

Ich wußte es nicht und fragte Dickie.

»Natürlich nicht«, sagte der. »Die einzige Bundesvorschrift lautet: Du sollst zwei Pennies aus deinen Schuhen nehmen und auf die Augen des Toten legen.«

Später saß Potts niedergeschlagen mit uns in der Stationszentrale. Mit geröteten Augen artikulierte er mühsam:

»Er ist tot. Vielleicht hätte ich ihn eher zur Chirurgie rüberschicken sollen. Ich hätte etwas tun sollen. Aber ich war so müde, als er reinkam, ich konnte nicht einmal mehr denken.«

»Du hast getan, was du konntest,« sagte ich. »Dem ist ein Aneurysma geplatzt, nichts hätte ihm mehr helfen können. Die Chirurgen haben eine Operation abgelehnt.«

»Ja, sie sagten, es sei zu spät. Wenn ich schneller gewesen wäre, vielleicht …«

»Genug jetzt«, sagte der Dicke. »Hören Sie zu, Potts, Sie müssen Regel Nr. 4 lernen: Der Patient ist derjenige, der krank ist. Verstanden?«

Bevor Potts Gelegenheit hatte, dies zu verstehen, wurden wir vom Chief Resident, dem Fisch, unterbrochen. Er sah besorgt aus. Es stellte sich heraus, daß weder Needleman noch der Gelbe Privatpatienten waren, sondern Patienten des Hauses, für die der Fisch mitverantwortlich war.

»Lebererkrankungen gehören zu meinem besonderen Interessensgebiet«, sagte der Fisch. »Ich hatte kürzlich Gelegenheit, mich mit der Weltliteratur über Fulminante Hepatitis zu befassen. Lazlows Fall wäre ein höchst interessantes Forschungsprojekt. Vielleicht möchte jemand vom Personal irgendwann ein solches Projekt in Angriff nehmen?«

Niemand sagte, er wolle ein solches Projekt in Angriff nehmen.

»Nun ja, sowohl der Leggo als auch ich meinen, daß Sie, Dr. Potts, zu lange mit den Steroiden gewartet haben. Verstehen Sie?«

Betroffen sagte Potts: »Ja, Sie haben recht. Ich verstehe.«

»Ich bin gerade auf dem Weg zu einem improvisierten Kolloquium über Lazlow. Wir haben einen Australier hinzugezogen, den Weltexperten für diese Erkrankung. Es sieht nicht gut aus. Sie haben zu lange gewartet. Oh, und noch etwas«, sagte der Fisch, Chucks schmutzige weiße Hosen und sein offenes Hemd ohne Schlips ansehend: »Wie Sie sich kleiden, Chuck. Nicht professionell. Nicht angemessen für das House. Hier nur saubere Hosen und Krawatte. Verstanden?«

»Gut, gut«, sagte Chuck.

»Und Sie, Roy«, sagte der Fisch, auf die Zigarette deutend, die ich mir gerade angesteckt hatte, »genießen Sie das, sie wird Sie drei Minuten ihres Lebens kosten.«

Ich sah rot. Der Fisch glitt den Korridor hinunter zu seinem Kolloquium. Tödliches Schweigen umfing uns.

»Blödmann!« spuckte der Dicke aus. »Merken Sie sich, Potts, wenn Sie genau so ein Blödmann werden wollen wie der, dann glauben Sie ihm. Wenn nicht, dann hören Sie auf mich: Der Patient ist derjenige, der krank ist.«

»Wirst du dich ab jetzt anders anziehen?« fragte ich Chuck.

»Türlich nich, Mann, türlich nich. In Memphis tragen wir nich mal zur Beerdigung ’n Schlips. Mann, diese Gomers sind vielleicht Typen. Keiner von meinen vier Aufnahmen glaubt, daß ich ihr Arzt bin. Die denken alle, ich bin der Hilfsbremser.«

»Hilfsbremser?«

»Helfer, Pfleger. Der farbige Pfleger. Bis später.«

Aus dem Fenster starrend, murmelte Potts wieder und wieder vor sich hin, daß er dem Gelben Steroide hätte geben sollen. Dickie unterbrach ihn und sagte:

»Potts, gehen Sie nach Hause.«

»Nach Hause? Charleston? Wissen Sie, mein Bruder, er ist im Baugeschäft, der liegt jetzt wahrscheinlich auf Pawley’s Island in der Hängematte und trinkt Limonade. Oder er ist draußen auf dem Land, wo es grün ist und kühl. Ich hätte nie weggehen sollen. Der Fisch hat ja recht mit dem, was er sagt. Aber wenn wir im Süden wären, hätte er es nie gesagt. Nicht so. Meine Mutter hätte eine Bezeichnung für ihn: Gewöhnlich. Nun, es war meine Entscheidung, oder? Ja, ich gehe nach Hause. Gott sei Dank, daß Otis zu Hause ist.«

»Wo ist deine Frau?«

»Sie hat heute Nachtdienst im MBH. Nur Otis und ich. Das ist gut so, er liebt mich auch. Er wird auf dem Bett liegen, den Bauch nach oben, und schnarchen. Es wird schön sein, zu ihm nach Hause zu gehen. Bis morgen.« Wir sahen Potts nach, wie er den Korridor hinunterwankte. Er erreichte das Kolloquium vor dem Zimmer, in dem der Gelbe lag, und stahl sich ohne hineinzusehen vorbei und zur Tür hinaus, so als schäme er sich.

»Das ist verrückt«, sagte ich zu dem Dicken. »Dieses Internship ist vollkommen anders, als ich es mir vorgestellt habe. Was tun wir für die Patienten hier? Entweder sie sterben oder wir frisieren sie und schieben sie zu irgendeinem anderen Teil des Hauses ab.«

»Das ist nicht verrückt. Das ist moderne Medizin.«

»Das glaube ich nicht. Ich kann es einfach nicht glauben.«

»Natürlich nicht. Dann wären Sie ja verrückt. Heute ist erst Ihr zweiter Tag. Warten Sie bis morgen, wenn wir beide Dienst haben. Also, ich gehe nach Hause. Beten Sie für den Dow Jones, Basch, beten Sie, daß das Schwein oben bleibt.«

Wen kümmerte das schon?

Ich beendete meine Arbeit und ging den Flur hinunter zum Fahrstuhl. Die Gruppe um den australischen Experten löste sich gerade auf, und der Kleine kam auf mich zugetrudelt. Er sah noch viel schlimmer aus als vorher. Auf meine Frage, was passiert sei, antwortete er:

»Der Australier sagt, wir sollen einen Blutaustausch machen, das ganze alte Blut raus und neues rein.«

»Das funktioniert nie. Das Blut muß doch trotzdem durch die Leber, aber da gibt’s keine Leber mehr. Er wird sterben.«

»Ja, das haben sie alle auch gesagt, aber er ist jung, und gestern ist er noch rumgelaufen, darum denken sie, man sollte es versuchen. Ich soll es machen, haben sie gesagt, heute abend, und ich bin ganz steif vor Angst.«

Aus dem Zimmer kamen Schreie. Der Gelbe wand sich in seinem Bett, zappelte wie ein Thunfisch am Haken. Ein Pfleger schob gemächlich zwei hochbeladene Wagen mit Bettwäsche, Kitteln, OP-Kleidung und großen Plastiksäcken mit der Aufschrift »Vorsicht – hochinfektiös« auf uns zu. Die Oberschwester informierte den Kleinen, daß das Blut in einer halben Stunde bereit sei, aber nur eine Schwester könne ihm assistieren. Die anderen hätten Angst, sie könnten sich mit einer der Nadeln stechen und mit der tödlichen Krankheit infizieren. Sie weigerten sich, in dem Zimmer zu arbeiten. Der Kleine und ich sahen der Schwester nach, als sie sich entfernte, und auch dem Transportpfleger, der pfeifend im Fahrstuhl verschwand. Der Kleine schaute zu mir auf, Entsetzen stand in seinen Augen. Dann legte er seinen Kopf an meine Schulter und weinte. Ich wußte nicht, was ich tun sollte. Ich hätte ihm gern geholfen, aber auch ich hatte Angst, mir etwas einzufangen, was mich dazu bringen würde, heute zähneklappernd herumzulaufen und morgen wie ein Thunfisch am Haken zu zappeln.

»Tu mir einen Gefallen«, sagte der Kleine. »Wenn ich sterbe, nimm das Geld aus meinem Treuhandvermögen und stifte es der BMS. Setz einen Preis aus für den Studenten, der als erster das Krankhafte dieses Geschäfts erkennt und das Studium hinschmeißt, um was anderes zu machen.«

Ich half ihm mit seiner sterilen OP-Kleidung, mit den Handschuhen, der Gesichtsmaske und der Haube. Wie ein Astronaut schob er sich in das Zimmer, schlurfte unbeholfen zum Bett und begann mit der Prozedur. Die Beutel mit frischem Blut kamen an. Mit einem Kloß im Hals ging ich den Korridor hinunter. Die Schreie, Gerüche und seltsamen Bilder durchsiebten mir den Kopf wie Kugeln in einem Alptraumkrieg. Ich hatte den Gelben gar nicht berührt, aber ich ging trotzdem in den Waschraum und schrubbte mich so lange wie ein Chirurg. Mir war elend zumute. Ich mochte den Kleinen. Und nun würde er sich mit einer kontaminierten Nadel stechen, sich diese leberzersetzende Hepatitis einfangen, gelb werden, wie ein Fisch am Haken zappeln und sterben. Und wofür?

Wie in einem vollen Wassertank sitzend hörte ich Berry zu, während ich den letzten Brief meines Vaters las:

… Inzwischen wirst Du mitten in Deiner Arbeit stecken, und sie wird zur Routine werden. Ich weiß, es gibt dort sehr viel zu lernen, und Du wirst Dich hineinvertiefen. Medizin ist ein großartiger Beruf, und es ist wunderbar, einen Kranken heilen zu können. Samstag habe ich in der Hitze achtzehn gespielt, und mit einem Kübel Eistee war es auszuhalten, und einen birdie bei Nummer …

 

Anders als mein Vater war Berry nicht so sehr daran interessiert, irgendeine Illusion von der Medizin aufrechtzuerhalten. Sie wollte vielmehr meine Erfahrungen verstehen. Sie fragte mich, wie es gewesen sei, und als ich versuchte, es ihr zu schildern, merkte ich, daß ich es einfach nicht konnte. Es war anders als alles, was ich bisher erlebt hatte.

»Aber was macht es denn so besonders schwer? Die Erschöpfung?«

»Nein. Ich glaube, die Gomers sind es und der Dicke.«

»Erzähl mir davon, Liebling.«

Ich erzählte ihr, daß ich nicht wußte, ob ich das, was der Dicke über Medizin lehrte, für verrückt halten sollte oder nicht. Je mehr ich sah, desto mehr Sinn ergab das, was der Dicke tat. Ich fing an zu glauben, ich sei verrückt, weil ich dachte, er sei verrückt. Ich erzählte ihr von den Gomers und wie wir über Ina mit dem Helm der RAMS gelacht hatten und wie sie Potts mit ihrer Tasche verprügelt hat.

»Alte Leute Gomers zu nennen, klingt nach Abwehr.«

»Gomers sind nicht einfach alte Leute. Der Dicke sagt, er mag alte Leute, und ich glaube ihm, denn er hat Tränen in den Augen, wenn er von seiner Großmutter spricht und von ihren Matze-Klößen, die man auf Leitern ißt, weil man sie von der Decke abkratzen muß.«

»Über diese Ina zu lachen, ist krank.«

»Hier und jetzt wirkt es krank, aber nicht da drin.«

»Warum hast du über sie gelacht?«

»Ich weiß nicht. Es war in dem Augenblick einfach wahnsinnig komisch.«

»Ich würde das gern verstehen. Versuch noch einmal, es zu erklären.«

»Nein. Ich kann nicht.«

»Versuch, dich davon zu befreien, Roy, bitte …«

»Nein! Ich will nicht mehr darüber nachdenken.«

Ich schwieg. Sie wurde wütend. Sie konnte nicht wissen, daß ich nur bemitleidet und geliebt werden wollte. Es war alles so schnell gegangen. Nur zwei Tage, und es war, als würde ich in einem starken Strom schwimmen, als fände ich, wenn ich aufsah, mein Leben eine Ewigkeit weiter stromabwärts, das Ufer weit weg. Eine Kluft hatte sich aufgetan. Bisher hatten Berry und ich in derselben Welt gelebt, außerhalb des House of God. Jetzt war meine Welt innerhalb des House: der Gelbe in meinem Alter und der Kleine, beide im Begriff, ins Gras zu beißen. Der tote Vater in meinem Alter, dem beim Baseballspiel ein Aneurysma geplatzt war. Die Privates, Schlecker und Gomers. Und Molly, die wußte, was ein Gomer ist und warum wir gelacht hatten. Mit Molly hatte es bisher noch nicht einmal ein Gespräch gegeben, nur die gestreckte Beuge, den Busen und die vollen runden Schalen, rote Fingernägel, blaue Lidschatten, Höschen mit Blumen und Regenbogen und das Gelächter zwischen all den Gomers und dem Tod. Molly war das Versprechen einer Brust an einem Arm. Molly war Abstand.

Molly war aber Abstand von vielem, das ich liebte. Ich wollte gar nicht über Patienten lachen. Wenn es wirklich so hoffnungslos war, wie der Dicke sagte, würde ich sofort aussteigen. Ich wollte diese Kluft zwischen Berry und mir nicht, darum redete ich mir ein, der Dicke habe trotz allem nicht alle Tassen im Schrank. Wenn ich ihm glaubte, würde ich Berry verlieren. Ich sagte:

»Du hast recht. Es ist krank, über alte Leute zu lachen. Es tut mir leid.«

Einen Augenblick lang sah ich mich als richtigen Arzt, der hereinrauscht und Leben rettet, und Berry und ich seufzten zusammen, schmusten zusammen, zogen uns zusammen aus und liebten uns eng und warm und feucht zusammen, und die bedrohliche Kluft fügte sich ebenfalls wieder zusammen.

Sie schlief. Ich lag wach und fürchtete mich vor meinem nächsten Tag, vor meinem bevorstehenden ersten Nachtdienst.